Fussball – ein Spiegel?

Ich warne euch, ihr Brüder Jahns,
vor dem Gebrauch des Fußballwahns!Ringelnatz
Ein junger Mann, dessen Vater mit zwei Jahren in Deutschland landete und selbst in diesem Land geboren wurde, beschließt Fußballer zu werden. Meine Urgroßmutter wurde im heutigen Polen geboren, ihre Tochter, meine Großmutter, lernte in der Kindheit noch Polen und später Deutschland kennen. Das Leben verschlägt den jungen Mann beruflich nach Spanien und England. So läuft das heutzutage.
Weil er besser spielt, als die meisten anderen seiner Altersgruppe und mit Sicherheit mit einem Quäntchen Glück ausgestattet, wird er in die Deutsche Fußballdelegation berufen und steht bei Länderspielen fortan für sein Geburtsland auf dem Rasen. Seine Brötchen verdient er sich in England. Seine Kollegen kommen von überall her. Niederlande, Frankreich, Spanien, Weißrussland, auch das läuft heutzutage im internationalen Fußball so. Die zurückliegende Fußball Weltmeisterschaft wurde mit der Analyse kommentiert: Der europäische Stil hat sich durchgesetzt. Nun immerhin folgten die «black-blanc-beur» – Spieler den taktischen Anweisungen eines Franzosen.
Mit einem ritualisierten Kampf von Nationen hat das alles nicht viel zu tun. Übrig bleibt vielleicht noch die Symbolhaftigkeit eines taktischen Spiels, welches im Gegensatz zu GO und Schach körperlichen Einsatz erfordert. Wo einer trainiert, welche Ärzte ihn behandeln, wer den Lebensunterhalt finanziert, usw. sind die entscheidenden Faktoren in diesem Zirkus.
Dabei könnte man es bewenden lassen, wenn der Fußball nicht zusätzlich eine altrömische Funktion einnähme: Brot und Spiele. Unterschiedliche Interessenten benutzen die instrumentalisierten hochbezahlten Leibesübungen der modernen Gladiatoren. Politiker bauen, je nach Ausrichtung ihre Rhetorik damit auf, Bevölkerungsgruppen identifizieren sich mit der deutschen Nationalmannschaft, als wenn nationale Armeen in die Schlacht ziehen würden, Gesellschaftskritiker heben mahnend die Finger, ein bizarres Universum entsteht um 22 Männer, die ein taktisches Spiel mit einem Ball vollziehen.
Seit Urzeiten schmücken sich Diktatoren, Oligarchen, Reiche, Mächtige und Könige mit Menschen, die im Gegensatz zu ihnen den archaischen Kampf um die Überlegenheit des Körpers ausfechten. Sie selbst verfügen zumeist lediglich über tradierte Statussymbole und Osteoporose. Die Gladiatoren hängen sie sich wie Schmuck um den Hals. Mesut Özil hat nichts anderes getan. Er hat sich zum Schmuckstück, wie eine gekaufte weibliche Schönheit, herabwürdigen lassen. Wie er dies mit seinem Ego ausmacht, bleibt ihm selbst überlassen.
Teile der deutschen Bevölkerung schäumten vor Wut. Warum eigentlich? Weil sie 2018 in einer Welt leben, in der sich wie eh und je Diktatoren und Oligarchen mit Vorzeigesportlern garnieren? Spüren sie, dass da bei Ihnen selbst etwas schief läuft? Sie machen einen Typen, dessen Lebensleistung bisher darin besteht, mit einem runden Ball geschickt umzugehen, zum Symbol. Wären Einbeinige ein Statussymbol, hätte sich Erdogan mit einem ablichten lassen. Sie schimpfen auf den instinktlosen Fußball Millionär. Wer hat ihn denn dazu gemacht? In anderen Sportarten wird man nicht zum Millionär. Warum nicht? Weil man damit den Leuten kein Geld aus der Tasche ziehen kann. Woher kommt das Geld? Wer könnte die Taschen zu halten?
Ich war auch sauer über das Bild. Eben genau, weil sich nichts ändert. Ob da ein Özil oder ein Nigerianer steht, ist mir persönlich vollkommen egal.
Wie nahezu alles im Leben, ist die Nummer mit Erdogan ein Spiegel, der mir und anderen vorgehalten wird. Und jeder sieht etwas anderes darin. Jeder Beitrag, selbstredend auch dieser BLOG Inhalt, gibt eine Auskunft über einen selbst. Offensichtlich vergessen dies einige gern. Das bezieht sich nicht ausschließlich auf die Person Özil, sondern auf die ganze WM.
Ist jemand mit einer Deutschlandflagge ein Nationalist? Ich weiß es nicht. Schlicht, weil die Flagge an sich, keine Information darüber gibt. Wenn ich bereits die Flagge zum Symbol des Nationalismus mache, sagt das lediglich etwas über mich aus. Sicher kann ich nur behaupten, dass ein Politiker, der das Thema Nationalmannschaft vs. die Mannschaft auf den Tisch bringt, populistische Ziele verfolgt. Ist jeder mit einer deutschen Flagge oder Trikot auch ein Deutscher? Keine Ahnung, woher will ich das wissen? Mit Sicherheit mag er andere, die das auch tun. Sonst würde er mit denen kein Gruppenerlebnis teilen wollen.
Wenn jemand aufgrund der Ereignisse eine Rassismus Debatte eröffnet, ist das scheinbar für ihn selbst ein Thema, welches er an den Geschehnissen aufhängt. Andere reden davon, dass die Berufung zum Nationalspieler eine Ehre sei. Mag für denjenigen eine korrekte Aussage sein, muss aber nicht stimmen. Ich bezweifle, dass Olympia Teilnehmer in erster Linie ihr Land vor Augen haben, wenn sie auf das Treppchen steigen. Der eine macht die persönliche Ehre daran fest, andere tun es nicht. Und? Die Frage dürfte sein, was der Einzelne mit dem Spektakel Fußball WM verbindet.
1954 zeigte die deutsche Mannschaft der Welt ein Antlitz, weil Europa aus verständlichen Gründen 9 Jahre nach dem Krieg noch die «Krautfressen» im Kopf hatte und alle gemeinsam dafür dankbar waren, dass eine gewisse Normalität eintrat. 2018 haben wir andere Sorgen. Wenn überhaupt, ergäbe sich Analogie, wenn die Welt durch die durchmischten Mannschaften dankbar für die Auflösung der Grenzen im Kopf gewesen wäre. Ist sie aber nicht.
Gab es in der Geschichte schon einmal eine «Causa Özil». Ich denke schon, allerdings in einem anderen Sport. Im kalten Krieg war es ein Bobby Fischer, der einen Pfifferling auf die politischen Vorgaben gab. Sicher sind beide Charaktere nicht vergleichbar, aber prinzipielle Parallelen gibt es durchaus, spätestens bei der Betrachtung der damaligen Diskussionen.
Doch wenn ich Spiegelbild schreibe, ist meinerseits auch die Gesellschaft gemeint. Wie und in welcher Form die Debatte geführt wird, wer sich alles zu Wort meldet und wer es unterlässt, ist hochinteressant.
Will mir ernsthaft jemand sagen, dass das Ablichten lassen mit zweifelhaften Personen neuerdings zur Ethikfrage geworden ist? Die Diskussion und vor allem die Ächtung der Betroffenen könnte einige Zeit in Anspruch nehmen. Ich persönlich hätte nichts dagegen einzuwenden, sie trifft meinen Nerv, aber ich bin etwas verwundert.
Gleichsam würde ich mich im Gegenzuge über mich selbst wundern. Was mache ich mir einen Kopf darüber, ob sich Pornosternchen, Hollywood Schauspieler, Fußballer oder andere mehr oder weniger uninteressante Persönlichkeiten mit Unsympathen fotografieren lassen?
Die Aufregung bezüglich eines Jean – Paul Sartres, der sich seinerzeit vor den Karren spannen ließ, kann ich nachvollziehen. Die Auseinandersetzung, warum er und andere Zeitgenossen dies taten, halte ich für weiterbringend – aber ein schnöder austauschbarer Fußballer?
Die Auseinandersetzung mit Özil ist fruchtlos. Gedanken über die darauf reagierenden Gesellschaftsteile, und was dies mit mir macht, erscheint mir wichtig. Ich fühle mich immer weiter an den Rand gedrängt, zumal ich keine öffentlichen Wortführer vernehme, die das ganze Thema gelassen aus anderen Perspektiven analysieren. Ich vermisse Leute wie die Denker aus der Frankfurter Schule, welche die Debatten auf eine Metaebene bringen. Die Funktion eines Massenphänomens, wie der Fußball, unter Berücksichtigung seiner Instrumentalisierung zur Manipulation von Massen. Das wär doch mal ein Thema. Dies in der Sprache einer BILD aufbereitet und drei Monate in allen Hochglanzmagazinen und Frauenzeitschriften beim Hausarzt ausgelegt.
Ist ja gut … ich verkrümele mich wieder und mache dann mal weiter mein eigenes Ding. Übrigens habe ich ein Tippspiel zur WM gewonnen. Einige unterstellen mir, dass meine Ahnungslosigkeit dabei hilfreich war. Vielleicht habe ich aber auch auf den bezahlten Fussball gesetzt, nationale Gefühle ausgeblendet und keine Rücksichten auf Wünsche für den Underdog genommen.