22 Januar 2019

Botschaft aus der Ferne

Lesedauer 6 Minuten

Kinder sind nicht nur Reproduktion, sondern sie sind auch ein Spiegel unserer selbst. Ihr Verhalten zu beobachten ist eine sichere Methode, seine eigenen Verhaltensmuster zu erkennen. Verhaltensmuster, die oftmals von Generation zu Generation weiter gegeben werden. Ich glaube, dies steckt auch in der deutschen Redensart: Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm. Nicht alles, was wir sehen und beobachten, mag uns gefallen. Doch wir kommen nicht daran vorbei, dass wir uns selbst und die Auswirkungen unseres Verhaltens sehen.

All zu oft machen wir den Fehler, den Wunsch zu hegen, dass unsere Kinder ein Leben führen, wie wir es führen. Unsere eigenen Erfolge, oder was wir dafür halten, ersehen wir als Bestätigung für eine richtige Lebensweise. Eine Lebensweise, die von Wertvorstellungen, Verhalten in der Gesellschaft und Umgang geprägt ist. Jede Generation und Gesellschaftsschicht, entwickelt sie vor dem Hintergrund des Zeitgeschehens neu oder weiter. Verhaltensmuster, die in einem Krieg richtig waren, sind nach dem Krieg unter Umständen falsch. Gleiches gilt für die, welche in der Nachkriegszeit gebildet wurden. Es ist mehr als fraglich, das alle alten Muster auf die aktuelle Zeit anwendbar sind. Wichtige und alle Zeiten überdauernde gibt es nur handverlesene. Meiner Meinung nach, gehört dazu der Respekt vor allem Lebenden und die Erkenntnis, dass alles eine Produktion unseres Großhirns ist.

Der Zweite Weltkrieg und die damit verbundenen Geschehnisse haben Spuren hinterlassen. Innere Grenzen wurden verschoben. Wer mit täglicher körperlicher Gewalt konfrontiert ist, verliert ein Bewusstsein für sprachliche Gewalt. Viele aus der sogenannten deutschen Nachkriegsgeneration merken nicht, wie sie verbal ständig Leute verprügeln und selbst verprügelt werden. Das gesunde Empfinden für die eigenen und die Grenzen eines anderen Menschen wurde zerstört. Eine Grenzverletzung, die nicht mittels körperlicher Gewalt stattfindet, ist in der Sicht dieser Menschen keine. Immer, wenn ich versuche meine Verhaltensmuster, die auf meinen eigenen Erfahrungen, Ängsten und Bedürfnissen beruhen, einem anderen Menschen aufzuzwingen, übe ich Gewalt aus. Besonders wenn ich dies mit einem dazu passenden Wortschatz begleite. Letztlich erzeuge immer eine Verteidigungshaltung.

Erziehung endet mit der Vermittlung der grundlegenden Kenntnisse. Wir werden mit dem kompletten Potenzial eines modernen Menschen geboren, welches mittels der nachfolgenden Erziehung und Sozialisation beschränkt wird. Die Eltern, bereits sozialisierte und in ihrem Potenzial beschränkte Menschen, versuchen einen Menschen zu erschaffen, der zum einen Beitrag für die Gesellschaft leistet und zum anderen ein Abbild ihrer selbst ist. Zeigt sich der Nachwuchs damit nicht einverstanden, kommt es zu einem negativen Konflikt, der nicht selten mit einer Verteidigung endet.

Es ist mehr als fraglich, wie ein Mensch der seine grundlegende Sozialisation in der Nachkriegszeit erhielt, einen jungen Menschen aus dem digitalen Zeitalter, beraten soll. Ich wüsste zum Beispiel nicht, was ich einem Zwanzigjährigen über Berufswahl, Bewerbungen, Studium oder Absicherung mitzuteilen hätte. Mein Wissensstand ist ca. 30 Jahre alt. Da draußen gibt es jede Menge Berufe, von denen ich niemals etwas hörte. Das Studium in Deutschland hat sich vollkommen verändert. Keiner kann in der aktuellen Zeit ernstzunehmende Prognosen aufstellen. Derzeit ändert sich vieles … mit einer Ausnahme: das menschliche Verhalten.

Ich kann maximal berichten, wie ich es anging und wo es mich hingeführt hat. Prinzipiell verfahre ich nach dem Motto: Wenn ich ein Problem mit der Elektrizität habe, frage ich einen Elektriker und nicht einen Wasserinstallateur. Warum sollten mich meine Kinder nach Rat in Dingen fragen, die wahrlich nicht mein Spezialgebiet sind. Ich war 33 Jahre lang Beamter, da kenne ich mich aus, das war es dann.

Ich habe unzählige Lebensmodelle kennengelernt. Ich kenne Menschen, die Leben im Wald. Andere leben in einem besetzten Haus. Wiederum andere leben in schicken Häusern oder legen Wert auf einen gepflegten Garten. Ich kenne Leute, die leben in Öko – Gärten, andere versuchen ZEN Gärten zu gestalten. Chaos, stylish, spießig, spartanisch, üppig, jeder findet seine eigene Antwort und jede hat ihre Berechtigung. Der eine will den Nachbarn etwas zeigen, der nächste will sich verstecken und einem anderen, ist das alles egal.

Auf der anderen Seite habe ich viele Menschen kennengelernt, die anderen und vor allen ihren Kindern mitteilen, dass ihre Vorstellungen richtig sind. Warum tun sie das? Unter anderen, um sich selbst eine Bestätigung zu verschaffen. Lebt einer in Ordnung, passt sich den gängigen Gepflogenheiten an und versucht nicht aufzufallen – meist eine Folge der erwähnten Grenzverschiebungen und erlittenen Trauma –, erscheinen ihm gegensätzliche Lebensweisen suspekt. Er sieht sich selbst in Frage gestellt. Das funktioniert auch anders herum. Letztens hörte ich von einer jungen Frau, dass sie auf die Äußerung des Berufswunsches «Polizei» mit den Worten: «Du wirst nicht eine Hure des Staats», eine Ohrfeige bekam.


Mein Rat an meine Kinder lautet: Seht Euch genau die Verhaltensmuster in Eurer Familie an. Da kommt ihr her und das hat man Euch in den Kopf gepflanzt. Sie sind gleichzeitig die Grenzen Eures Potenzials. Schaut Euch die Konflikte an und fragt Euch, woher sie kommen. Achtet darauf, wie sie ausgetragen werden. Fragt Euch, aus welcher Zeit die erkannten Muster kommen und setzt sie in Bezug zu Eurer Zeit.

Wer Euch sagt, ihr sollt aufhören zu träumen und ihr müsst etwas leisten, hat seine Träume selbst aufgegeben. Wer Euch sagt, ihr sollt dankbar sein, spricht davon, dass er in erster Linie etwas Gutes für sich und die eigene Seele getan hat. Spricht einer von Enttäuschung, sagt er damit, dass er sich getäuscht hat. Das ist sein Problem, nicht Euer. Euer Leben ist nicht dafür da, seine irrealen Annahmen real werden zu lassen.

Ihr habt die freie Entscheidung, wie ihr das Euch gegebene wertvollste, nämlich Lebenszeit, nutzt. Nutzt sie zum Geldverdienen, das Erlangen von Bestätigungen, beweist anderen das ihr viel besser seit, macht das, was man Euch sagt, befolgt die Regeln, lebt in Angst vor Repressalien, verbringt die Zeit mit Sorgen, in der Gefahr, dass das Befürchtete nicht eintritt, macht die Probleme und das Leben anderer Menschen zu Euren eigenen … oder lebt einfach nach Eurer Façon das eigene Leben.

Wenn derjenige, welcher vor Euch steht und erklärt, wie man es richtig macht, nicht einen seltsamen Schimmer um sich herum hat, unter seinen Füßen Blumen wachsen und allgemein in logische Weisheiten von sich gibt, ist es nicht Buddha und er hat auch nicht die richtige Antwort. Die müsst ihr mühsam alleine suchen.

Und umso aggressiver und aufgeregter einer ist, desto geringer ist seine Gelassenheit und das Wissen über die wirklich wichtigen Dinge im Leben. Eines dieser wichtigen Dinge, ist die Tatsache, dass jeder nur ein Abbild auf der inneren Leinwand des anderen Menschen ist. Ein Abbild welches mittels einer Linse projiziert wird, die aus Emotionen, eigenem Erleben, unzulänglichen Sinnesorganen und Gedankenfehlern eines fehlbaren Gehirns, besteht.

Ich habe gelernt, dass jeder Besuch, jeder Kontakt, jedes Wort, das meine Kinder an mich richten, etwas sehr Wertvolles ist. Denn ein anderer junger erwachsener Mensch hat Lebenszeit für mich veräußert. Diese Zeit nicht wertzuschätzen, sie mit Ratschlägen, falschen Sendungsbewusstsein, Vorwürfen und all den ganzen anderen Kram zu belasten, würde einem Wegwerfen gleich kommen. Das ist alles nicht mehr mein Job. Es stände ihnen jederzeit frei, mich für einen alten grantigen Sack zu halten, der ihnen mehr Energie entzieht, als er gibt. Wer seinen Kindern und Enkeln ständig das Leben erklärt, spricht genau genommen nur über sich selbst und zeichnet ein Selbstporträt.


Unter dem Eindruck des Ereignisses, das ein 24 jähriger junger Mann von einer Palme erschlagen wurde, schrieb ich hier, dass der Tod mein bester Ratgeber ist. Ich musste auch darüber nachdenken, was mir das über mein Verhältnis zu meinen Kindern zu sagen hat. Im schlimmsten Falle müsste ich damit leben, das meine letzten Worte an ihn völlig unsinnig waren. Wäre ich der Mann unter der Palme gewesen, ist das Bild, welches ich kurz zuvor bei meinen Kindern hinterließ, mein Vermächtnis, welches für lange Zeit weitergegeben wird.

Er war ein stets ängstlicher und von Sorgen über seine und die Zukunft der Welt geplagter Mann. Einer, der beseelt von einem Sendungsbewusstsein, allen das Leben erklären wollte. Ein Mann der stets im Wettstreit mit anderen Männern stand. Seine Identität und Selbstbewusstsein weniger mit seiner Existenz, denn über seine Leistungen begründete. Jemand der anderen erst echten Respekt zollt, wenn sie Leistungen erbrachten und im Kampf Siege errungen? Nein, das ist nicht das Abbild, welches ich hinterlassen möchte. Mich würde freuen, wenn sie sich an einen Mann erinnerten, der ihnen zeigte, das Gelassenheit und die Erkenntnis das der Sinn des Lebens in der Existenz des Lebens selbst liegt. Einer, der in geistiger Freiheit lebte und sie deshalb auch anderen zugestand. Ein Mann der verstanden hat, dass sich erst ganz zum Schluss zeigt, was dieses Leben auszeichnete.

In der Grabrede, die man interessanter Weise selbst nicht zu hören bekommt, wird immer der gleiche Mist erzählt. Selbst der übelste Despot, wird nachträglich noch zum umgänglichen Zeitgenossen. Doch jeder der Trauergäste trägt sein eigenes Abbild des Verstorbenen in sich. Wenn überhaupt, habe ich eine geringe Chance, die erwähnte Linse bei meinen Kindern ein wenig mitzugestalten. Ein bedenkenswerter Umstand. Wenn das Schicksal gnädig ist, denken sie 30 Jahre nachdem ich längst zu Staub verfallen bin, alles völlig anders gekommen ist, wie ich es mir ausgemalt habe, an einen Mann, der sich dessen bewusst war. Deshalb bin ich mit meinen Ratschlägen auch sehr vorsichtig geworden. Wenn sie sie in der Vergangenheit alle befolgt hätten, wären sie genau an den Punkten gelandet, an denen ich selbst ankam. Auch das ist bedenkenswert.

Hätten alle Menschen auf Sicherheit gesetzt, auf die Ratschläge ihrer Eltern gehört und sich den bestehenden Verhältnissen angepasst, wäre uns viel entgangen. Von Leonardo da Vinci, Rembrandt, Picasso, Bach, den Beatles bishin zu den großen Denkern der zurückliegenden Epochen, die Französische Revolution, das Zeitalter der Aufklärung, nichts davon hätte stattgefunden. Wer weiß … wie alles kommt.


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Verfasst 22. Januar 2019 von Troelle in category "Allgemein

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