Die Banalität einer Zugfahrt

Mit dem Zug fahren. Eine banale Angelegenheit, etwas Selbstverständliches, nichts worüber es sich lohnt nachzudenken. Du steigst an irgendeinen Ort ein und steigst an einem Ziel wieder aus. Der Zug selbst hat einen Anfang und ein Ende, unterteilt in Waggons und Abteile. In den Waggons befinden sich Menschen. Unbekannte Menschen, die auch unbekannt bleiben werden, jedenfalls ist die Wahrscheinlichkeit dafür sehr hoch. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie nicht unbekannt bleiben, nimmt in den Abteilen zu. Menschen sehen sich in die Augen, berühren sich aus Versehen, müssen ihren Geruch gegenseitig ertragen, beobachten sich verstohlen. Der Titel des Buches? Welche Zeitschrift? Welcher Artikel? Schuhe werden heimlich betrachtet, Taschen zugeordnet, Räuspern, Grunzen, Atmung, unruhige Bewegungen. Vielleicht eine Unterhaltung? Eine kleine Indiskretion über sich selbst?
Der Blick aus dem Fenster. Alles was sich in der Nähe befindet, blitzt nur kurz auf oder verschmilzt zu Strichen. Die ein paar Meter entfernten Objekte können vom Auge kurz erfasst werden, dann sind sie verschwunden. Je weiter alles weg ist, um so länger kann es beobachtet werden. Hügel, Berge, Dörfer, Landschaften, Seen, Wälder, bis auch sie sich dem Blick entziehen. Im Zug das trügerische Gefühl der Statik. Der Körper wird mit 200 km/h über die Gleise gezogen, und dennoch denkt das Gehirn, dass der Körper ruhig auf seinem Platz sitzt. Dann die Dunkelheit, am Fenster herrscht nur noch Lichtgewitter. Die Fenster spiegeln das eigene Gesicht, das Abteil, die anderen Menschen, die Welt draußen ist nur noch schemenhaft zu sehen, sie ist da, aber nur wie ein Hintergrund, auf den die anderen Bilder projiziert werden. Vor wenigen hundert Jahren behaupteten Mediziner noch, dass es für den menschlichen Körper gefährlich wäre, wenn er sich schneller als 20 km/h bewegt.
Die Menschen im Zug, die einen kommen von irgendwo her und die anderen fahren nach irgendwo hin. Schwangere, Alte, Junge, Kinder, Säuglinge, Geschäftsleute, Eltern, Studenten, hübsche Menschen, hässliche Menschen, angenehme Menschen, Widerlinge, Langweiler oder interessante Menschen. Konservative, Linke, Alternative, Anzugträger, Arme und Reiche. Könnte der Zug gefragt werden, ihm wäre es egal, wer da in seinem Bauch ist. Ein paar Tonnen Biomasse. Aber er kann nicht gefragt werden, er ist eine Sache, ein Ding, von Menschen zusammengeschraubtes Blech. Die Menschen haben ihr Leben einer Sache anvertraut. Sie vertrauen Wildfremden, dass sie die Schrauben an der richtigen Stelle gesetzt haben. Warum haben eigentlich mehr Menschen Flugangst als Zugangst? Ist es für einen Phobiker irrelevant, dass er sein Schicksal in fremde Hände gibt, ist viel mehr der Umstand relevant, dass er vom Himmel fällt und nicht von Blech am Erdboden zerquetscht wird?
Alles ändert sich während der Fahrt. Der Mensch, welcher eingestiegen ist, existiert nicht mehr. Ein anderer Mensch, steigt an einem anderen Ort aus dem Zug aus. Wer weiß es schon? Wäre dieser Mensch die Strecke gelaufen, wäre er vielleicht niemals angekommen. Unter Umständen hätten sich aufgrund der langen Zeit, ganz neue Ziele ergeben? Oder er wäre einfach stehen geblieben. Die Geschwindigkeit und das Vehikel verhindern das Abweichen vom Ziel. Nicht einmal eine Begegnung innerhalb des Zugs könnte dieses ändern. Beim Laufen könnte diese Begegnung alles ändern. Ist es nur die Zeit, die Geschwindigkeit und das Gefährt? Was ist vorher passiert? Ein Entschluss war notwendig. Ich will einen bestimmten Ort erreichen und dieses so zügig, wie möglich. Unkompliziert, angenehm, ohne Umsteigen und Zwischenhalt. Das ist eine Selbstverständlichkeit, eine Banalität, so leben wir halt in unserer Zeit. Ab und wann ein Blick aus dem Fenster. Das sieht aber schön aus, da müsste man mal hinfahren. Das ist aber ein abgelegenes Dorf, wie die Menschen dort wohl leben?
Ich habe einen Plan und desto schneller ich das Ziel dieses Plans erreiche, umso geringer ist das Risiko, dass sich mein Ziel ändert. Aber ich werde auch nicht die netten Dinge sehen, die an mir vorbei ziehen, weil ich nicht mehr anhalten kann, weil ich mich dazu entschieden habe, ein Vehikel zu benutzen, welches ich nicht beeinflussen kann. Jedoch könnte ich innerhalb des Zugs Begegnungen haben. Begegnungen mit Menschen, die den gleichen Entschluss gefasst haben, wie ich. Eine echte Begegnung? Eine Begegnung, die alles ändert? Sie ist möglich, jedoch ist sie wahrscheinlich?
Jetzt erreiche ich demnächst mein Ziel. In den Zug ist ein Mensch eingestiegen, der sich über den Zug und seine unter Umständen vorhandenen metaphorischen Kapazitäten niemals Gedanken gemacht hat.
Vielleicht ist eine Zugfahrt gar nicht so banal, wie ich eingangs noch dachte.
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