Ist da draußen wer?

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Ein Gedankenspiel:

In einer Gemeinde gibt es einen Baggersee mit gefährlichen Strömungen und Strudeln. Die Gemeindevertreter stellen hieraufhin an allen vier Himmelsrichtungen gut sichtbare Schilder mit der Aufschrift: «Baden verboten! Lebensgefahr!», auf. Nach einiger Zeit passiert das, was in solchen Fällen immer passiert. Das «sapiens» beim «homo» setzt sich mal wieder nicht durch und einige zugängliche Stellen avancieren zur Badestelle.
In einer zweiten Gemeinderatssitzung zum Thema, wird beschlossen, Rettungsringe und Stangen für die Eisrettung aufzustellen, zumal der See im Winter auch gern als Abkürzung benutzt wird. Parallel beschließt die Jugendfeuerwehr, wenigstens an den sonnigen Wochenenden freiwillig einen Rettungsdienst einzurichten. Ein Ratsmitglied ist darüber empört. Er argumentiert, dass die Gemeindemitglieder niemals begreifen werden, dass der See gefährlich ist, wenn nicht auch mal etwas passiert. Immerhin gäbe es eine alte Deutsche Volksweise, die da besagt: «Wer nicht hören kann, muss fühlen» und es heißt weiter: «Wer sich in Gefahr begibt, kommt darin um!»
Würden ihm die anderen Gemeinderäte zu stimmen? Ist es ethisch vertretbar das putativ anzunehmende Ertrinken eines Badenden zur Abschreckung zu benutzen? Wird ein Lebewesen in diesem Falle instrumentalisiert bzw. Mittel zum Zweck?
Inwiefern lässt sich dieser Sachverhalt auf das Mittelmeer übertragen? Die Gegner der Seerettungsschiffe argumentieren, dass sich die Flüchtlinge auf eine Rettung verlassen. Deshalb steigen sie unbekümmert in die Boote. Ist diese Überlegung schlüssig? Wie hoch kann ich als Flüchtling meine Chancen einschätzen, dass ich auf dem Mittelmeer von einem der wenigen Schiffe im Falle einer Seenot gerettet werde? Funk oder Signalmittel geben mir die Schleuser nicht mit. Sie wären auch eher kontraproduktiv, da ich so auch die Küstenwache herbei holen würde.
Die Kritiker setzen auf ein Nullsummenspiel. Wenn die Flüchtlinge zu 100 % nicht davon ausgehen können, gerettet zu werden, steigen sie auch nicht in die Boote. Diese Botschaft muss nur bei Ihnen ankommen. Teil der Botschaft ist die Verhinderung eines Auslaufens von Rettungsschiffen. All diejenigen, bei denen die Botschaft noch nicht angekommen ist, verlassen sich aus dem Blickwinkel der Blockierer noch auf den alten Zustand. Sie sind sozusagen die bedauerlichen Opfer einer Interimlösung.
Was ist mit der Position des Flüchtlings? Bedingt durch die Vernetzung in der modernen Welt stehen ihm folgende Informationen zur Verfügung:
1. Es gibt keine Rettungsschiffe mehr, die ihn im Zweifel herausholen.
2. Es ertrinken nicht alle. Ein nicht näher ermittelbarer Teil kommt durch.
3. Er muss eine Abwägung durchführen. Wie hoch sind meine Chancen nicht zu ertrinken im Verhältnis zur sozialen Verelendung im Falle einer Rückkehr, Unterbringung in einem nordafrikanischen Lager oder wildes Leben in feindlicher Umgebung.
Den bisher bekannten allgemeinen Erkenntnissen über menschliches Verhalten nach, muss davon ausgegangen werden, dass sich ein nicht geringer Teil für die See entscheidet. Wir kennen für dieses Dilemma zig analoge Beispiele. Nehmen wir zum Beispiel den Insassen eines Kriegsgefangenenlagers, der eine Flucht plant. Bei der Wertung aller Umstände sind seine Überlebenschancen innerhalb des Lagers größer, als wenn er auf der Flucht erschossen wird. Trotzdem unternehmen einige einen Fluchtversuch.

Es ist die alte Frage. Lieber das Ungewisse, aber eine Chance, oder das bekannte bestehende Schlechte.

Wie steht es mit den Zielen und Möglichkeiten? Mit den Rettungsschiffen könnten Ertrinkende gerettet werden. Laufen sie nicht aus, ist das ein zielorientiertes Unterlassen. Mit der Gefahr des Ertrinkens soll den Flüchtlingen eine Botschaft übermittelt werden: Wir holen Euch nicht raus! Darüber hinaus soll mittels Unterlassen erreicht werden, dass keine illegale Migration nach EUROPA stattfindet.
Anders: Ein Appell an eine nicht vorhandene und nicht zu erwartende Vernunft eines Menschen in einer Ausnahmesituation, damit a) weniger kommen b) der Bürger beruhigt ist und c) der Politiker wieder gewählt wird.
In einem zweiten Gedankengang ergibt sich die Option, die flüchtenden Menschen/Familien gar nicht erst ans Meer gelangen zu lassen. Um dieses zu erreichen, zahlt die EU an die betroffenen Transitstaaten Gelder zur Einrichtung von Kontrollstationen an den alten Karawanenstraßen. Die Flüchtenden weichen deshalb auf die unsicheren Strecken aus. Woraufhin die Sahara zum Friedhof wird.
Der Logik nach müsste man also noch einen Punkt vorher ansetzen. In meinem Anfangsbeispiel könnte der Gemeinderat eine Sicherung des Sees vornehmen, in dem er an festen Stellen Baggerarbeiten durchführt, die die Strudel beseitigen. Den Rest des Ufers könnte man Bepflanzen, so dass die Badegäste wegen des dichten Gestrüpps kein Interesse am Baden zeigen und lieber auf die sicheren Stellen ausweichen.
Bei den Flüchtenden würden wir in den Herkunftsländern ansetzen müssen. Also unter anderen dort, wo die Leute in Minen für unsere Mobiltelefone die notwendigen Rohstoffe schürfen. Oder dort, wo mit Containerschiffen unser Plastikmüll und chemischer Sondermüll ankommt. In den Ländern, wo Konzerne aktuell die Wasserrechte aufkaufen und im Gegenzuge Machtcliquen in der Regierung installieren. Vielleicht müssten wir auch einsehen, dass die letzten zweihundert Jahre eine Kluft in der Entwicklung geschaffen haben, die die nie wieder schließen können, weshalb sie massive Unterstützung brauchen, die weit das Bisherige übersteigt.
Das alles würde a) dem Bürger nicht gefallen und b) dem Politiker keine Wiederwahl bescheren und c) Leute an die Macht bringen, die ganz andere Lösungen in Portfolio haben.
Warum dann nicht wenigstens die Jugendfeuerwehr in der Freizeit ihr Ding machen, bzw. die NGO uns wenigstens ein wenig den Anstrich von Humanismus geben lassen?

Ich meine darunter ist dann immer noch fauliges Holz, aber mit ein wenig Farbe sieht es schöner aus.

In den alten Tagen meldeten sich zu solchen Problemen lautstark die Philosophen der Zeit zu Wort. Schwerlich kann man einen Marx, Horckheimer, Adorno, Habermas, Fromm, Sartre, Marcuse exhumieren. Aber beschränkt sich Deutschland mittlerweile auf die medial präsenten Precht und Lesch? Wo sind die großen Wortführer außerhalb des Parlaments, die den Seehofers, Söders, Dobrindts, Gaulands, Weidels, die Leviten lesen?  Wo findet die interdisziplinäre ethische, philosophische, spieltheoretische Diskussion statt? Wo sind die Utilitaristen, Humanisten, Existenzialisten, Materialisten?
Ich suche dann mal weiter …

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Verfasst 13. Juli 2018 von Troelle in category "Allgemein", "Ethik", "Politik", "Politik u. Gesellschaft

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