Früher gabs das nicht …

Lesedauer 7 Minuten

Es gab mal eine Zeit, da haben sich Lehrer richtig Mühe gegeben Zeugnisköpfe zu verfassen. Mal knapp, mal etwas ausführlicher. Gibt es die Dinger überhaupt noch? Egal! Ich habe mir meine mal in aller Ruhe durchgelesen. Von der 1. Klasse bis zur 10. Klasse. Warum habe ich das getan? Ich wollte herausfinden, ob sich ein Verdacht bestätigt. Meine Lehrer hatten es offensichtlich nicht leicht mit mir. Ich störte den Unterricht durch Schwatzen, konzentrierte mich im Unterricht nur mäßig, gab Zwischenrufe von mir ab, konzentrierte mich nicht auf das Wesentliche, doch fertigte seltsamer Weise meine Hausaufgaben sehr sorgfältig an.

Letzteres hätte ich aufklären können. Meinem Elternhaus ist es mit Disziplin und Nerven zu verdanken, dass ich überhaupt welche machte und sie dann auch noch so aussahen, wie sie dann abgeliefert wurden. Zuhause herrschte ein stetiger Kampf. Mehrfaches Abschreiben, stundenlanges Sitzen, Zappeln und Streit. Jetzt könnte ich einige Jahrzehnte später darüber herzhaft lachen. Berufliche Karriere, zwei erwachsene Töchter, gestandener Mann. Ich kann aber nicht. Warum?

Heute kennen die Psychologen ein Phänomen, welches sie ADS – Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom getauft haben. Es ist in aller Munde und wird sehr kontrovers diskutiert. Da gibt es die eine Fraktion, die behauptet Zappelphillips hat es schon immer gegeben, nur wurde es halt „lebhaft“ genannt. Stimmt! Steht bei mir überall. Da müsse doch nicht so ein Gewese gemacht werden, mit ein wenig Disziplin kriegt jeder, diesen Kram in den Griff.
Die andere Fraktion rennt zum Tablettenschrank, holt das Ritalin heraus und geht das Ding mit Ruhigstellung an. Der ADSler freut sich, endlich kann er sein, wie die anderen Menschen. Warum gibt keiner den anderen Menschen Aufputschmittel, damit sie mit dem ADSler gleich ziehen? Seltsame Frage?

Ich finde die gar nicht seltsam. Offensichtlich leben wir in einem System, welches in der Schule und später im Berufsleben nicht sonderlich viel mit diesen Menschen anfangen kann. Da steht ein Mensch und gibt einem anderen Menschen vor, wofür er sich zu interessieren hat. Was denn das geforderte „Wesentliche“ ist, gibt dieser schlaue Mensch – genannt Lehrer – vor. Der Lehrer erfährt es von der Schulbehörde. Später nennen sich diese Menschen, Leiter mit Führungswissen, Vorgesetzte und Führungskräfte. Und ihr Wissen bekommen sie von der Politik, zumindest in meinem Berufsleben.

Der ADSler macht aber etwas ganz anderes. Sein Gehirn sucht sich einen Fixpunkt, der ihn interessiert, stürzt sich drauf und macht sein Ding. Papier, Formalien, Formulare, Berichte über zurückliegende Ereignisse, Vermerke, lästiges Alltagsleben kann sein Gehirn einfach nicht. Der ADSler ist von keinem bösen Willen getrieben. Es ist nicht einmal die Arroganz, die langweiligen Sachen soll mal ein Anderer machen. Er kann es einfach nicht. In etwa, als würde ich einem Einarmigen sagen: Klatsch mal in die Hände! Anders herum sollte die Durchschlagskraft des einen trainierten Arms nicht unterschätzt werden.

Ich habe in meinem Berufsleben sehr viel über die unterschiedlichen Voraussetzungen von Menschen gelernt, die in einem Team zusammenarbeiten. Ein geschickter Teamleiter wird zügig erkennen, welche Funktionen er zuteilen kann. Da gibt es „Macher“, „Innovative“, „Beobachter“, „Ausführer“ usw.. Einst habe ich hierzu ein ganzes Ausbildungskonzept entwickelt. Ich hatte davon überhaupt keine Ahnung. Bekam die Aufgabe und machte mich an die Arbeit. 2 Tage später hatte ich alles nur Erdenkliche dazu gelesen und fasste alles in einem 70zig Seiten umfassenden Script zusammen. Wie hat das funktioniert? Ganz simpel. Ich habe 2 Tage lang komplett unbezahlt durchgearbeitet, gelesen und geschrieben, der Hyperfocus hatte mich gefangen. Die leidtragende war meine damalige Ehefrau, der ich familiär nicht zur Verfügung stand. Einen einmaligen Vorfall dieser Art hätte Sie akzeptiert, ich denke, Sie verstehen es auch ohne Erläuterung.

Dem ADSler ist die Zuteilung in seine Nische im Regelfall nicht vergönnt. Beim Klassiker Meredith Belbin gab es in den 70ziger Jahren 8 Rollen. Erst knappe 10 Jahre später wurde der Spezialist eingeführt. Als seine Schwächen im Team werden nach Wikipedia „Spezialisten neigen dazu, sich in technischen Einzelheiten zu verlieren und leisten daher eher nur informative Beiträge.“ (Seite „Teamrolle“. In: Wikipedia, Die freie Enzyklopädie. Bearbeitungsstand: 7. Dezember 2016, 21:55 UTC. URL: Wikipedia Link (Abgerufen: 28. Februar 2017, 17:35 UTC) )
Mit einem Grinsen kann ich da nur feststellen, dass Belbin offensichtlich 1981 über einen ADSler stolperte.

Ich habe mich intensiv mit der Literatur über ADS/ADHS auseinandergesetzt. Dabei habe ich festgestellt, dass sich sehr wenige damit auseinandersetzen, was mit Menschen der Generation x passiert ist, bei denen ADS schlicht noch nicht existierte. Die Generationen davor hatten noch einige Vorteile. Die Welt ist komplizierter geworden. Die Generation x ist in das Internetzeitalter – Opium für ADSler – hineingewachsen. Smartphones bestimmen das Leben. Ein Hyperfocus nach dem anderen umgibt den erwachsenen ADSler.

Menschen der Generation x vergessen Sachen, weil sie halt im Stress sind. Sie leiden an Konzentrationsmängeln, weil sie nicht genug Entspannung finden. Wenn sie im Gespräch hin und her springen, sehen sie sich dem Vorwurf gegenüber, dass sie nicht genug interessiert am Gesprächspartner sind. Angebliche Narzissten rennen dann in der Gegend herum. Ihr Hyperfocus wird mit Kopfschütteln betrachtet oder als Depression interpretiert. Letztere bleiben oftmals nicht aus, aber aus anderen Gründen.
Viele haben in unterschiedlichsten Berufen jahrzehntelang gegen ihre Natur gelebt. Trotz erheblicher Leistungsfähigkeit, die immer mal wieder durchblitzt, wurden sie immer wieder abgemahnt, weil sie einfach nicht die Aufgaben erfüllen konnten.

Ein Beispiel: Ein Mitarbeiter bekommt den Auftrag, eine aktuelle Situation zu bereinigen oder eine Lösung zu finden. Vielleicht sogar in einem vollkommen unbekannten Gebiet. Der ADSler wird spontan funktionieren. Er taucht ein in die Materie, recherchiert vollkommen konzentriert, findet eine Lösung und handelt. Vorausgesetzt er wird nicht zusätzlich mit anderen Aufgaben belegt. Perfekt gelaufen! Nun muss er dafür noch eine Akte anlegen, einen Bericht schreiben, sich rechtfertigen, dies alles zu einem Abgabetermin x. An dieser Stelle hat der ADSler verloren – er kann es einfach nicht. Es folgen Abmahnungen, Stress, Frustrationen und ein zerstörter ehemals wertvoller Mitarbeiter.

Die Überschrift lautet: Früher gabs das nicht! Es gab die Definition nicht und auch nicht die Erkenntnis: Das hat etwas mit dem Gehirn zu tun. Ähnlich wie jahrzehntelang Linkshänder brutal umgeschult wurden. Dafür gibt es bei den Betroffenen Folgewirkungen, die heute durchaus erkannt werden.
Ist es wirklich verwunderlich, wenn Betroffene nach Jahrzehnten im Burnout landen? Wenn das Ihnen entgegengebrachte Unverständnis, sich auch in Ablehnung, beruflichen Schwierigkeiten, nachfolgenden familiären Problemen – also in einem ganzen Rattenschwanz von Belastungen manifestierte? Dies auch noch von Selbstzweifeln begleitet, da sie gar nicht verstanden, was mit Ihnen passierte.

Seit ich diese Spur verfolge, habe ich Taxifahrer kennengelernt, die einst vielversprechende Studenten waren, Abbrecher von medizinischen Studiengängen, desillusionierte Führungskräfte aus Banken, kaputte Mitglieder des Öffentlichen Dienstes und anderen Berufen, in denen spezielle Voraussetzungen bestehen. In handwerklichen Berufen sind die Auswirkungen offensichtlich weniger gravierend. Für all die Klippen, die sich im Handwerk ergeben, gibt es perfekte Möglichkeiten sogenannte Vermeidungsstrategien zu finden.
Spontan denke ich an immer wieder verschwindende Bleistifte zum Anzeichnen, die Suche nach dem nicht ordentlich zurückgelegten passenden Bohrer, der verschwundene Bohrfutterschlüssel – sogar die Industrie stellt sich darauf ein und baut von alleine für den Handwerker mit ADS – Tendenzen Hilfsmittel ein. Denn nichts anderes ist meiner Auffassung nach der Kranz am Kabel, in dem der Benutzer bequem den Bohrfutterschlüssel hineinstecken kann.

In den abstrakten Berufen ist es schon schwieriger, sich darauf einzustellen. Spontan denke ich an die Teeuhr bei LINUX. KDE kteatimer. Die Programmierer, welche regelmäßig in den Hyperfocus gingen, erkannten ihr Problem. Küche gehen, Wasser aufsetzen, hinsetzen, weiter programmieren, blöd, Wasser wieder kalt. Erneut Wasser ausetzen, dieses Mal stehen bleiben, Tee aufgiessen, programmieren, Tee ungenießbar, weil er über eine Stunde gezogen hat. Noch berühmter wurde 1991 die erste Webcam der Welt, die in Cambridge installiert wurde. Die Programmierer hatten keinen Bock mehr darauf, in die Teeküche zu laufen, nur um festzustellen, dass der Kaffe doch wieder leer war.
Beides sind aber sehr gute Beispiele dafür, zu welcher Kreativität ADSler in der Lage sind.

Mir wurden diese Zusammenhänge von einem amüsierten Mann vor Augen geführt. „Hast Du schon einmal etwas bei AMAZON bestellt und auf der Seite etwas gelesen, was Du nicht verstanden hast? Dann hast Du bestimmt recherchiert, was dieses Wort zu bedeuten hat.“
„Ja, habe ich …!“
„Wie lange hat es gedauert, bis Du fertig warst mit der Bestellung?“
Ich musste aus lauten Halse lachen. Ich wusste sehr genau, was er meinte. Stunden! Wikipedia macht es möglich. Ein Suchbegriff führt zum nächsten, die Assoziationsketten im Kopf wurden immer länger.

Wenn Sie sich mit einem ADSler unterhalten, haben Sie zwei Optionen. Entweder sie hören geduldig zu,  bitten immer mal wieder auf den Ursprung zurückzukommen, oder Sie entwickeln Spaß an einer Assoziationsorgie. Aber nehmen Sie es niemals persönlich und kommen auf die Idee, dass der ADSler sich nicht für Sie interessiert. Er weiß sehr wohl noch, wo der Ursprung war, aber der ist ja längst erledigt.
Wollen Sie den ADSler ärgern, kaufen Sie ihm ein 1000 Teile Puzzle, wenn ihm das Motiv gefällt, haben Sie Stunden der Ruhe.
Oder kaufen Sie ihm ein Robert Ludlum Ausgabe – Borowski – Drei Romane in einer Ausgabe! 1300 Seiten später, werden Sie ihn wieder sehen. Es ist nur gemein, wenn Sie ihn vorher darum bitten, erst einmal das Wohnzimmer zu saugen und dann einen Streit anfangen.

Das klingt lustig, hat aber einen ernsten Hintergrund. Genau dieses passiert nämlich ständig. Streit, Frust, Beziehungsprobleme sind vorprogrammiert. Ich kenne einen Menschen, der diesen BLOG Beitrag lesen wird und sich amüsiert. Dennoch wird er es von sich weisen, dass er vieles mit dem Wissen hier, einfacher gehabt hätte.
Stellen Sie sich vor, Sie arbeiten mit einem Kollegen zusammen, der stets und ständig seine Werkzeuge und seine Bleistifte verlegt. Sie übernehmen den Part des Zureichenden. Er erwartet natürlich von Ihnen, dass Sie die ganze Zeit mitdenken. Sie sollten also ständig wissen, wo sich die Stifte und die Werkzeuge befinden, während er in seinem Hyperfocus unterwegs ist. Machen Sie dieses nicht, bekommen Sie ein Problem. Ich löste es damit, dass ich einfach eine Unmenge von Bleistiften bei IKEA bunkerte.
Stellen Sie sich die Verzweiflung des gleichen Kollegen vor, wenn Sie ihn eine juristische Klausur schreiben lassen. In seinem Hyperfocus wird er sich im Djungel der Paragrafen verlieren, aber nicht erkennen, wo bei der anstehenden Klausur, die rote Linie zur Aufgabenlösung ist.

Fazit: Wenn Sie sich in einer ähnlichen Situation befinden, Kopf hoch! Sie sind nicht alleine. Es gibt ganz viele Menschen dieser Art. Vielleicht haben Sie auch Jahrzehnte dagegen angekämpft, sitzen jetzt auf einer Couch, ausgebrannt und frustriert. Versuchen Sie zu verstehen, was da mit Ihnen passiert. Beschreiben Sie es den Menschen um sich herum. Vieles wird denen deutlich, was Sie vorher nicht verstehen konnten. Ich selbst habe mich mit einem Richter unterhalten, der niemals verstehen konnte, dass es Menschen in seinem Gerichtssaal gab, die mit ein paar Unterlagen ihren berechtigten Anspruch hätten anmelden können. Er war immer davon ausgegangen, dass wohl jeder Mensch halbwegs wichtige Unterlagen aufbewahren würde. Hatte der Betreffende diese nicht – existierten diese wahrscheinlich auch gar nicht.
Sortierte und ordentlich aufbewahrte Unterlagen vs. ADS! Dies funktioniert im Regelfall gar nicht, da steckt kein böser Wille hinter, es ist einfach extrem schwer. Der Richter war verwundert, verstand aber nach und nach – ich kann nur hoffen, dass dieses sich auch in Folge bei Urteilen durch ihn zeigen wird. Erkennen Sie auch hier, welche Konsequenzen sich einstellen können, die jenseits von lustig sind?

Sind Sie mit einem ADSler zusammen? Werfen Sie einfach alle Nachschlagewerke weg und fragen Sie ihn. Handelt es sich um einen Handwerker, Glückwunsch, Sie haben einen Allrounder, der Ihnen ein Haus bauen kann. Verlangen Sie aber nicht lästige Zierleisten oder Vervollständigungen, das geht schief.
Sie leben mit einem begesiterungsfähigen Menschen zusammen, achten Sie aber darauf, dass die Magnete nicht zu stark sind. Es ist dumm ihn in einen Buchladen zu schicken, damit er Ihnen ein vorbstelltes Buch besorgt, dann auch noch zu erwarten, dass er pünktlich wieder auftaucht.
Wenn er im Hyperfocus ist und Sie um einen Stift bittet, geben Sie ihm nicht ihren Lieblingsstift, sie werden ihn vermutlich nie wieder sehen. Sind Sie selbst betroffen, verleihen Sie nichts! Schon gar nicht an andere Betroffene. Sie werden sich maximal  beim Suchen daran erinnern können, dass Sie das Gesuchte unter Umständen mal verliehen haben , der Empfänger (ADS) wird sich nicht mehr erinnern können, von wem er es sich geliehen hat. Ich hätte da noch ein Poesiealbum aus der 5ten Klasse im Angebot und wer hat eigentlich meine Kappsäge?

Sollten Sie diesen Beitrag hier lesen, und sich teilweise wieder erkennen, würden mich ihre Kommentare, Erfahrungen, erfolgreichen Gegenstrategien und auch ihre Misserfolge interessieren. Ich werde mich dann mal wieder dem Problem mit dem Staubsauger und dem Abwasch zu wenden, dem ich mich bereits vor vier Stunden und einer halben Schachtel Zigaretten widmen wollte.

Polizeigewalt

Lesedauer 4 Minuten

72 – Jähriger von Polizisten gestoppt und blutig geschlagen

Hätte mir die nachfolgende Geschichte ein Kerl am Tresen erzählt, wäre meine Frage gewesen: Wie blöd muss man denn sein? Aber dadurch, dass die Geschichte es in eine Regionalzeitung mit einer Auflagenstärke von 150.000 Exemplaren geschafft hat, lohnt es sich doch, einen Gedanken mehr zu verlieren.

Am 09.02.2017 schreibt Rainer Lahmann-Lammert in der Osnabrücker Zeitung (NOZ) unter der Überschrift „Video: Ehefrau filmt Festnahme – 72-Jähriger von Polizisten gestoppt und blutig geschlagen „ einen Artikel. Die Überschrift verspricht einen Skandal, der offensichtlich auch noch per Video bewiesen werden kann.
Es geht also um einen Sachverhalt, der wenn stimmig, in Paris oder in den USA dazu geeignet ist, Riots auszulösen. Nun soweit wird es nicht kommen, dass sich im Emsland die Rentner zusammen rotten und sich in Osnabrück Straßenschlachten mit der Polizei liefern.

Was ist passiert? Der unbescholtene Deutsche Bürger Jörg O. fährt mit seinem Porsche Cayenne ( ergo ein Fahrzeug, in dessen Fahrzeugpapieren vermerkt ist: Ich habe Recht – Mein Fahrer muss wichtig sein) in Begleitung seiner ebenfalls unbescholtenen Ehefrau, der HNO – Ärztin Lililiane O. zunächst die Landstrasse entlang. Es ist 07:20 Uhr, die vielbeschäftigte Ärztin hat um 08:00 Uhr ihren ersten OP – Termin. Hat der Wecker versagt? Schlüssel vergessen? Wir wissen es nicht.

Zurück zur Landstraße, dort erdreistet sich der im Artikel nicht namentlich benannte Polizeibeamte X mit der zulässigen Geschwindigkeit vor dem Porsche Cayenne zu fahren. Der Hinweis im Artikel, dass der Polizist mehrfach leicht versetzt gefahren ist ( „der dunkle Wagen ist chaotisch über die Autobahn gekurvt“), weist darauf hin, dass er vermutlich ein anderes Fahrzeug im Visier hatte, oder besser noch, selbst nicht ganz langsam unterwegs war und Sonderrechte in Anspruch nahm. Wie auch immer, als Polizist in einem Einsatzfahrzeug darf er das.
Den zitierten Äußerungen des Ehepaars kann entnommen werden, dass sie über ein gewisses Sendungsbewusstsein im Strassenverkehr verfügen. Anderen Verkehrsteilnehmern muss schon ab und wann mal gezeigt werden, wie man sich als guter Deutscher zu verhalten hat.
Also wird sich der 72 jährige dazu entschließen mit dem Polizeifahrzeug (Ein Umstand, der ihm noch nicht bekannt ist.) auf gleiche Höhe zu fahren. Im Artikel steht nicht, was er da gemacht hat. Was macht man als Cayenne Fahrer so, wenn man mit einem nervigen Verkehrsanarchisten auf gleicher Höhe fährt, der die Frechheit besitzt, Statussymbole nicht zu akzeptieren? Gestikulieren? Ein böses Gesicht machen? Unschöne Handbewegungen? Darüber schweigt der investigative Journalist.
Lililiane O. weist den erbosten Verkehrserzieher darauf hin, dass sie ihren OP Termin einhalten muss. Jörg O. hat ein Einsehen und beschleunigt, überholt so ganz und gar nicht nach den Straßenverkehrsregeln. Nun wird es den Polizisten zu bunt. Blaulicht! Bitte Folgen! Sirene! Alles was der Blumenstrauß an Polizeimaßnahmen anzubieten hat.

Das verschreckte Ehepaar glaubt an einen Überfall, dies behauptet jedenfalls der Journalist. Warum sich das Ehepaar dann aber doch dazu entschließt, den vermeintlichen Räubern auf einen Rastplatz zu folgen, lässt er offen.

Die Osnabrücker Polizei hat zwar vor etlichen Jahren eine mobile Glaskugel für Weissagungen, einen Satz Röntgenbrillen für Fahrzeuge und ein biometrisches Erkennungssystem für gefährliche Straftäter bestellt, bisher wurden diese Einsatzmittel noch nicht genehmigt. Aus diesem Grunde sind sie auf ihre Erfahrungen angewiesen. In einem wild gewordenen Porsche Cayenne kann schon einmal aus Versehen ein Kfz – Verschieber sitzen, der auch mit einer Knarre umgehen kann.
Und so werden sie recht konsequent an das Fahrzeug treten. Der Pharmazeut und die Ärztin können dieses selbstverständlich nicht nachvollziehen. Sie haben volles Verständnis dafür, dass diese ganzen Verbrecher, Flüchtlinge und Ausländer die volle Härte des Deutschen Rechtstaats kennenlernen, aber doch bitte nicht sie.
Polizei? Da könnte ja jeder kommen! Wir wissen nicht, warum sich der Pharmazeut doch noch dazu entschloss, sein Fenster herunter zu fahren. Aber er hat es getan, doch leider wollte er nicht die Tür öffnen. Im Allgemeinen nennt der Jurist so etwas Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte, der im Regelfall gebrochen wird, im vorliegenden Fall mittels einfacher körperlicher Gewalt (Faustschlag).
Jener Faustschlag ist nun endgültig zuviel für den rüstigen und sportlichen Cayennefahrer. Ein dritter Frühling weht durch seinen Körper. Er wehrt sich nach allen Mitteln, die ihm mit seinen 72 Jahren noch zur Verfügung stehen und verliert durch zu Boden gehen in der ersten Runde. Als dann die Handschellen klicken, will er begriffen haben, dass es sich wirklich um die Polizei handelte. Wirklich? Handschellen? Das war der entscheidende Hinweis nach Sirene, „Bitte Folgen!“ und Blaulicht? Gut zu wissen!

Wirklich Herr Lahmann-Lammert, ich bin erschüttert über die ausufernde Polizeigewalt in ihrer Region, wenn das Schule macht: Gute Nacht Deutschland! Spaß beiseite, erschüttert bin ich über die Form des Artikels, die Überschrift und die Zwischenüberschriften. Aber sie sind nicht alleine. Sehr häufig wird aus einem Sachverhalt, der sich quasi von alleine erschließt, eine derartige seltsame Darstellung.
Nur allzu häufig habe ich selbst in einem zivilen Fahrzeug sitzend erlebt, wie selbsternannte Verkehrserzieher auf seltsame Ideen gekommen sind. Herr O. ist da noch harmlos. Es gibt auch noch die, welche über mehrere Rote Ampeln hinter her heizen und sich dann quer stellen. Welcher Plan besteht da eigentlich? Wenn ich ein Fahrzeug sehen würde, welches mehrfach Rot überfährt und mit überhöhter Geschwindigkeit durch die Gegend rast, kämen mir zwei Ideen. Gangster auf der Flucht oder die Polizei. Was genau ist der Folgeplan eines 70 jährigen Mannes, nachdem er sich quer gestellt hat?

„Ich wurde wie ein Schwerverbrecher behandelt!“ Zitat Herr O. aus Osnabrück. „Wie auch immer ein Schwerverbrecher behandelt wird, Du Vollpfosten hast so ziemlich alles falsch gemacht, was man so falsch machen kann. Lehre daraus ziehen, wieder hinsetzen!“, würde ich gern salopp sagen. Doch diese klaren Worte sind mit Sicherheit nicht zulässig.

Mein Lieblingsbuch

Lesedauer 4 Minuten

Beim Aktualisieren meiner Internetpräsenzen stand in den Formularen, in denen sich der Betreiber seinem Leser vorstellen soll, wieder diese Frage. Was ist Dein Lieblingsbuch? Uff! Ja, was ist denn eigentlich mein Lieblingsbuch. Ist damit mein aktuelles Lieblingsbuch gemeint oder vielleicht dieses eine – scheinbar existierende – Buch, welches für immer meine persönliche Empfehlung sein wird?
Ich habe in meinem bisherigen Leben, ich schreibe dies ohne jegliche Arroganz, einiges an Literatur konsumiert. Üblich scheint dieses bei Männern nicht zu sein, jedenfalls nicht bei Typen wie mir. Sonst kann ich mir die erstaunte Äußerung einer Frau beim Kennenlernen nicht erklären, die genau dieses nicht glauben wollte. „Du liest Bücher?“ Ich räume ein, Buch ist nicht Buch. „Jetzt helfe ich mir selbst – Mein Golf GTI“ oder „Kommentar zum StGB Fassung 1992“ ist damit sicherlich nicht gemeint. Ich klammere auch jegliche Fachliteratur aus, „der Mob – Dagobert Lindlau“, „der Minus Mann – Heinz Sobota“, „Deckname Tato – Fausto Cattaneo“ oder „der Schneekönig – Ronald Miehling“, obwohl alle genannten Bücher lesenswert sind.
Lieblingsbuch? Vielleicht sollte ich auch noch die gesamte Kultliteratur meiner Generation heraus lassen. „Der Herr der Ringe – J.R.R. Tolkien“, „Per Anhalter durch die Galaxis – Douglas Adams“, „Illuminatus  (Nein! Nicht Illuminati – von Dan Brown, sondern die großartige Verschwörungstheoretikerverarschung von Robert Anton Wilson und Robert Shea mit den feuchten Onaniervorlagen für Pubertierende), „Nebel von Avalon – Marion Zimmer Bradley (damit auch die pubertierenden Mädels etwas haben, ich habe es nur gelesen um sie zu beeindrucken), „Die Geschichte der O – Pauline Réage“ oder die weniger bekannten Bücher über den Zyklus der Gegenerde GOR des verklemmten amerikanischen Philosophieprofessors John Norman.
Selbst an dieser Stelle kann ich mir noch nicht beantworten, was denn nun genau gemeint ist. Aktuell fasziniert mich eigentlich kein Buch so richtig, welches ich als lang anhaltende Literatur bezeichnen würde. Dies führt mich zur Frage, was verstehe ich denn unter prägender Literatur? Inhaltlich? Stilistisch? Gesellschaftliche Wirkung? Stilistisch hat mit mich der Ulysses von James Joyce sicherlich fasziniert, aber ist damit nicht zu meinem Lieblingsbuch avanciert. „Wo warst Du Adam?“ von Böll, hat mich ebenso durch die Verschachtelung gefesselt. Remarque habe ich einfach zum richtigen Zeitpunkt in meinem Leben gelesen, genauso wie mich zum richtigen Zeitpunkt Graham Green mit „Das Ende einer Affäre“ in den Bann zog und mich das Thema Glauben und Liebe immer wieder im Leben einholt.
Charles Bukowski, der alte dreckige Säufer, hat mich in den Jahren immer begleitet. Seine Erkenntnisse finde ich immer noch großartig. Jack Kerouac war in meiner Jugend durchaus passabel, aber „On the Road“ hat nun einmal ein Mitte dreißigjähriger homosexueller Mann unter dem Motto „Sex, Drugs ’n’ Jazz“ geschrieben. Da war mir schon Bukowski lieber. Henry Miller, einer meiner absoluten Lieblingsschriftsteller. Ein Anarchist im System, der das gesamte Telegrafenamt in seiner ganzen Absurdität zerstört, mir zeigt wie parallel Welten sein können, wenn ich dabei an Deutsche Behörden denke. Ein Mann, der die Bigotterie einer Gesellschaft an den Pranger stellt. Sexus, Nexus, Plexus oder im Wendekreis des Steinbocks, alles großartige Bücher. Wenn es einen Autor gibt, der mich geprägt hat, dann er. Und wieder die Frage: Lieblingsbuch?
Jedes Buch, dass mich ein wenig geändert hat, einen Gedanken in mein Gehirn gepflanzt hat, hat die Berechtigung dieser Bezeichnung. Manche Gedanken oder Ideen, schlummern über Jahre in einem dunklen Winkel, um dann plötzlich blitzartig ins gegenwärtige Bewusstsein zu springen. Eine neue Stadt, eine Bar, eine neue Frau, eine enttäuschte Liebe, ein Kater, all diese Dinge können Bücher wieder hervorholen. Der Bierschiss eines Bukowski nach durchzechter Nacht, eine unbekannte Frau mit der man spontan gevögelt hat und sich an Hank – Henry – Miller erinnert, als er als Bote eine wildfremde Frau in ihrem Negligee wach gevögelt hat. Wenn man in Paris in der Metro steht, eine aufreizende Frau betrachtet und gleichzeitig die Station Place Clichy passiert. Dann hat sich ein Buch eingebrannt.

Oder aber auch Bücher, die einem das ganze Leben lang vor Fragen stellen. Im Siddhartha von Hesse gibt es diese Stelle, in der der Fährmann Siddhartha dazu auffordert dem Fluss zuzuhören, mehr noch, mit dem Fluss einen Dialog zu beginnen. Wie oft habe ich in meinem Leben an einem Fluss gesessen und über diese Stelle nachgedacht? Immer wieder war ich erstaunt, zu welchen neuen Interpretationen ich gekommen bin. Dann der Abschnitt, in dem sich Siddhartha einer Hure hingibt und die sexuellen Freuden erfährt, er sich am Ende aber doch von den Kindermenschen entfernt.
Als meine Kinder erwachsen wurden, dachte ich häufig an die Episode, in der der Sohn Siddhartha verlässt. Insbesondere an den Augenblick, wo der Fährmann seinen Freund darauf hinweist, dass ein zerbrochenes Paddel und ein Leck im Boot ein deutlicher Hinweis darauf sind, dass er seinem Sohn nicht folgen soll. Der Schmerz, den der Vater verspürt, als er erkennt, dass sein Sohn nichts anderes unternimmt, als er es auch beim Verlassen des Palastes tat.
Doch auch jenseits eines derartigen philosophischen Werks, sind die Bücher der Jugend nicht zu vergessen. Karl May! Ehre, Aufrichtigkeit, Werte, Männlichkeit, Indianer, prägende Leseerlebnisse unter der Decke mit einer Taschenlampe. Oder die Schilderung des Missbrauchs dieser Werte bei einem Remarque. Hemingways Erzählungen, die Ambivalenz zwischen zerstörerischen Heldentum und dem Glauben an eine Sache.
hicks
Ich kann die Frage nach einem Lieblingsbuch nicht beantworten. Wobei? Vielleicht doch! Zwei Bücher kann ich benennen: „Vom kleinen Maulwurf, der wissen wollte, wer ihm auf den Kopf gemacht hat – Werner Holzwarth“ und „Das Getüm – Dietlind Neven-du Mont“.
Die Geschichte vom Maulwurf las ich meinen Kindern vor und ohne das Getüm wollte ich nicht ins Bett gehen. Alleine der Gedanke an diese beiden Bücher erzeugt in mir ein warmes Gefühl. Mit dem Getüm fing vieles an, selbst meine ersten Cartoons waren davon geprägt. Sollte mir nochmals jemand die Frage nach meinem Lieblingsbuch stellen, kann ich sie jetzt beantworten.

Die Banalität einer Zugfahrt

Lesedauer 3 Minuten

Mit dem Zug fahren. Eine banale Angelegenheit, etwas Selbstverständliches, nichts worüber es sich lohnt nachzudenken. Du steigst an irgendeinen Ort ein und steigst an einem Ziel wieder aus. Der Zug selbst hat einen Anfang und ein Ende, unterteilt in Waggons und Abteile. In den Waggons befinden sich Menschen. Unbekannte Menschen, die auch unbekannt bleiben werden, jedenfalls ist die Wahrscheinlichkeit dafür sehr hoch. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie nicht unbekannt bleiben, nimmt in den Abteilen zu. Menschen sehen sich in die Augen, berühren sich aus Versehen, müssen ihren Geruch gegenseitig ertragen, beobachten sich verstohlen. Der Titel des Buches? Welche Zeitschrift? Welcher Artikel? Schuhe werden heimlich betrachtet, Taschen zugeordnet, Räuspern, Grunzen, Atmung, unruhige Bewegungen. Vielleicht eine Unterhaltung? Eine kleine Indiskretion über sich selbst?

Der Blick aus dem Fenster. Alles was sich in der Nähe befindet, blitzt nur kurz auf oder verschmilzt zu Strichen. Die ein paar Meter entfernten Objekte können vom Auge kurz erfasst werden, dann sind sie verschwunden. Je weiter alles weg ist, um so länger kann es beobachtet werden. Hügel, Berge, Dörfer, Landschaften, Seen, Wälder, bis auch sie sich dem Blick entziehen. Im Zug das trügerische Gefühl der Statik. Der Körper wird mit 200 km/h über die Gleise gezogen, und dennoch denkt das Gehirn, dass der Körper ruhig auf seinem Platz sitzt. Dann die Dunkelheit, am Fenster herrscht nur noch Lichtgewitter. Die Fenster spiegeln das eigene Gesicht, das Abteil, die anderen Menschen, die Welt draußen ist nur noch schemenhaft zu sehen, sie ist da, aber nur wie ein Hintergrund, auf den die anderen Bilder projiziert werden. Vor wenigen hundert Jahren behaupteten Mediziner noch, dass es für den menschlichen Körper gefährlich wäre, wenn er sich schneller als 20 km/h bewegt.

Die Menschen im Zug, die einen kommen von irgendwo her und die anderen fahren nach irgendwo hin. Schwangere, Alte, Junge, Kinder, Säuglinge, Geschäftsleute, Eltern, Studenten, hübsche Menschen, hässliche Menschen, angenehme Menschen, Widerlinge, Langweiler oder interessante Menschen. Konservative, Linke, Alternative, Anzugträger, Arme und Reiche. Könnte der Zug gefragt werden, ihm wäre es egal, wer da in seinem Bauch ist. Ein paar Tonnen Biomasse. Aber er kann nicht gefragt werden, er ist eine Sache, ein Ding, von Menschen zusammengeschraubtes Blech. Die Menschen haben ihr Leben einer Sache anvertraut. Sie vertrauen Wildfremden, dass sie die Schrauben an der richtigen Stelle gesetzt haben. Warum haben eigentlich mehr Menschen Flugangst als Zugangst? Ist es für einen Phobiker irrelevant, dass er sein Schicksal in fremde Hände gibt, ist viel mehr der Umstand relevant, dass er vom Himmel fällt und nicht von Blech am Erdboden zerquetscht wird?

Alles ändert sich während der Fahrt. Der Mensch, welcher eingestiegen ist, existiert nicht mehr. Ein anderer Mensch, steigt an einem anderen Ort aus dem Zug aus. Wer weiß es schon? Wäre dieser Mensch die Strecke gelaufen, wäre er vielleicht niemals angekommen. Unter Umständen hätten sich aufgrund der langen Zeit, ganz neue Ziele ergeben? Oder er wäre einfach stehen geblieben. Die Geschwindigkeit und das Vehikel verhindern das Abweichen vom Ziel. Nicht einmal eine Begegnung innerhalb des Zugs könnte dieses ändern. Beim Laufen könnte diese Begegnung alles ändern. Ist es nur die Zeit, die Geschwindigkeit und das Gefährt? Was ist vorher passiert? Ein Entschluss war notwendig. Ich will einen bestimmten Ort erreichen und dieses so zügig, wie möglich. Unkompliziert, angenehm, ohne Umsteigen und Zwischenhalt. Das ist eine Selbstverständlichkeit, eine Banalität, so leben wir halt in unserer Zeit. Ab und wann ein Blick aus dem Fenster. Das sieht aber schön aus, da müsste man mal hinfahren. Das ist aber ein abgelegenes Dorf, wie die Menschen dort wohl leben?
Ich habe einen Plan und desto schneller ich das Ziel dieses Plans erreiche, umso geringer ist das Risiko, dass sich mein Ziel ändert. Aber ich werde auch nicht die netten Dinge sehen, die an mir vorbei ziehen, weil ich nicht mehr anhalten kann, weil ich mich dazu entschieden habe, ein Vehikel zu benutzen, welches ich nicht beeinflussen kann. Jedoch könnte ich innerhalb des Zugs Begegnungen haben. Begegnungen mit Menschen, die den gleichen Entschluss gefasst haben, wie ich. Eine echte Begegnung? Eine Begegnung, die alles ändert? Sie ist möglich, jedoch ist sie wahrscheinlich?

Jetzt erreiche ich demnächst mein Ziel. In den Zug ist ein Mensch eingestiegen, der sich über den Zug und seine unter Umständen vorhandenen metaphorischen Kapazitäten niemals Gedanken gemacht hat.

Vielleicht ist eine Zugfahrt gar nicht so banal, wie ich eingangs noch dachte.