Inselgedanken …
Warum jagen Hunde in Deutschland Katzen, während sie dies auf einer Insel im Süden von Thailand nicht tun? Fressen die Ameisen den Tausendfüßler, oder ist es genau anders herum? Sind große Kakerlaken einzeln lebende Insekten? Warum krabbeln große Einsiedlerkrebse bis ins Landesinnere? Was machen die da? Was sind das für leuchtende Punkte nachts im Meer? Algen? Bakterien? Warum ist der Sonnenuntergang in der Nähe des Äquators so kurz?
Das alles sind Fragen. Auf keine dieser Fragen, mal abgesehen vom Sonnenproblem, habe ich Antworten. Fragen gehören zu den komplexen philosophischen Themen und Suche nach Definitionen Erkenntnis, Wahrheit, Gewissheit, Meinung, Erkenntnisgewinnungsprozess und vielem mehr. Es gab mal eine Zeit, da machten sich Menschen Gedanken. Sie dachten darüber nach, wie sie miteinander kommunizieren können. Sie machten aus ihren Auseinandersetzungen eine hohe Kunst. Sie diskutierten, debattierten, entwickelten rhetorische Kunstformen, erörterten die möglichen Fehlerquellen, die zu Missverständnissen führten und setzten dies alles immer in Bezug zur menschlichen Wahrnehmung. Wer ist dieser Mensch? Wie verhält es sich mit dem, was er wahrnimmt? Gibt es universelle Wahrheiten?
Wir schreiben das Jahr 2018. Die Römer landeten nach und nach in der Dekadenz. Ihre Zeit war vorbei. Die barbarischen Stämme übernahmen. Eines Tages wurde ihnen das Chaos zu bunt, und mehr ungewollt, gründeten sie neue Reiche. 2018 ist alles, was jemand von sich an Tönen absondert eine Meinung. Egal, wie irre und weit hergeholt die Zusammensetzung der Worte auch sein mögen, am Ende ist es die Meinung von jemanden. Erkenntnisse und Wahrheiten werden nicht mehr voneinander unterschieden. Inhaltschwere Worte sterben. Zum Beispiel verwendet kaum noch jemand das Wort «Alterozentrik». Zwei oder mehr Menschen treffen aufeinander und packen ihre Erkenntnisse auf den Tisch, um aus dem gegenseitigen Abgleich die Fehler zu ermitteln und daraus eine erweiterte Erkenntnis zu ermitteln.
Die meisten verfügen auch nicht mehr über die Fähigkeit, Fragen zu stellen. Sie wissen, sie haben eine Meinung, einen Standpunkt, eine Erfahrung aus der sie alles restliche ableiten, eine Wahrheit, zu mehr reicht es nicht. Sie haben die Fähigkeit des Denkens verloren, welches ihnen Einsichten in die eigene Fehlbarkeit ermöglichen würde. Kaum einer verfügt noch über eigene Erkenntnisse. Das meiste davon wurde konsumiert. Jemand, der daraus Kapital schlagen will, hat ihnen etwas erzählt und sie haben es übernommen. Ich tue mich schwer mit dem Wort Dummheit. Ich will gar nicht so weit gehen und die Kommentare der Zeitgenossen in den Social Media heranziehen. Zwei Geschichten der letzten Tage ließen mich in Bezug auf Menschen wieder einmal mit lauter Fragen zurück.
Ein einheimischer Fischer und Bootsführer, gerade mal 170 cm hoch, drahtig, und ca. 60 kg schwer, fuhr mit einer Gruppe Touristen, die sich aus wohlgenährten (freundlich ausgedrückt) Deutschen, Polen, Briten und Italienern zusammensetzte auf das Meer hinaus. Es herrschte kein Sturm, aber der Wind reichte, um einige Wellen zu erzeugen. Beim bestiegenen Boot handelt es sich um ein Longtailboot. Die schmalen Holzboote haben am Heck einen in alle Richtungen ausrichtbaren Dieselmotor, mit dem eine Schiffsschraube angetrieben wird, die sich am Ende einer 5 Meter ins Wasser gesenkten Stange befindet. Der Bootsführer bewegt zum Steuern kein Ruder, sondern wuchtet den Motor in die passende Richtung und je nach Wassertiefe senkt oder hebt er die Stange. Oftmals werden mit diesen Booten auch Frachten transportiert. Die Bootsführer achten sehr genau auf die Ausbalancierung der Fracht, da eine Schieflage stundenlange Schwerstarbeit zur Folge hat.
Die beschriebene Touristengruppe interessierte dies alles gar nicht. Sie verteilten sich in dem Boot nach sozialen Kriterien. Die beiden Polen, 80 – 90 kg, hatten auf Backbord noch eine Besprechung, während sich die graziösen Polinnen auf Steuerbord die neuesten Schminktipps gaben. Der Italiener (ca. 90 kg, 190 cm) war frisch verliebt und erklärte seiner leichtgewichtigen Ragazza das Meer. Weitere Beschreibungen dürften nicht notwendig sein. Keinem von ihnen interessierte der gegen die Wellen ankämpfende kleine Insulaner. Abends war der arme Kerl vollkommen fertig und beschrieb mir die Dusseligkeit seiner Fahrgäste. Sie zu Verteilen entspricht nicht seinem Wesen. Niemals würde er auf die Idee kommen, den Farangs Anweisungen zu erteilen. Dummheit? Ignoranz? Entfernung von den Dingen, auf die es wirklich ankommt? Dekadenz?
An einem anderen Tag beobachtete ich ein Pärchen aus den Niederlanden, die es sich an einem Strand gemütlich machten. Der Strand kann nur durch den Dschungel oder mit einem Kajak erreicht werden. Die Flut treibt jeden Tag allerlei Plastikmüll in den hinteren Bereich, so dass sich dort ein breiter Haufen gebildet hat. Beim Schnorcheln fanden sie im Wasser zwei große Plastikflaschen. Immerhin holten sie diese aus dem Wasser heraus. Was nun? Ich erwartete, dass sie die Flaschen ins Kajak legen und bei der Rückgabe des Boots den Müll an passender Stelle entsorgen. Sie zuckten mit den Schultern und warfen sie auf den Haufen zu den anderen Flaschen. Das hätte die Flut auch alleine hinbekommen. Vermutlich erwarten sie, dass die Einheimischen diesen Haufen am entlegenen Strand reinigen. Das sie, die Touristen, für diese Flaschen maßgeblich verantwortlich sind, kommt ihnen nicht in den Sinn. Ich selbst packte dann einige Flaschen in einen Beutel und nahm sie auf der Rücktour mit.
Die beiden Verhaltensweisen lassen sich auf vieles, was derzeit passiert, hochrechnen und anwenden. Was habe ich von solchen Mitmenschen in Europa zu erwarten? Niemand stoppt diese Prozesse. Selbst wenn die Menschen aus der Wohlstandsgesellschaft mal ohne die Masse unterwegs sind, in der sie dem Effekt der Deindividuation unterliegen, funktioniert im Oberstübchen nichts mehr. Nichts von dem, was ich aus der Ferne in den Social Media und Nachrichten lese, hat noch etwas mit Vernunft zu tun. Manchmal überkommt mich eine dystopische Gewaltfantasie. Es müsste jemand eine globale Katastrophe erzeugen, die uns mit einem Schlag aller technischen Errungenschaften berauben würde. Die Folgen wären anfangs verheerend. Doch es würde sich zeigen, wer als Mensch wirklich seinem Ruf gerecht wird und in schwierigen Situationen überlebensfähig ist. Die Insulaner würden sich kurz schütteln und nach einer Woche, wäre alles in Butter. Das Chaos in Europa würde die Bevölkerung auf ein Drittel reduzieren. All die Leute, die bis zu diesem Zeitpunkt dachten im Besitz von Wahrheiten, eigener Erkenntnisse und Wissen zu sein, schauten in eine schwarze Zukunft.
Der kleine Bootsführer hat mich zu einer Angeltour eingeladen. Kokosnüsse öffnen, ist seiner Auffassung nach, nicht eine meiner Kernkompetenzen. Dabei hätte er mir nur eine gerade Machete geben müssen. Mit so einem Krummsäbel aus dem Stahl einer alten Bombe kann ich nicht arbeiten. OK, er braucht zum Abschaben der Kokosflocken nur fünf Minuten, ich eine gepflegte halbe Stunde. Wenn der wüsste, wie ich mich beim Angeln anstellen kann … Aber irgendetwas wird er schon noch finden, wo zu ich tauge.