Der Fischer
Trotz dessen, dass ich in einer Großstadt geboren bin, blicke ich auf viele Naturerlebnisse zurück. Ich wanderte durch die Pyrenäen, übernachtete in der Wildnis, lernte Wälder kennen, habe beim Kuhstallausmisten geholfen, war beim Schlachten eines Schweins zugegen, bin drei Tage auf einem Kutter mitgefahren, habe beim Werfen von Welpen zugesehen und war bei einer Jagd dabei. Bei solchen Erlebnissen gehen mir immer dieselben Gedanken durch den Kopf.
Vor einigen Tagen hatte ich einen Fischer gefragt, ob er mich mal mitnehmen könne. Ich hatte mir eine Bootstour vorgestellt. Es sollte ganz anders kommen. Gestern sagte er mir, dass ich zu 16:00 Uhr, Ebbe, bereithalten sollte. Bewaffnet mit einem Eimer, mehreren kleineren Fischnetzresten, fünf ca. einen halben Meter langen Ästen und einem Messer zogen wir los. Er mit Flipflops, ich mit Badeschuhen an den Füssen. Eine halbe Stunde liefen wir über den frei gelegten Meeresboden. Seegras, Muscheln, Korallen, glitschige scharfkantige Felsenabschnitte folgten aufeinander. Ich konnte mir keinerlei Reim darauf machen, was wir eigentlich suchten.
An der Wasserkante angekommen, zeigte er plötzlich auf einen im Boden steckenden Ast. Er hockte sich hin und begann unendlich langsam und behutsam an einer dort befestigten Angelschnur zu ziehen, die in ein Loch hineinreichte, welches etwa dem Durchmesser einer normalen Kaffeetasse entsprach. Plötzlich erkannte ich, wem unser Interesse galt. Langusten! Wenn das Wasser sich zurückzieht, verschwinden sie wie Krebse im Sand. Während die Krebse einen markanten Sandkranz hinterlassen, sind die Löcher der Langusten scharf abgegrenzt oder man kann einen Sandkranz erkennen, in dem sich ein kleineres Loch befindet.
Nach und nach wanderten wir von einer Falle zur nächsten. Zu seiner Enttäuschung, waren an diesem Tag nur kleinere Exemplare, männliche Tiere, wie er mir erläuterte, ins Netz gegangen. Deshalb hielten wir Ausschau nach weiteren Löchern. In zwei Stunden fand er zehn und ich eines.
Der Abenteurer Rüdiger Nehberg berichtete mal von seinem Aufenthalt bei einem Stamm in Brasilien, der ihn zur Affenjagd mit nahm. Da er mit den Eingeborenen im Dschungel nicht mithalten konnte, bat er darum, wieder zum Dorf zurückkehren zu können. Die Indios konnten nicht nachvollziehen, dass er als erwachsener Mann anhand der Bäume nicht den Weg zurückfand. Am Ende stellten sie ihm ein Kind an die Seite, welches ihn zurückbrachte.
Ich habe keine Ahnung, an welchen Punkten sich mein Fischer in der weiten Ebene orientierte, doch zielstrebig steuerte er seine Fallen an. Dazwischen fand er noch die Zeit Oktopusse auszumachen, die er mit einem Haken aus ihren Löchern holte. An den neu entdeckten Löchern installierte er neue Fallen. Ich habe offensichtlich verlernt, in einer natürlichen Umgebung markante Punkte auszumachen. Besondere Felsen, Berge, einzeln stehende Bäume mögen noch funktionieren, aber in diesem Chaos aus Steinen, Korallen und Wasserpfützen, war ich überfordert.
Zum Bau der Fallen stopfte er die Netzreste hinein, band sie an einem der mitgebrachten Stöcke fest und legte einen Stein auf das Loch. Die Languste verfängt sich mit den Scheren am Netz und kann dann so herausgezogen werden. Simpel, aber sehr effektiv.
Heute um 05:00 Uhr, noch in der Dunkelheit ging es erneut hinaus. Wobei ich pünktlich war, jedoch mein Fischer erst eine halbe Stunde später erschien. Ich glaube, er hatte nicht damit gerechnet, dass der Tourist sein Wort hält. Alleine wäre ich überall gelandet, aber mit Sicherheit nicht bei den Fallen. Selbst im Dunkeln fand er seinen Weg. Und wieder landeten einige Oktopusse im Eimer. Die Fallen gaben vier Langusten her. Die Beute landete am Ende bei der Köchin und soll heute Nachmittag mein Salat werden.
Unterwegs erzählte er mir, dass er niemals ein Haus oder Land besessen hat. Sein Leben fand früher ausschließlich auf dem Meer und dem Boot statt. Heute wäre das anders. Durch die Touristen könne man in der Hauptsaison nicht mehr Fischen. Die Fischer verdienen in dieser Zeit ihr Geld mit den Rifftouren. Langusten wären immer noch ein einträgliches Geschäft, weil die Chinesen für das Kilo umgerechnet 50 EURO bezahlen. Mir erklärte sich dadurch die Armut vieler Inselbewohner. Wer keinen Job in den Luxusresorts oder den Agenturen bekam, musste irgendwie die Hauptsaison überstehen. Damit war mir auch plötzlich klar, warum ich die Einheimischen ständig am Strand sammeln sah. Krebse, Muscheln und Oktopusse sind in dieser Zeit das Hauptgeschäft. Selten bring mal einer aus den wenigen freien Fischgründen, einen heiß begehrten Barrakuda mit nach Hause.
Er berichtete auch davon, dass er den letzten Tsunami auf Schiff erlebt hatte. Sein Glück war, das Koh Mook, im Gegensatz zu Krabi nicht mehr die volle Wucht abbekam. Ich verstand von seinem Englisch und den wilden Gesten nicht viel, aber die Dramatik der Situation kam ausreichend herüber.
Ob es nun damals in den Pyrenäen die Hirten waren, die mir vor machten, dass man auch mit heruntergetretenen Latschen und einem Lederranzen in den Bergen überleben kann oder der Fischer, sie gemeinsam zeigen mir, wie sehr ich mich als Städter vom echten menschlichen Leben und seinem Überlebenskampf entfernt habe. Ich habe keine Zahlen, lediglich eine diffuse Vorstellung davon, wie hoch der Anteil der Menschheit ist, der in urbanen Gebieten der Wohlstandsgesellschaft lebt. Jedoch eins ist klar, dieser Teil lebt in einer virtuellen Welt. Blöderweise ist es aber genau jener Teil, der über die Geschicke dieses Planeten entscheidet. Diejenigen welche in, mit und von der Natur leben haben keinerlei Möglichkeiten an den Entscheidungen zu partizipieren.
Es gibt in unserer virtuellen Welt einen großen Abstand zwischen der politischen Führung und den Menschen, welche die alltäglichen Widrigkeiten meistern müssen. Hinzu kommt der Abstand zwischen Landwirten und Handwerkern zu Dienstleistern. Wie groß und unermesslich ist dann der Abstand zwischen dem Fischer und den politischen Führern, die über sein Schicksal bestimmen? Menschen, die außerhalb der Universität und ihrem Büro, niemals etwas anderes vom Leben kennenlernten? Wir blicken schon kopfschüttelnd auf sie, weil sie niemals in einen Arbeitsprozess eingebunden waren und es gar nicht besser wissen können. Was mag dem Fischer beim Anblick dieser Persönlichkeiten durch den Kopf gehen?