17 Januar 2020

Abschluss – Urteil uninteressant

Lesedauer 7 Minuten

Nunmehr mit einigem Abstand und viel Arbeit an mir selbst, schreibe ich hier meine abschließende Meinung, Auffassung oder Anschauung, je nach eigenem Verständnis dieser Begriffe, zum tödlichen Verkehrsunfall in Berlin – Mitte/Grunerstr. auf. Am Unfalltag hätte vieles passieren können. Statt der verstorbenen jungen Frau hätten genau so auch die beiden Beamten ihr Leben verlieren können. Eine Einsatzfahrt, die sich rückblickend als sinnlos erwiesen hat, weil mal wieder einer eine Falschmeldung in die Welt setzte. Doch dies konnte der Fahrer nicht wissen. Er musste von einem anderen Geschehen ausgehen. Auch das hätte sich anders entwickeln können. In der Vergangenheit wurden Beamte zu scheinbar harmlosen Ereignissen herbeigerufen und am Ende kostete es einen von ihnen das Leben. So läuft das nun einmal. Das Urteil des Gerichts interessiert mich nicht, weil es für mich und meine Einstellung irrelevant ist. Dies ist nur der vorgesehene juristische Abschluss einer Tragödie.

130 Kilometer in der Stunde erscheinen manch einem zu schnell. Viele die darüber sprechen oder schreiben, haben sich niemals zuvor mit dem Berufsbild eines Einsatzbeamten auseinandergesetzt. In den öffentlichen Diskussionen wird über Demonstrationen, Ermittlungen der Kripo im OK Milieu und Terrorismus gesprochen. Selten macht sich einer die Mühe, den Kopf zu heben und sich das Gesamtgeschehen anzusehen. Die Polizisten, welche sich in den Social Media dazu äußern, würde ich gern fragen, woher sie die eigenen Spitzengeschwindigkeiten kennen. Ich habe noch niemanden erlebt, der während einer alle Konzentration in Anspruch nehmenden Fahrt auf den Tacho schaut. Es läuft auf eine Gefühlssache und Fahrerfahrung hinaus. Observationseinheiten fahren quasi täglich am Limit. Insofern können Mitglieder dieser Einheiten ab und wann auf Geschwindigkeitsmessungen zurückgreifen. «Normale» bunt angemalte Funkstreifen bekommen diese in der Regel nicht zu lesen. Insofern spreche ich ihnen eine zutreffende Selbsteinschätzung ab. Wenn, dann kommt die Geschwindigkeit erst beim Unfall ans Licht. Im Zusammenhang mit allem, was um den Unfall herum geschah, wurde mir einiges bewusst. Bewusst bedeutet, dass ich es klar erkannt habe, während ich es vorher immer ein wenig verdrängte.

Das Bürgertum benötigt die Polizei als Buhmann und die sich als Linke ersehenden Gruppen, brauchen sie als Projektionsfläche bzw, Stellvertreter für den Staat. Dabei entwickeln Letztere eine merkwürdige Egozentrik. Ihnen scheint nicht in den Sinn zu kommen, dass es auch noch Morde, Raubüberfälle, Gangster, Vergewaltigungen, Misshandlungen, Schläger, uvm, gibt. Die Bürger sind auf eine Krücke angewiesen. Sie wollen sich in einer virtuellen Biedermeier Welt mit einer trügerischen Sicherheit bewegen. Wenn es dann doch zu einem Ereignis kommt, welches diese Illusion zerstören könnte, bleibt immer noch der Verweis auf eine Polizei, die versagt hat. Eine infantile Rhetorik. Ich bezahle eine Polizei für die Sicherheit, quasi eine Dienstleistung, und wenn etwas passiert, haben die ihren Job nicht gemacht. Leben funktioniert so nicht, aber das ist dem Bürgertum ziemlich egal. Mich erinnert dies stets an den Film «Die glorreichen Sieben». Dort gibt es eine Szene, in der sich der Anführer der Revolverhelden mit dem Dorfältesten unterhält. Dieser stellt fest, dass die Bauern nicht anders können. Sie haben Angst vor Ernteausfällen, das der Regen ausbleibt, Banditen vorbeikommen, die Revolverhelden die Frauen schänden, eine Seuche unter dem Vieh ausbricht. All dies ist ein Bestandteil ihres Lebens, doch dafür haben sie im Gegensatz zu den herbeigerufenen Outlaws eine Heimat. In einer anderen Einstellung stellt der Anführer fest, dass die Bauern etwas zu gewinnen haben, während er mit seinen Leuten weder gewinnen noch verlieren kann, weil ihr Leben belanglos ist.
Ob nun die Samurai in der japanischen Originalversion oder im amerikanischen Remake, geht es am Ende um die sehr spezielle Lebensart der «Sieben». Dies ist eine Entscheidung, die man bewusst treffen sollte. Will ich das? Oder stelle ich mich auf den Standpunkt, die Bauern, das Bürgertum, die sich selbst ins Abseits stellenden Pseudo – Revolutionäre, dem Schicksal zu überlassen.

Ich kann die Frage auch anders stellen. Was bin ich mir selbst wert? Welchen lebensphilosophischen Ansatz verfolge ich? Den Einzelnen als geringwertiger zu betrachten und die Gemeinschaft inklusive ihrer Belange höher zu bewerten ist der mitteleuropäische Mainstream. Ein Ergebnis diverser philosophischer Betrachtungen im 18. Jahrhundert. Stelle ich hingegen das Individuum in den Vordergrund und setze auf die Einflussnahme jedes Einzelnen auf die Gesamtheit, entferne ich mich von diesem Mainstream. Ich stimme Sartre zu, wenn er von der Freiheit des Individuums spricht, wenn es jederzeit bereit ist, seine Entscheidungen als unabhängig von anderen zu betrachten. Ein Verweis auf ein durch Außenstehende bedingtes Verhalten, stellt im Existenzialismus stets die Aufgabe der Freiheit dar. Sartre formuliert, dass man sich selbst einem Krieg mittels Fahnenflucht oder Suizid entziehen kann.

Meine Entscheidung ist die Abkehr vom Mainstream und die Einnahme einer egoistischen, aber nicht egozentrischen Position. Die Einsatzfahrt diente der Allgemeinheit. Der Fahrer nahm Risiken für sich und andere in Kauf, um ein möglicherweise eintretendes Schadensereignis von der Gesellschaft abzuwehren. Die Risikobewertung erwies sich als unzureichend. Allgemein nennt man dies ein menschliches Versagen. Ein vorsätzliches Handeln kann ausgeschlossen werden. Jeder Mensch unterliegt in einer Gesellschaft dem Risiko, im Zusammenhang mit einer staatlichen (gesamtgesellschaftlichen) Maßnahme ums Leben zu kommen.

Der Vorwurf des Alkoholmissbrauchs erwies sich in letzter Zeit als immer unhaltbarer. Gegen die mutmaßlichen 1,1 Promille spricht nicht zuletzt das von einem unabhängigen Gutachter festgestellte Reaktionsvermögen des Fahrers. Weiterhin passt der Sachverhalt nicht in die gängige Berufs – und Lebenserfahrung. 1,1 Promille lassen sich schwerlich verbergen. Welcher Kollege setzt sich in diesem Zusammenhang auf den Beifahrersitz, statt sich selbst ans Steuer zu setzen? In der Öffentlichkeit wurde bisher nicht die Motivation der den Hinweis gebenden Krankenschwester geklärt, doch mit Sicherheit wird dies Gegenstand der Verhandlung sein. Ich selbst finde den späten Zeitpunkt der Mitteilung verdächtig. Mutmaße ich mal, wie es andere tun, würde ich mich als Ermittler für eine mögliche Verbindung zwischen Krankenschwester und Opfer interessieren. Hinzu kommt, ob es sich um eine unveränderliche Papierakte oder einen EDV Eintrag handelte, der leicht zu ändern ist. Dazu muss man kein Verschwörungstheoretiker sein. Ich erinnere mich an den alten Spruch: «Fahrt mich überall hin, aber nicht ins Universitätsklinikum.» Jeder Kriminalbeamte weiß, wie seltsam sich Ermittlungen gestalten können. Polizisten, die sich dieser Vorverurteilung anschließen, spreche ich persönlich die Professionalität ab. Sie beweisen, dass sie niemals lernten, den Vorgaben einer Ermittlung zu folgen. Hier stellt sich die Frage, ob sie ihren Job sonst ähnlich voreingenommen erledigen.

Herr Roßberg von der BILD führte nicht zu Unrecht die Kritik an, dass sich vielerlei Empörte erheblich zurückhalten, wenn es sich um einen Tatverdächtigen aus anderen Kreisen handelt, aber die Contenance verlieren, wenn die tendenziöse reißerische Pressearbeit jemand aus den eigenen Reihen trifft. Für meinen Teil weise ich die Kritik zurück. Mich stört sie immer und sie widerspricht meiner Denkpraxis.

Bemerkenswert ist die Ausschlachtung des Privatlebens vom Fahrer. Erstens hat es wenig mit dem Unfallhergang zu tun, zweitens dürfte es schwierig sein, von dort aus auf die Qualitäten als Polizist zu schließen. Ohne Frage sind die vorher im Internet veröffentlichten privaten Beiträge des Fahrers und sein Outfit nicht passend zu bürgerlichen Vorstellungen einer Existenz. Ich habe seine BLOG Beiträge in der Zeit zuvor gelesen.
Wenige haben zur Kenntnis genommen, dass er sich wegen tendenziöser Äußerungen anderer Polizisten aus einer geschlossenen Facebook Gruppe verabschiedete. Die «harsche» Kritik und Sprache, welche er in seinem BLOG verwendete, entsprach dem gängigen intern vorherrschenden Ton an der Basis und stellte keine Besonderheit dar. Da habe ich ganz andere Erfahrungen gemacht. Polizisten, die sich nachträglich hiervon distanzieren, erzeugen bei mir lediglich ein böses inneres Lachen. So viel dazu, wenn es auch, wie angeführt, nichts mit dem Unfall zu tun hat. Und bezüglich seines Erscheinungsbildes kann ich nur feststellen, dass ich von seiner Art eine Vielzahl kenne. Mein Ding wäre es nicht, aber die Entscheidung haben andere zu treffen.

Die Einsatzfahrt, der Unfall, die Folgen und die öffentliche Hetzjagd, sollten jeden Polizisten, der mit Sonder- und Wegerechten durch die Stadt fährt, nachdenklich machen. Auf der Anklagebank sitzt nicht ein Einzelner, sondern er hockt dort stellvertretend für viele, die bisher Glück hatten. Spätestens mit dieser Geschichte sollte jedem bewusst sein, was ihn oder sie erwartet. Ich erlebte dies in ähnlicher Form schon einige Male. Sei es der tödliche Unfall auf der A2 im Rahmen einer Observation oder andere schwerwiegende Ereignisse dieser Art, bei denen die Fahrer mutteseelenallein auf der Anklagebank saßen. Ich erörterte dies vor kurzer Zeit mit einem ehemaligen Kollegen beim Mobilen Einsatzkommando. «Trölle, Du weißt, das ist der Job. Wer nicht bereit ist die Risiken einzugehen, muss gar nicht erst einsteigen und sollte sich einen Schreibtisch im Trockenen suchen. Wenn’s knallt, bist Du alleine.» Ob sich dessen immer jeder bewusst ist, weiß ich nicht. Jedenfalls wurde mir in einem persönlichen Gespräch mit dem Unfallfahrer gegenwärtig, wie knapp all die Jahre der Kelch an mir vorbeigegangen ist und wie viel Glück ich habe, dass ich mir das nicht auf mein Leben lasten musste.

Und auch dieses ist ein wichtiger lebensphilosophischer Aspekt. Ob es dem Pöbel gefällt oder nicht. Es gibt für die Überlebenden ein Leben danach. Als menschliche Wesen haben sie das Recht, darin eine Erfüllung zu suchen und nicht wegen eines tödlichen Unfalls, der in Ausübung des Dienstes geschah, ab dem dahinzuvegetieren. Ich weigere mich, den Fahrer als einen Täter zu sehen. Er hat seinen Job gemacht. Ob man zu schnell ist oder nicht, weiß man immer danach. Es soll auch schon ein zu langsam gegeben haben. Die Lebensälteren weisen gern darauf hin, dass mit einem nicht angekommenen Wagen auch niemand geholfen ist. Ja, der Grad zwischen Professionalität und jugendlichen Jagdtrieb ist schmal, doch immer auf dem Willen das Richtige zu tun, basierend.
Der Beruf des Polizisten birgt nun einmal die Risiken eines tödlichen oder wenigstens schweren Unfalls. Ebenso kann ein Schuss niemals ausgeschlossen werden. Will man diese Risiken eingehen, wenn man danach regelmäßig geächtet wird und sich am Besten am nächsten Baum aufhängt? Für mich kann ich das ausschließen, und schon gar nicht bin ich bereit für eine derartige Gesellschaft den Kopf hinzuhalten.

Überhaupt komme ich mehr zur Auffassung, dass man sich aus einigen Sachen einfach heraushalten sollte. Warum Hooligans von ihren Schlägereien abhalten? Ich würde sie bei der ersten Feststellung aus der gesetzlichen Krankenkasse entlassen. Für ihre Verletzungen können sie gefälligst alleine Sorgen. Rocker und Araber als Türsteher? Sie reden doch immer alle vom freien Markt. Es ist doch jedem selbst überlassen, ob er einen Club besucht, der von diesen Vögeln geschützt wird. Randalierende Demonstranten? Immer machen lassen! Damit umgeht man diese leidige Diskussion über die Provokation durch die Polizei und zu Gewalt seitens Vollzugsbeamter kann es auch nicht kommen. Die Anwohner können die Dankschreiben an die «Mahner» richten. Einsatzfahrten zu Überfällen mit Sonder – und Wegerechten? Dann ist man halt zweiter Sieger und die Täter müssen im Nachgang ermittelt werden. Vielleicht haben die neoliberalen Strategen Recht. Einen großen Teil der Sicherheitsaufgaben einfach privatisieren. Was soll die ganze Diskussion? Ich würde mir gern mal ansehen, wie weit die ganzen Strategen mit ihren Konzepten kommen.

Ich bin weder ein Freund noch der Anwalt des Unfallfahrers. Ich habe lediglich realisiert, dass unser Leben Überschneidungen aufweist. Er hatte Pech und ich hatte das notwendige Glück rechtzeitig die Reißleine gezogen zu haben. Was ich von ihm weiß, reicht aus um zu wissen, dass meine Risikobereitschaft über Jahre hinweg über seine hinaus ging. Zu meinen Gunsten ist das Leben nicht gerecht.


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Verfasst 17. Januar 2020 von Troelle in category "Uncategorized

2 COMMENTS :

  1. By bmrberlin on

    Für mich der wichtigste Teil des Artikels ist: ” Wenn’s knallt, bist Du alleine!” Das gilt nicht nur für Polizisten, sondern für Jeden. Meine Impulskontrolle hat mich bisher vor einer solchen Situation bewahrt. Ich hoffe, das bleibt auch in Zukunft so.

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