22 Juli 2019

Die Zeiten ändern sich

Lesedauer 6 Minuten

In letzter Zeit verspüre ich ein unangenehmes Gefühl. Vielleicht ist Gefühl nicht treffend. Es handelt sich mehr um eine Beobachtung oder besser einen Geruch, der von Muff und Piefigkeit herrührt. Ich lese davon, dass die Regeln eingehalten werden müssen. Die Freiheitlich Demokratische Grundordnung (FDGO) ist in Gefahr! Die Regeln gelten für alle, und wenn sich einer nicht daran hält, muss er mit alle Härte bestraft werden.
Nun, an die Regeln, jedenfalls an alle, hat sich noch nie jemand konsequent gehalten. Letztlich ist das bei der Flut an Regeln, die in diesem Land existieren, auch nicht möglich. Alkoholisiert Auto fahren ist ein Volkssport, ebenso wie das Schwarzfahren in der U – Bahn. So ziemlich jeder stellt sein Fahrzeug mehrfach in an nicht vorgesehene Plätze, bleibt in zweiter Spur stehen, fährt mit dem Fahrrad über den Bürgersteig, schummelt ein paar Kröten an der Steuer vorbei, ergattert mit einer Barzahlung eine Umgehung der Märchensteuer oder beschäftigt vielleicht unter der Hand eine Putzfrau. Ich weiß nicht, ob es immer noch so ist, aber die größten Schäden im Einzelhandel entstehen durch innerbetrieblichen Diebstahl und nicht durch den Ladendiebstahl. Auch eines dieser Beispiele, wie bigott manche Leute sind. Wie heißt es im Volksmund: Wo kein Kläger ist, da ist auch kein Richter. Die Frage, welche sich stellt, lautet: Will ich in einer Welt leben, in der sich alle an die Regeln halten? Für meinen Teil kann ich klar sagen: Nein!

Regeln werden aufgestellt, um das menschliche Zusammenleben zu organisieren. Kommen Zweifel auf, hat man etwas, woran man sich orientieren kann. Es liegt aber in der Natur des Menschen, dass er sich durchaus ganz gern mal daneben benimmt. Wenn sich alle stoisch an die Regeln halten, wird es unnatürlich und es stinkt. Es stinkt deshalb, weil irgendetwas dazu geführt hat, dass sich die Menschen nicht wie welche benehmen. Entweder sie bespitzeln sich gegenseitig oder werden bespitzelt … kurzum, sie werden überwacht und sie wissen es auch. Das ist in etwa, wie mit einem Kinderzimmer. Wenn man eins betritt, welches klinisch sauber und aufgeräumt ist, stimmt etwas nicht. Ein Kriminalbeamter oder einer vom Jugendamt sollte in solchen Fällen auf die Suche nach Spuren einer Kindesmisshandlung gehen. Oftmals ist es viel wichtiger, sich an den Dingen zu orientieren, die da sein sollten, aber es nicht sind, statt an denen, die man offen präsentiert bekommt.

In Behörden haben Regeln eine spezielle Funktion. Sie sind in Geschäftsanweisungen, Dienstvorschriften u.ä. niedergeschrieben. Da Beamte in Deutschland nicht streiken dürfen, wurde etwas anderes erfunden: Der Dienst nach Vorschrift. Der kommt einem Streik gleich – es geht nämlich gar nichts mehr. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass viele niemals dafür gedacht waren, einen effizienten Dienstablauf zu gewährleisten. Es geht um Schadensabwendung. Immer wenn etwas schief geht, steht darüber mit Sicherheit etwas in einer Anweisung und der Beamte kann damit diszipliniert werden. Ein perfides, aber durchaus funktionierendes System. Auf diese Art kommt man dem bürgerlichen Anspruch, dass es für alles auf dieser Welt im Zweifel einen Schuldigen geben muss, entgegen. Schulterzucken und die Feststellung: Kann passieren! Ist nicht vorgesehen. Das mag auf einer Baustelle funktionieren, aber nicht, wenn der ominöse Staat ins Spiel kommt. Ominös deshalb, weil selbst mein allerliebster politischer Favorit Christian Lindner eine sehr spezielle Sicht vom Staat hat. Für ihn ist er irgendetwas Abstraktes, was dem Bürger, besonders der Bourgeoisie, das Geld aus der Tasche holt.

Ich lernte einst in der Schule, dass Staat die Bezeichnung für die Gesamtheit aller Bürger eines Landes innerhalb seiner Grenzen ist. Somit die Allgemeinheit, die dialektisch dem Individuum gegenübersteht. Nur mal so! Bis zu einem gewissen Grad muss sich das Individuum an die Allgemeinheit anpassen, kann also nicht nur sein eigenes Ding machen oder voranstellen, aber das darf nicht zu weit gehen.

Regeln haben neben positiven Aspekten auch eine negative Begleiterscheinung. Regeln führt zu Regulieren und wir wissen aus der Technik, dass geregelter Strom, als Gleichstrom bezeichnet wird. Gleichheit, Normenkonformität, Reguliertheit, sind der wahr gewordene feuchte Traum eines Bürgers. Die Hecken auf gleicher Höhe, die Häuser nach ähnlicher Bauart, ordentliche saubere Kleidung, die den Gepflogenheiten entsprechen, das reinliche Auto, das zusammenhängende Kaffeeservice für die Gäste am Wochenende, man kennt das. Menschen, die sich bewusst nicht daran halten werden nicht umsonst, als Bürgerschreck bezeichnet.

Im Rechtssystem wird dem entgegengekommen. Es wird zwischen Ordnungswidrigkeiten, Vergehen und Straftaten unterschieden. Bei Ordnungswidrigkeiten können die zuständigen Behörden Ermessen walten lassen, bei den anderen Sachen muss ein Staatsanwalt über das öffentliche Interesse an der Verfolgung eines Sachverhalts entscheiden. Soweit die offizielle Linie. Wir wissen alle, dass hier eine Menge zusammenspielt. Einfluss, Machtposition, der eventuelle Nutzen der Straftat für Leute in Machtpositionen, politische Aspekte, Zeitgeist usw. sind nicht hinwegzudenken. Alles andere ist graue Theorie.

Früher war es bei der Polizei Usus, dass eine Menge aus dem Bauch heraus entschieden wurde. Man nannte dies damals Lebens – und Berufserfahrung. Allgemein wurde dem Schutzmann ein gesundes Gerechtigkeitsempfinden unterstellt, innerhalb dessen er auch mal beide Augen zu drückte, weil er wusste, dass niemand ernsthaft ein Interesse an der Verfolgung des gerade passierten, hatte. Keiner interessierte sich in den 70gern oder 80gern nächtens für einen angetrunkenen Fahrradfahrer auf dem Bürgersteig. Im Gegenteil, man zollte ihm einen gewissen Respekt, weil er vernünftigerweise sein Auto stehen ließ. Eine Kneipenhauerei konnte unter Aufsicht mit einem erzwungenen Handschlag geregelt werden. Wer bei einer Durchsuchung einen einzelnen Joint im Aschenbecher oder bei einer Taschenkontrolle zum Anlass nahm, ein Verfahren einzuleiten, musste sich intern einigen Spott anhören. Gut … nicht in Bayern, da wurde die GSG9 herangeholt. Manch einer, der aufmüpfig wurde, kassierte eine Schelle und die Sache war ausgestanden. Der Vorteil bestand darin, dass keine weiteren Verfahrenskosten entstanden.

2019 ist das alles Geschichte. Fahrraddogmatiker pochen auf ihre Rechte, Polizisten verfolgen nachts Radfahrer, die eventuell etwas getrunken haben könnten, alles weiter oben stehende, wird sofort mit Willkür kommentiert und das Geschrei ist groß. Mich wundert der Gleichmut der Feuerwehrleute. Ich bin noch in einer Zeit herangewachsen, in der es definitiv keine gute Idee gewesen wäre, einen ausgewachsenen Feuerwehrmann zu attackieren. Die haben dicke Handschuhe, Helme und C – Schläuche, die Aua machen. Vieles auf der Straße, wurde schnell und unkompliziert geregelt – wohlgemerkt ohne Ansehen der Person, dass Kriterium hieß schlicht: Daneben benehmen!

Im übrigen galt das auch für alle Gegenstände, die man so in den Taschen einiger Leute vorfand, man aber aufgrund der berühmt, berüchtigten Berufs – und Lebenserfahrung, davon ausgehen konnte, dass der Wirrkopf sie nicht einsetzen würde. Allgemein wurde der verbotene Gegenstand mittels Wegwerfen an geeigneter Stelle (in jedem Kommissariat stand dafür eigens eine große Kiste) entsorgt. Ermittlungsverfahren beschränkten sich auf die Typen, bei denen man befürchten musste, dass sie durchaus etwas damit anstellten.

Schaue ich mich um, lese Nachrichten, scrolle durch meine Timeline bei Twitter, komme ich aus dem Staunen nicht mehr heraus. Sachen, die ich früher als schlicht lächerlich betrachtet hätte und mehr mittels Mobben und Heiterkeit geregelt worden wären, gehen glatt durch. Keiner wäre in vergangenen Zeiten auf die Idee gekommen, sich wegen jedem Unsinn einen Patch auf die Uniform zu nageln. Die Kollegen hätten denjenigen ausgelacht. Aber OK, das entspricht augenscheinlich dem Zeitgeist einer T -Shirt Generation, die in Zeiten, wo das Individuum immer mehr untergeht, wenigstens auf der Brust eine Botschaft vermitteln will. Ein Freund berichtete mir letztens, dass er eine Ordnungswidrigkeit zahlen musste, weil er im menschenleeren Spandau um 03:00 Uhr bei Rot rechts abbog. Nicht alle Polizisten scheinen im Nachtdienst unter Stress zu stehen. Zum Schichtwechsel als sog. Heimatschuss hätte ich es verstanden, aber mitten in der Nacht? Da sie nicht einmal die Rahmennummer prüften, muss ich ihnen auch noch amateurhaftes Verhalten unterstellen. Bei Twitter mokieren sich Personalräte darüber, weil das Team von der Öffentlichkeitsarbeit die Regenbogenflagge hinter den Bären legte. Endlich wird die Polizei diesbezüglich ein wenig lockerer und die fangen an zu stänkern. Ein mehr als seltsamer Sachverhalt. Bei einem Polizisten wird durchsucht und in der hintersten Ecke wird ein vergammelter Schlagring gefunden und alle drehen frei. Machen wir uns nichts vor, mit ein wenig Engagement, lassen sich in diversen Laubenkolonien, alten Garagen, ländlichen Scheunen, Werkzeugschuppen, vom alten DDR Luftdruckgewehr mit exorbitanten Werten, alte Wehrmachtskarabiner, Wehrmachtsdolche, die seit Jahrzehnten Dienste beim Unkrautentfernen leisten, aus der Jugendzeit übrig gebliebene selbstgebastelte Nunchaku (viele wollten Mitte der 70ger mal Bruce Lee spielen) oder aus der Sturm und Drang Zeit stammende halbe Wasserhahnräder finden. In einem anderen Fall, wurde ein armer Kerl, der auf dem Weg zu einer Comic Con war, wegen seiner «Vermummung» als Star Trooper festgenommen. In meinem Bezirk Spandau wurde in den 80gern Stadtteil Gotcha gespielt. Dabei trafen sich Ninja – Krieger auf einem dunklen Parkplatz. An anderer Stelle sammelten sich die «Spiel IRA» und vermummte sich mit Sturmhauben. 2019 undenkbar, wir würden alle zusammen auf dem A21 landen und eine Pressemeldung abgeben.

Fazit: Irgendwie gerät alles aus dem Ruder und die Gesellschaft macht eine Rolle rückwärts. Wobei eigentlich ja nicht. Mir kommt es beinahe vor, als wenn die 50ger, 60ger, 70ger, 80ger in der alten BRDeutschland und vor allem in Berlin – West, deutlich unkomplizierter und lockerer waren, denn die «zugenähten» Zeiten heute. Schade eigentlich … Als ich an der Fachhochschule (87 -89) war, hatten wir einen Dozenten, der von seinen 60gern in Paris erzählte. Er saß in der Metro, schaute verliebt eine Frau an, sie hatten Sex in einem Hotel und trennten sich wieder. Ein anderes Mal kam er aus der Metro, landete in der Demo, bekam eins übergezogen, schüttelte sich und machte weiter. Am Ende seiner Geschichten meinte er: «Sie tun mir leid. In Zeiten von AIDS und dem wieder aufkommenden Bürgertum, werden sie so etwas nicht mehr erleben.» Wenn WIR dem schon leidtaten, was würde er der kommenden Generation sagen? Heute drehen Leute meiner Generation durch, weil einige Schüler auf der Straße demonstrieren und dem Establishment zärtlich auf die Fußspitzen treten. Ein paar Kiffer und Dealer im Görlitzer Park erzeugen quasi Panikattacken. Da habe ich an den Bahnhof – Zoo, den Tiergarten und Adenauer Platz noch ganz andere Erinnerungen. E – Roller? Erinnert sich noch jemand an die Einführung der 80 ccm – Leichtkrafträder Maschinen und dem Führschein ab 16 Jahren? Oder die alten Säcke in den 80gern, die mit ihrem alten Führerschein in der Midlife – Crisis schwere Maschinen fahren durften?

Aber nochmals zu den Demonstrationen. Randale gab es häufiger, jedenfalls im Westen, die anderen mussten bis `89 warten. Manch Anlass war ein wenig fragwürdig und die gegenseitig aufgebrachte Härte, eher überzogen. Zur Zeit geht es tatsächlich mal um die Wurst. Erstmalig steht alles auf dem Spiel – das ist mal was Neues. Mal im Ernst, dafür ist es da draußen ziemlich ruhig.


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Verfasst 22. Juli 2019 von Troelle in category "Uncategorized

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