Pazifismus

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„Der klügste Krieger ist der, der niemals kämpfen muss.“
Chinesischer General, vermutl. 543 v. Chr. - 495 v. Chr.

Eine Weltanschauung, wie der Pazifismus, hat derzeit keinen leichten Stand. Da hilft es es auch nicht, wenn die Christen zu Ostern die Auferstehung eines Heilands oder den Sohn Gottes feiern. Wobei sich in den letzten Tagen wieder einmal zeigte, wie wenig Christen ihre eigene Religion verstehen. Sich Gott als eine Figur vorzustellen, daraus einen Mann, einen Vater zu machen, am besten noch als einen alten Mann mit weißen Haaren und dann darüber auch noch eine Gender-Diskussion anzustreben, ist freundlich ausgedrückt ziemlich simpel. Auf diese Art brachte man damals seitens der katholischen Kirche dem einfachen Volk die christliche Weltanschauung bei. Gott ist abstrakt, ein Neutrum und Sohn bedeutet im eigentlichen Sinne, dass sich das Abstrakte in Menschengestalt manifestierte. Michelangelo war ein Genie, aber bei den Bildern im Kopf, auch Kind seiner Zeit. Dieser Exkurs nur am Rande zur Darstellung, wo sich Teile der Gesellschaft derzeit befinden.

Das dialektische Gegenteil oder auch Antonym des Pazifismus ist der Bellizismus. Einmal die Ablehnung des Krieges und auf der anderen Seite die Befürwortung. Die vollkommene Ablehnung von Gewalt, auch in einer Notwehr – oder Nothilfesituation, ist eine Spielart des Pazifismus. Wie immer, wenn Gedankengänge unter einem einzigen Begriff zusammengefasst werden, wird es unscharf. Also worum geht es denn eigentlich?
Seit tausenden von Jahren machen sich Menschen Gedanken über Krieg und Gewalt. Lao Tze soll beispielsweise gesagt haben: “Ich kann nicht viel voraussagen, aber wer die Gewalt bevorzugt, wird eines gewalttätigen Todes sterben.” Ich bleibe an der Stelle die Quelle schuldig. Es steht irgendwo im “Tao des Lebens”. Er und diverse andere, inklusive Buddha und Konfuzius, wiesen stets auf die Wechselwirkung hin. Bin ich gewalttätig, löse ich weitere Gewalt aus. Das ist logisch nachvollziehbar und bedeutet in der Konsequenz, dass ich für den Fall, dass ich keine Gewalt haben will, selbst keine ausüben darf. In einem idealen theoretischen Gedankenmodell, endet die Gewalt, wenn sich alle daran halten. Nicht mehr oder weniger besagt der Pazifismus. Fraglich ist, wie ich mich verhalte, wenn ich angegriffen werde, also ein anderer die Wechselwirkung nicht berücksichtigt. Selbst Sun Zi, der General und Schöpfer des Werks “Die Kunst des Krieges” hatte einen gesunden Respekt davor. Doch er sah auch die Notwendigkeit, unter Umständen in den Krieg zu ziehen.

Folge ich der Logik, erfolgt durch die Wechselwirkung weitere Gewalt. Nehme ich mir einen gedanklichen Nullpunkt, startet die Gewalt also nicht mit dem Pazifismus, sondern mit dem Bellizismus. Es ist ein sich verzweigendes Ablaufdiagramm, bei dem an der obersten Position zwei Entscheidungen möglich sind. Entscheide ich mich zusammen mit allen anderen für den Pazifismus, endet damit auch schon alles und jeder lebt in Frieden. Der Bellizismus wird sich über eine lange Strecke nach unten weiter verzweigen. Demnach kann der Pazifismus bis hierin für friedliebende Menschen die einzig richtige Entscheidung sein. Aber verpflichtet mich diese Haltung zum Verzicht auf eine Gegenwehr?

In jeder Religion stößt man dabei schnell auf Widersprüche. Zum Beispiel ist für Buddhisten das jetzt geführte Leben lediglich eine Art Episode, somit eine flüchtige Begebenheit innerhalb eines größeren Zusammenhangs, innerhalb derer, wie auch in allen anderen vorhergehenden und noch kommenden, das Karma geformt wird. Solange, bis man es salopp gesagt: Endlich verstanden hat! Jeder kennt die sagenhaften Kampfkünste der Shaolin. Alles was sie tun ist auf Verteidigung ausgerichtet. Sie haben nicht die Ursache gesetzt, aber sind durchaus in der Lage sich zu verteidigen. Doch wäre es nicht konsequent für das eigene Karma auf eine Gewaltanwendung, zu verzichten, um dann in der nächsten “Episode” auf einem neuen höheren Level, weiterzumachen?
Im christlichen Glauben sieht es nicht viel anders aus. Einerseits soll man nicht töten und im Zweifel die andere Wange hinhalten, andererseits ist die Rede von Auge um Auge, Zahn um Zahn. Im alten Testament ist eine Menge legitime Gewalt geschildert. Hauptsache, Gott hatte sie irgendjemand befohlen. Dann ging es immer richtig zur Sache. An sich eine schlüssige Konzeption. Was man auch bei ein paar tausend Jahren Entwicklungszeit erwarten darf. Töte ich konsequent alle, die sich nicht an die Vorgabe Pazifismus halten, setze ich alles wieder auf Null. Sollte ich es als Laie in Sachen Christentum richtig verstanden haben, läuft es in der Bibel darauf immer hinaus. Beim Propheten Hesekiel spricht Gott von all dem Gräuel und fordert, dass alle, die damit ein Problem haben, gekennzeichnet werden sollen und alle ohne Zeichen im Nachgang erwürgt werden müssen. Warum nicht alles belassen, wie es ist und den Job Satan in der Hölle überlassen. Ja, ich weiß, die Hölle ist eine recht späte Erfindung des Christentums und der Teufel, Luzifer, der gefallene Engel, noch später. Wie einfach hatten es da doch die Wikinger? Ein ordentlicher Tod im Kampf war eine gute Sache. Die Griechen setzten auf die Nachkommen. Bei der Erzählung über die Irrfahrten des Odysseus tröstet Achilles den Helden in der Unterwelt mit dem Hinweis, dass die Lebenden respektvoll über ihn sprechen. All dies scheinen mir Ideen von Typen zu sein, die irgendwie den Krieg, den keiner wirklich wollte, schmackhaft zu machen. Da fand ich die Episode bei Sketch History, in der Alexander der Große versucht seine Armee zu motivieren, während die nicht so richtig wollen, ziemlich amüsant. Machen wir uns nichts vor, wenn um Dich herum die ersten Leichen verwesen, Leute mit heraushängenden Gedärmen unter Stöhnen verrecken, gehen Achilles die Argumente aus.

Ich habe mir zu diesen Ungereimtheiten meine eigene These zu Recht gelegt. Buddha soll zu seinen Schülern gesagt haben, dass sie die Letzten wären, welche seine tatsächlichen Worte zu hören bekommen. Später werden sie aufgeschrieben werden und jeder fügt seine Interpretation hinzu oder ergänzt im eigenen Sinne. Selbst wenn er es nicht gesagt haben sollte, hat der Urheber dieser Worte Wahres gesprochen. Immer, wenn etwas nicht mit der Grundidee zusammen passen will, besteht der Verdacht einer nachträglichen Änderung. Selbst Buddha, der Lehrer, war nicht frei von Zwängen. In einem hinduistisch geprägten Gesellschaftsgefüge radikal alles auf den Kopf zu stellen, wäre äußerst unklug gewesen. Seine Botschaften wären in Empörung untergegangen.

Die Nummer mit dem Sterben, vor allem im Krieg, und den Religionen ist ohnehin eine eher zweifelhafte Angelegenheit. Wenn es mir zu Lebzeiten dreckig geht, alldieweil sich eine wenige ein gutes Leben gönnen und dafür über Leichen gehen, wird mir unterdessen eine bessere Zukunft im Jenseits vorausgesagt, während der sündige “Brutalinski” oder “Despot”, nach seinem Tod in der Hölle schmort, riecht verdächtig nach einer Konstruktion, die von Typen erfunden wurde, welche zu Lebzeiten unbehelligt andere ausbeuten wollten. Im Ursprung nachvollziehbar. Wenn ich als Sklave (Hebräer/Ägypten) geboren werde, brauche ich irgendetwas, woran ich mich hochziehen kann. Später kam dies einigen sehr entgegen (Absolutismus/Katholische Kirche).
Der Buddhismus erscheint einem auch erstmal ziemlich suspekt. Nichts zu besitzen, soll besser sein als Reichtum? Klingt erst einmal nach Christian Lindner & Friends, weil sie damit dem unvermögenden Pöbel die Lebenssituation attraktiv machen wollen, während sie sich mit kreativen Wirtschaftsmodellen bedienen. Wenn man etwas tiefer einsteigt, wird es logisch. An vergänglichen Dingen festzuhalten und das Leben an ihnen auszurichten, führt zwingend zu einer Frustration (Leid), die spätestens mit der konkreten Erkenntnis, dass das letzte Hemd keine Taschen hat, eintritt.
Hinzu kommt, dass viele Kulturen in Abwandlungen die Weisheit “Wer Wind sät, wird Sturm ernten!”, kennen. In Asien heißt es: “Wer einen Mangobaum pflanzt, darf keine Bananenstauden erwarten.”

Der Übeltäter mag ja glücklich sein, solange er nicht erntet, was er gesät hat, aber sobald es ans Ernten geht, übermannt ihn der Kummer. Der Gute mag ja leiden, solange er nicht erntet, was er gesät hat, aber sobald es ans Ernten geht, übermannt ihn die Freude.
buddha mudra mara
Siddhartha Gautama, Buddha
Aus dem Dhammapada

Voreilig auf Pazifisten zu schimpfen ist demnach ein unüberlegter Schnellschuss aus der Hüfte. Spirituell wird es zu einer ziemlich komplizierten Angelegenheit. Zu welcher Überzeugung kommt man? Einen feuchten Dreck darauf, wenn mich jemand tötet? Wir werden sehen, was danach passiert? Hat jemand mit einer spirituellen Einstellung, jenseits der Griechen, Römer, Wikinger u.a., auf das richtige Pferd gesetzt, ist Putin sozusagen richtig am Arsch. Entweder hat er in der nächsten Episode innerhalb des Universums eine richtig miese Zeit oder in der Vorstellung eines Hieronymus Bosch, eine sehr lange BDSM-Nummer vor sich, die ihm wenig Spaß bereiten wird.

Im  Krieg zu sterben, gewalttätig, vor Ablauf der natürlichen/schicksalhaften Ablaufzeit, kommt immer mit der Erklärung eines Sinns daher. Auch eins dieser Wörter, mit denen ich ein wenig hadere. Im Besonderen gilt dies für den Sinn des Lebens. Wer soll darüber bestimmen, was einen Sinn stiftet und was nicht? Und wird meine Existenz sinnlos, wenn ich mit meinem Leben nicht den Vorgaben entspreche? Ein wenig griffiger ist der Zweck. So oder so müssen Kriege seitens desjenigen, welcher in den Krieg ziehen will, begründet werden. Man stirbt für die Freiheit, um einen oder eine Wahn|sinnige zu stoppen, einen Irr|sinn zu beenden oder das eigene Volk gegenüber einem anderen Volk zu verteidigen (anders: eine Gemeinschaft von x-Mitgliedern der Spezies Homo sapiens gegen eine andere Gemeinschaft von x-Mitgliedern derselben Spezies). Ganz abstrakt wird es, wenn das Vaterland und Schutz desselben herangezogen wird. Ein Gedankenkonstrukt, welches meiner Auffassung nach, vollkommen daneben ist. Es stammt noch aus der Zeit, in der der besetzte Boden die Einnahmequelle für Klerus und Adelige war. Ob nun durch Zufall oder eine Fügung des Universums in Verbindung mit angenommen inneren Regeln, habe ich mir die Geburt an einer konkreten Stelle des Planeten Erde nicht ausgesucht. Erweitert gesehen, gilt dies auch für den Planeten.

Der Erste, der ein Stück Land mit einem Zaun umgab und auf den Gedanken kam zu sagen: "Das gehört mir" und der Leute fand, die einfältig genug waren, ihm zu glauben, war der eigentliche Begründer der bürgerlichen Gesellschaft. Wie viele Verbrechen, Morde, Kriege, wie viel Elend und Schrecken wäre dem Menschengeschlecht erspart geblieben, wenn jemand seine Pfähle ausgerissen und seinen Mitmenschen zugerufen hätte: "Hütet Euch, dem Betrüger Glauben zu schenken; ihr seid verloren, wenn ihr vergesst, dass zwar die Früchte allen, aber die Erde niemanden gehört."

Jean-Jaques Rousseau, * 26.6.1772 in Genf; † 2.7.1778
französischsprachiger Schriftsteller, Philosoph, Pädagoge, Naturforscher

Rousseau gilt als einer der wichtigsten Wegbereiter der Französischen Revolution. Heutzutage würden sie ihn als Linksextremisten einordnen. Die “Heilige Schrift” des Kapitalismus, Der Wohlstand der Nationen – Eine Untersuchung seiner Natur und seiner Ursachen, wurde noch zu Lebzeiten Rousseaus von Adam Smith 1776 veröffentlicht. Es ist interessant, wie weit einige am Vorabend der Revolution waren und wem am Ende zugestimmt wurde.

Was scheren mich die Interessen eines Kaisers, Königs, Diktators oder des Managers eines Konzerns? Nehmen wir an, dass der Ukraine-Krieg sich ausweitet und der Dritte Weltkrieg ausbricht, wofür sollte ich kämpfen? Für die Freiheit? Werde ich getötet, hat sich das Thema für mich ultimativ erledigt. Für die Freiheit der anderen? Erstens, was hab ich damit zu tun und zweitens, haben große Teile ohnehin merkwürdige Vorstellungen von Freiheit. Für die Freiheit meiner Nachkommen? OK, da ist eine Klippe. Fraglich ist, ob mein Kampf wirklich zu Freiheit führt oder einfach nur einigen anderen, die auch nichts davon halten, Vorteile verschaffen.

Der Krieg, derzeit noch in der Ukraine, bringt existenzielle Fragen mit sich. Wir schauen auf einen Diktator mit imperialistischen Ideen. Ein Thema, das nie vom Tisch war. Nicht nur Putin trauert einem Imperium nach. Konservative Briten sind traurig, die Franzosen ebenso, mongolische Rockbands sinnieren in Texten darüber, was eigentlich schiefgelaufen ist, Chinesen aus der politischen Führung hätten gern ihr altes Reich in Gänze zurück, die USA, ehemals selbst Kolonie, würden gern, wenn es nach den Republikanern geht, ihren Großmacht-Status behalten, die Türken, insofern sie Anhänger von Erdogan sind, trauern ebenfalls, und bei einigen Deutschen bin ich mir nicht sicher. Zumindest bin ich mir nicht klar darüber, ob es eine gute Idee anderer europäischer Staaten ist, von Deutschland eine Führungsrolle einzufordern. Von der grundlegenden Mentalität her können wir das. Allein schon sprachlich und via Sprachmelodie (Schwaben ausgenommen) sind wir militärisch klar im Vorteil. In keiner anderen europäischen Sprache klingen Befehle so überzeugend, wie auf Deutsch. Aber gleichzeitig ist Deutsch eine sehr präzise Sprache. Was einem bei Befehlen entgegenkommt. Paradox ist dabei, dass sie damit auch der Philosophie zuträglich ist.

Imperialismus ist aktuell eine durchaus nachvollziehbare Idee. Die Ressourcen werden knapp, der Hunger nach Energie steigt ins Unermessliche und um innerhalb der sich abzeichnenden Klimakatastrophe überlebensfähig zu bleiben, braucht es Technologie, Rohstoffe, Energie und profane Landgebiete, die entweder ausgebeutet werden können oder sichere Transportwege für kostbare Güter gewährleisten. Die Alternative wäre eine sich einig werdende Weltgemeinschaft. Ich nehme an, den Glauben haben nahezu alle aufgegeben. Allerdings muss ich für mich sagen, dass ich hierfür tatsächlich zur Waffe greifen würde. Für das, was sich aktuell abzeichnet, eher nicht.

Ferndiagnosen funktionieren in der Regel nicht. Aber man kann es trotzdem versuchen. Zumindest ist es nicht verboten. Putin ist ein Mensch mit einem Großhirn. Also, was geht da vor? Pazifist ist er schon einmal nicht. Die Antwort hat er gegeben. Ich denke, er glaubt an eine globale Lösung so wenig wie ich. Ich gehe davon aus, weil er ein intelligenter Mann ist, gibt er nichts auf diese ganzen Klimaleugner. Ist er ein spiritueller Typ? Glaube ich persönlich nicht. Eher sieht er Religionen, spirituelle Betrachtungen als etwas für Leute an, die sich nicht der Lebensrealität stellen wollen. Ich denke, er gibt auch nicht sonderlich viel auf das Leben anderer Menschen. Jeder, der sich zur verfügbaren Masse machen lässt, ist in seinen Augen selbst schuld. Jetzt in diesem Moment habe ich ihn gerade als nackten Mann, ohne all den ganzen Mist, den man ihm unvorsichtig in die Hand gab, vor Augen. Denn das ist Krieg. “Arschloch, Du willst mich umbringen? Zeig mal, was Du drauf hast!” Das ist die Dschungel-Lage! Versuch ich Kontakt aufzunehmen? Werden wir uns irgendwie einig? Oder geht es wirklich nur ums gegenseitige Töten?

Menschen ist in solchen Momenten seit Urzeiten eine Menge durch den Kopf gegangen. Was ist die beste Strategie? Lange, hat bestimmt funktioniert: “Alter, ich will auch nur leben!” An der Front in der Ukraine passiert dies mit Sicherheit auch. Aber nicht bei einem Biden, einem Putin oder einem Xi Ping. Die leben in einer anderen Welt, die ihnen das Großhirn suggeriert. Jeder Schritt nach weiter oben bedeutet mehr Abstand vom anfassbaren Leben. Blut hat einen Geruch, Leben, was aus den Augen weicht, kann man sehen, Schreie kann man nicht ignorieren, den vorwurfsvollen Blick, der bedeutet, was machst Du mit mir, wird man nie wieder los. Es sei denn, man hat zugelassen, dass ein paar Aspekte, die den Menschen ausmachen, abgeschaltet wurden. Aber dann sei die Frage erlaubt, ob man dann noch die Bezeichnung “Mensch” verdient?

Ich persönlich bin dem Bundeskanzler, den ich nicht gewählt habe, für seine als zögerlich betrachtete Haltung dankbar. Eskaliert alles in einen konventionellen Krieg, was nicht realistisch ist, würde er nicht darin kämpfen. Kommt es zu einem nuklearen Krieg, stirbt er ein paar Monate nach dem gemeinen Volk. Steht einem ein Homo sapiens gegenüber, der das Großhirn nicht übermäßig nutzt, ist grundsätzlich der erste Schlag eine gute Idee. Trage ich die Verantwortung für ein ganzes Volk, sollte ich einen Gedanken mehr verschwenden. Denn dann gehen eine Menge Menschen in den Tod, die ich nicht einmal kenne. Putin hat sich von den Möglichkeiten des Homo sapiens verabschiedet. Er wird seine Gründe haben. Spirituell muss ich mir von ihm nicht aufs Auge drücken lassen, wo ich stehe. Dies gilt auch für die Ethik. Hätte ich die Möglichkeit, Gelegenheit und eine 9 mm zur Hand, gäbe es für mich auf seine Person bezogen kein Problem. Aber was kann Andrej, 25 Jahre, russischer Bürger, dafür?

In den letzten Tagen melden sich vehement diejenigen zu Wort, die es angeblich schon immer besser wussten. Putin wäre schon immer ein Potentat, Diktator, Despot, mit imperialistischen Zielen gewesen, und die “Dummen” hätten dies nur nicht erkannt. Es sei ein Fehler gewesen, mit ihm Verträge im Sinne der von Kanzler Schmidt geprägten Worte an Jimmy Carter:  “Wer miteinander Handel treibt, schießt nicht aufeinander!”, einzugehen. Rückblickend sei bereits die Ost-Politik von Kanzler Willy Brandt ein Schritt in die falsche Richtung gewesen.
Allen, die da so reden, unterläuft ein Gedankenfehler. Zu jeder Entscheidung gibt es sogenannte alternative Pfade. [1]Rolf Dobelli, Die Kunst des klaren Denkens, 52 Denkfehler, die Sie besser anderen überlassen, dtv-Verlag, 2014, S.57, der Rückschaufehler, engl. hindsight bias Niemand kann auch nur ansatzweise mit Sicherheit sagen, wohin andere Entscheidungen geführt hätten bzw. wohin die alternativen Pfade geführt hätten. Die Kritiker setzen sich rückwärtig in die Position eines perfekten Prognostikers oder Propheten. Die damaligen Entscheidungen waren getragen von der Hoffnung, dass sie Gutes bewirken und schlechte Verläufe, wie einen erneuten Krieg, verhindern. Keiner kann sagen, ob andere Optionen nicht bereits vor 20 Jahren in einem Weltkrieg gemündet wären. Unter Umständen hätte es keine Wiedervereinigung gegeben? Oder die Wirtschaft hätte sich vollkommen anderes entwickelt. Die einzige existente Realität findet jetzt in diesem Moment statt. Selbstredend gilt dies für ebenfalls für die NATO-OST Erweiterung und die damit in Verbindung stehenden Verträge. 

Aus guten Gründen lassen sich Zukunftsforscher und ganz nebenbei auch gute Einsatzleiter nicht auf Prognosen ein, sondern Szenarien, in denen die wahrscheinlichsten Ergebnisse aufgestellt werden. Für den Ukraine-Krieg habe ich dazu auf der Seite des stark von der Spieltheorie geprägten Zukunftsinstituts 8 mögliche Szenarien gefunden. [2] Future War: 8 Szenarios über den Ausgang eines unvorhersehbaren Krieges, https://www.zukunftsinstitut.de/artikel/szenarien-ukraine-krieg-matthias-horx/ , . Interessant ist dabei, dass im Netzwerk des Instituts Prof. Christian Riek mitwirkt, dessen YouTube-Channel “Spieltheorie” ich in meiner Link-Liste habe. [3]https://www.youtube.com/channel/UCSExr_QUT6h-4sGW5hGjrCA Vor dem Ukraine-Krieg kam er zum Ergebnis, dass Putin den Krieg nicht führen wird, weil der Krieg ein “dummer” Spielzug ist. Allerdings wurde er damit nicht zum Scharlatan, da er immer wieder betont keine Prognosen zu erstellen, sondern Szenarien analysiert.

Im März analysierte er die öffentlich übelst bepöbelte Aussage des Philosophen Precht, in der er die Aufgabe der Ukraine als eine Option darstellte. Es ist und bleibt ein denkbares Szenario. Aber rational ist es nur bei zwei Annahmen zu favorisieren. 1. Russland gewinnt auf kurz oder lang den Krieg. 2. Bei einer Kapitulation lässt Putin die Bevölkerung in Ruhe. Im Falle eines sich anschließenden Terrorregimes (wovon ich persönlich ausgehe), scheidet die Kapitulation aus.

In die Kategorie Denkfehler fällt für mich auch die Aussage, dass “Schwere Waffen” zu einer Provokation führen, die Putin zum Anlass für einen Atomschlag nehmen könnte. Nicht seine Gegner bestimmen, was eine Provokation ist, sondern er ganz alleine. Fraglich ist, wie er sie anderen in seinem Umfeld überzeugend verkauft. Ob ein Justizminister Buschmann, FDP nach rechtlicher Prüfung meint, dass die Lieferung der Waffen völkerrechtlich gedeckt ist oder nicht, geht einem Putin am bekannten Allerwertesten vorbei. Wie seine Haltung zu Völkerrecht ist, hat er brachial bewiesen. Zumindest ist zu Bedenken, dass die Lieferung als ein möglicher Anlass geeignet ist. Allerdings kann genauso gut angenommen werden, dass Putins Masterplan ohnehin die Eskalation in einen Atomkrieg ist oder blufft. Wir wissen es nicht.

Das Gebaren einiger Politiker finde ich nicht sonderlich hilfreich. Die Situation ist kein Brettspiel zur Unterhaltung gelangweilter Vorstädter in Einfamilienhäusern. Überall läuft alles auf Hochtouren. Die Nachrichtendienste, ihre Berichterstatter, Analysten, arbeiten Rund-um-Uhr. Ein Heer von hoch qualifizierten Beratern aus den militärischen Bereichen, den Think-Tanks, erarbeiten verschiedene Szenarien und versuchen zu ermitteln, wie man hierauf am erfolgreichsten reagieren kann. Wer glaubt, dass ein Kanzler oder andere Regierungsführer einsam und alleine ihre Ideen umsetzen, ist naiv. Dem normalen Volk sei dies zugestanden, aber nicht Politikern und schon gar nicht, die Manipulation für irgendwelche Machtspielchen. Keiner von den Gegnern Putins ruft ihn einfach mal an und reist ohne Absprachen nach Russland. Gleichsam trifft Deutschland die Entscheidung über die schweren Waffen nicht ohne Absprache mit den NATO-Partnern. Was wäre, wenn die für den Fall eines Übergriffs auf andere Staaten in den Vorhalt genommen werden? Jeder, der mal in einem Führungsgeschehen involviert war, weiß um die Rollenverteilungen. Eine pöbelt, ein anderer macht auf verbindlich, die nächste gibt die Verständnisvolle, alles orchestriert für ein gemeinsames Ziel. Wenn Scholz weniger Präsenz zeigt, wird dies Gründe haben.

Ich habe bei Putin einen Eindruck, der den Pazifismus gegenstandslos werden lässt. In meinen Augen ist er kein politisch denkender Mann, sondern mich erinnert er an einen Schwerkriminellen. Was wäre zum Beispiel, wenn er tatsächlich Anschläge initiierte, bei denen russische Bürger starben und die dann den Tschetschenen untergeschoben wurden? Was, wenn die Welt es bei Putin mit einem Psychopathen zu tun hat, der keinerlei Skrupel, Hemmungen oder irgendetwas in dieser Richtung empfindet? Da bleibt jedem von uns nur noch die spirituelle Sicht und die sich daraus ergebende Frage: Was lade ich auf mich, wenn ich töte?
Einem Politiker kann man mit Geld, Staatsbankrott, die Aussicht auf die Vernichtung des eigenen Volkes kommen. Doch was war z.B. mit Adolf Hitler? Der war vom Volk enttäuscht und kam zum Ergebnis, dass es dann auch keine Überlebensberechtigung hat. Es sind keine einfachen Zeiten angebrochen. Am Ende bleibt dem “normalen” Menschen nur das hilflose Zusehen und darauf zu hoffen, dass nicht das 8te Szenario [4]Das Ende der Welt oder: Das UnvorstellbareEin lang anhaltender Mehrfrontenkrieg bricht aus, der sich atomar hochschaukelt.Große Teile des eurasischen Kontinents und Amerikas werden … Continue reading eintritt.
Zumindest sollte man dies berücksichtigen.

Quellen/Fußnoten

Quellen/Fußnoten
1 Rolf Dobelli, Die Kunst des klaren Denkens, 52 Denkfehler, die Sie besser anderen überlassen, dtv-Verlag, 2014, S.57, der Rückschaufehler, engl. hindsight bias
2 Future War: 8 Szenarios über den Ausgang eines unvorhersehbaren Krieges, https://www.zukunftsinstitut.de/artikel/szenarien-ukraine-krieg-matthias-horx/ ,
3 https://www.youtube.com/channel/UCSExr_QUT6h-4sGW5hGjrCA
4 Das Ende der Welt oder: Das Unvorstellbare
Ein lang anhaltender Mehrfrontenkrieg bricht aus, der sich atomar hochschaukelt.
Große Teile des eurasischen Kontinents und Amerikas werden verwüstet,
200 Millionen Menschen sterben sofort, weitere 300 Millionen an Hunger
und den Folgeschäden. Trotzdem stirbt die Menschheit nicht aus, Afrika
und Südamerika, China sowie die pazifischen Räume sind weitgehend
verschont geblieben. Im Jahr 2035 eröffnet Elon Musk die erste Aussiedler-Stadt auf dem Mars mit dem Namen Newkrainehttps://www.zukunftsinstitut.de/artikel/szenarien-ukraine-krieg-matthias-horx/ , abgerufen am 19.4.2022, 23:00 Uhr

Polizeistudien

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Polizeistudien

Kürzlich schrieb eine Twitter-Userin, ob es denn von denen, die Studien ablehnen, eine rationale nachvollziehbare Begründung -außer Generalverdacht- gäbe. Ich versuche mich mal im Folgenden damit auseinanderzusetzen.
Trölle

Vornehmlich bei Twitter wird seit etwa vier Jahren eine erbitterte Debatte geführt. Dabei geht es um die Zulassung bzw. Durchführung von “wissenschaftlichen” Studien zu den Themen Rassismus, Rechtsradikale Umtriebe innerhalb der Polizeien und Polizeigewalt. Selten wird dabei konkretisiert, um welche Polizei es genau gehen soll. Wenn schon, müsste man sich alle Sicherheits- und Justizbehörden vornehmen. Also die Länderpolizeibehörden, die Bundespolizei, das Bundeskriminalamt, den Zoll, Bundesnachrichtendienst, den Bundesverfassungsschutz, die Landesämter für Verfassungsschutz, die übergeordneten Staatsanwaltschaften und die Innenministerien. Seitens einiger Kritiker steht die Behauptung im Raum, dass die bisher betrauten Institutionen ihren Aufgaben nicht nachgekommen sind bzw. wird unterstellt, dass mit der Freiheitlich Demokratischen Grundordnung nicht im Einklang stehendes Verhalten geduldet, gedeckelt oder vertuscht wurde.

Letztlich blickt man bei dem Thema auf ein Netzwerk. Gäbe es zum Beispiel tatsächlich signifikante und systemgefährdende rechtsradikale Strukturen, fiele dies zum Beispiel u.a. in den Aufgabenbereich der Verfassungsämter. Allerdings auch in den Zuständigkeitsbereich des Polizeilichen Staatsschutzes und wenn es Bundesländer übergreifende Netze sind, auch das BKA, bestehen gar internationale Auswirkungen, wäre sogar der BND involviert. Festzuhalten ist, dass es innerhalb des gesamten System jede Menge Kontrollstellen gibt. Kritiker behaupten, dass die alle nicht funktionieren und fordern zum Beweis die Studien. Etwas unterschwelliger könnte man die Haltung einzelner Beamter/Beamtinnen, Angestellte/r oder Arbeiter/innen in den Behörden sehen. Wobei auch die, an verschiedenen Stellen durchgerutscht sein müssen.[1]Ich verwende bewusst nicht das Wort Einzelfall. Man mag es spitzfindig finden, aber ein Fall bleibt ein Fall. Der Plural wäre die Fälle. Der Einzelfall ist dem Verwaltungsrecht entlehnt und … Continue reading

Bei diversen Teilnehmern der Debatte beobachte ich häufig eine erhebliche Unkenntnis über die Abläufe, Strukturen und Meldewege innerhalb der jeweiligen Behörden. Zum Beispiel wird bei Amtsdelikten per se eine “Kumpanei” zwischen hierfür bestehenden Ermittlungsstellen und der Staatsanwaltschaft vermutet. Ich weiß nicht, wie diese Stellen in anderen Bundesländern genannt werden, aber in Berlin wird bei den Disziplinarstellen gern von “Beamtenmördern” gesprochen. Der Name hat Gründe. Weiterhin gibt es diverse Staatsanwälte/innen, die durchaus darauf erpicht sind, Amtsdelikte aufzudecken. Allerdings muss man auch einräumen, dass ihre Gegenüber auch keine Anfänger sind und sich naturgemäß gut auskennen. Im Ergebnis sieht es so aus, dass wenn etwas “Hand und Fuß” hat, wird es in der Regel angegangen. Aber hier gilt, was bei allen anderen Straftaten auch der Fall ist: “Als Ermittler muss man erst einmal herankommen.” Bisweilen spielt auch der berühmt-berüchtigte Kommissar Zufall eine Rolle. Hierüber sind schon einige gestolpert, weil sie beispielsweise im Kontakt mit einschlägig bekannten Personen beobachtet wurden und man der Sache etwas genauer nachging.

Aus den Zeilen oben geht hervor, dass ich nicht kategorisch Vorfälle in alle Richtungen bestreite. Von kriminellen Handlungen, bis hin zu Verbrüderungen mit Verfassungsfeindlichen Organisationen, habe ich in meiner zurückliegenden beruflichen Karriere einiges erlebt und ebenso diverse Male die Folgen für die betreffenden Personen gesehen. Ein besonderes Thema sind selbstverständlich Geschehnisse, bei denen eine oder mehrere Personen ums Leben gekommen sind. Im Bundesland Berlin werden solche Fälle von einer Mordkommission im Auftrag eines/r Staatsanwältin oder Staatsanwalt für Kapitalverbrechen untersucht. Man muss sich das als eine Art Programm vorstellen, welches mit dem Ereignis gestartet wird. Spurensicherungskommando, Tatortdokumentation, mehrere Kommissionsmitglieder, Gerichtsmedizin und meistens zum Ort kommende Staatsanwaltschaft. Da ist nichts mit Kungelei! Ich höre den Aufschrei. “Und was ist mit Oury Jalloh?” Eine sehr spezielle Situation, die ich aus der Ferne nur schwer einschätzen kann. Allerdings habe ich auch einige längere Beiträge dazu gelesen und kann nachvollziehen, dass bei einigen ein “ungutes” Gefühl zurückbleibt. Konkretisieren werde ich dies nicht, weil es mir schlicht nicht zusteht und ich mich nicht denen anschließen werde, die Mutmaßungen anstellen, ohne die komplette Akte zu kennen.

In Berlin ist das Polizeigewahrsam mit Angestellten und wenigen Führungskräften, die Polizeibeamte/innen sind, besetzt. Vor vielen Jahren wurde in Berlin von “eingebrachten” Personen ein Gewahrsam in Brand gesetzt. Meiner Erinnerung nach starb auch hier eine Person. Allerdings konnte dies damals lückenlos geklärt werden und zog Änderungen nach sich. So wie auch andere Vorfälle im Verlauf der letzten 30 Jahre zu Veränderungen, u.a. die Beiordnung einer Psychologin im Abschiebegewahrsam, führten. Spätestens seit dem Stanford-Experiment wissen wir, dass sich hier eine besondere Psycho-Dynamik ergibt. Insofern war der Berliner Polizei vor Jahrzehnten tatsächlich ein Vorwurf zu machen, da dieser Bereich oftmals als Abschiebedienststelle für Mitarbeiter mit Problemen benutzt wurde.

Ein wenig irritiert bin ich bei Personen, die entweder mal bei der Polizei waren oder jenseits des eigentlichen Polizeiberufs in die Ausbildung, akademische Bildung o.ä. gegangen sind, wenn sie Schusswaffeneinsätze kommentieren. Hinzu gesellen sich Polizeiwissenschaftler, auf die ich noch näher eingehe. Nichts ist unprofessioneller, als anhand von Pressemitteilungen oder Teilinformationen eine Beurteilung des Sachverhalts vorzunehmen. Es ist genauestens zu prüfen, wer, mit welchen Wissensstand, unter welchen Voraussetzungen, Entscheidungen traf, letztlich geschossen hat und wie sich die Lage entwickelte. Sachbeweise, Augenzeugen, Umstände, Verhalten der getöteten Person, die Ergebnisse der Obduktion u.v.m. sind akribisch zu untersuchen. Mal eben aus einer Universität etwas öffentlich herauszuhauen, hat nichts mit dem Begriff “Polizeiberuf” zu tun, sondern ist billigster Populismus. [2]Z.B. auf Twitter am 14.4.2022, Thomas Feltes, Prof., Strafverteidiger!, Investigativer Kriminologe, Ruhr Uni Bochum, “Und schon wieder: Polizeilicher Todesschuss. Welche lebensbedrohende Gefahr … Continue reading  Die diese Untersuchungen durchführen, sind hoch spezialisierte Beschäftigte, teilweise wissenschaftliche Mitarbeiter aus den polizeitechnischen Untersuchungsstellen, erfahrene Mitglieder von Mordkommissionen und Gerichtsmediziner.

Zurück zur Thematik “Studien”. Zunächst einmal muss festgelegt werden, mit welchen Begriffsdefinitionen[3](…)Es gibt keine allgemein akzeptierte Definition von Rassismus. VieleKontroversen über die Bedeutung des Wortes «Rassismus» erklären sichdaraus, dass eine enge und eine … Continue reading gearbeitet wird. Welche Definition für Rassismus wird angelegt und was genau ist eigentlich als rechtsradikal oder rechtsextrem zu betrachten? Und ab wann liegt ein Verstoß gegen die einschlägigen Rechtsvorschriften, Landes- (Bundes-)beamtengesetz, Disziplinarordnung pp. vor? Die politische Einordnung wird sehr unterschiedlich benutzt. Wenn es nach dem eher linken Spektrum geht, ist bereits eine Haltung, die dem Gedankengut der “Neuen Rechten” entspricht, für den Staatsdienst ungeeignet. Wo hingegen ein Alexander Dobrindt als MdB und CSU-Mitglied z.B. den Begriff “Konservative Revolution”, der ein klares Statement der “Neuen Rechten” ist, völlig unbehelligt benutzt. Ginge es nach einigen Kritikern, ist alles, was in Richtung Werteunion geht, bereits ein Ausschlusskriterium. Ich hab nichts dagegen, aber dann wird die Studie wahrlich interessant.

Bezüglich der Auswirkungen der Definition, ein Exkurs in ein anderes Untersuchungsgebiet. Bei der Berliner Polizei wurde in den 90ern[4]Ich war selbst Mitglied und benenne mich deshalb selbst als Quelleaufgrund einiger Vorfälle eine interne Untersuchung zu Thema Mobbing durchgeführt. Die eigens hierfür gegründete “Mobbing-Kommission” wertete die Ergebnisse, zumeist Fragebögen und bekannt gewordene/angezeigte Vorfälle, mittels Abklärung mit der zuvor festgelegten Definition für Mobbing aus. Ergebnis: Bei der Berliner Polizei gibt es kein Mobbing. Bei einer Belastung von ca. 2-3 %, die in jedem größeren Betrieb zu erwarten ist, vor allem wenn es sich um ein Non-Profit-Unternehmen handelt, eine gewagte Aussage. Am Ende einigte man sich auf “Schwerwiegende Konflikte am Arbeitsplatz” und aus der Mobbing-Kommission wurde eine Konfliktkommission

Eine Studie hat einen Auftraggeber, Durchführende und das Ziel von Feststellungen. Bei einer “Polizeistudie” dürfte es interessant werden, wer sich mit welchen Definitionen durchsetzt. Da ist noch nicht ein einziger Fragebogen ausgeteilt oder Monitoring durchgeführt worden.

Wer längere Zeit in einer deutschen Behörde gearbeitet hat, weiß um die Spezialitäten und inneren Prozesse. Ich würde gern mal einige Szenarien durchspielen. Studien kosten zunächst einmal Geld, welches irgendwer aufbringen muss. Es kommt gar nicht selten vor, dass das Ergebnis einer Studie seltsamerweise bereits vorher fest steht. Ein wenig wird eingeräumt, sonst fällt es auf, aber am Ende bewegt sich alles innerhalb von Toleranzbereichen. Und auf wundersame Art und Weise werden neue Stellen eingerichtet, die allesamt hoch dotierte Führungspositionen mit sich bringen. Wie könnte es bei der Wichtigkeit des Themas auch anders sein?
Außerdem ist anzunehmen, dass sich die Studie mehr oder weniger ausschließlich auf die unteren Ränge beziehen wird. Spätestens ab A12 [5]In der Regel eine Stelle mit Führungsaufgaben und Personalverantwortung, wenn nicht spezielle Aufgaben oder Ausbildungsbereich wird unterstellt, dass die Führungskraft selbstverständlich absolut integer ist.

Bei der Durchführung wird es auch wacklig. Ich habe bei einer Mobbing-Studie, initiiert von Auszubildenden der Polizeiakademie (damals noch Fachhochschule, ergo schon ein wenig her) erlebt, dass die anonymisierten Fragebögen auf mehreren Dienststellen, von einer einzigen Person ausgefüllt wurden. Die Ansage lautete in etwa “Für den Quatsch haben wir keine Zeit. Die anderen müssen in den Einsatz, aber wir haben eine Frist, also füll die Dinger aus.” Auch hier spüre ich förmlich, wie mir einige auf Twitter aktive kritische Polizeivereinigungen im Nacken sitzen. Leider durfte ich zu meinem Leidwesen deren ideale Polizei mit tollem Führungspersonal nie kennenlernen. Ausnahmen bestätigen stets die Regel.

Papier und Fragebögen sind geduldig. Und ich kenne wenige Leute, die eben mal spontan zugeben bzw. überhaupt so reflektiert sind, dass sie ein klein wenig rassistische Prägungen haben. Die meisten haben die ohnehin erst bei der Polizei, durch das Einsatzgeschehen bekommen. Es entspricht der normalen Psychologie eines Menschen, aus mehrfachen Einzelereignissen, die objektiv nicht dem realen Gesamtgeschehen entsprechen, im Innern Stereotype entwickelt. Wer behauptet davon frei zu sein, belügt sich selbst und wird in einer passenden Therapie eines Besseren belehrt. Hier fordern Kritiker gern eine Supervision. Ich möchte darauf hinweisen, dass in Berlin ein großer Teil der Führungskräfte schon bei verpflichteten Mitarbeiter-Vorgesetzten-Gesprächen (MAVG) in Terminnöte gerät. Dazu kommen Aus- und Fortbildung, turnusmäßige medizinische Untersuchungen, Krankheitsausfälle und der eine oder andere Einsatz. Da wird sich eine Supervision auf schwerwiegende traumatische Erlebnisse, also was Polizisten im Allgemeinen dafür halten, beschränken. Steinhagel, Zwillenbeschuss, hasserfüllte Dauerbeschallung, ständige Konfrontation mit Intensivtätern, gehören nicht dazu. 

Denkbar wäre bei den Studien auch eine Einsatzbegleitung. Auch hier gibt es die ehrliche und die behördliche Version. Wo und wann ich die begleiteten Streifen hinschicke, lässt sich zumeist steuern. Die bekommen zu sehen, was sie sehen sollen. Da ist viel Spielraum in alle Richtungen. Hinzu kommt, dass ich die auch nicht überall mitnehmen kann, weil sie sonst einer erheblichen Gefährdung ausgesetzt wären. Bei allem, Fragebögen, Befragungen, Begleitung kommt eins verschärfend hinzu. Die Untersuchungspersonen sind mit die misstrauischsten Personen, die ich persönlich kenne.

Solange ich bei der Berliner Polizei Dienst leistete, war sie eine zentral verwaltete Planwirtschaft des Mangels. Daran änderte auch nichts die Verwaltungsreform des Öffentlichen Dienstes und die Einführung von lauter hochtrabenden Begriffen aus der freien Marktwirtschaft, die ohnehin die wenigsten verstehen und echte Blüten trieben. Aber trägt zur Unterhaltung bei, wenn sich die ehemalige Technikbude am Telefon mit Kompetenzzentrum FEM (Führungs- und Einsatzmittel) meldet, aber nichts anderes zu bieten hat, als ein 30 Jahre altes Funkgerät.

Nachdem was ich in letzter Zeit gehört habe, hat sich immerhin die Stellenlage verbessert. Aber immer noch wird mit kreativen Statistiken um technische Ausstattung, Fahrzeugpark, Raumzuteilungen, gekämpft. Was man da lernt, lautet: “Entweder sie wollen Dir etwas wegnehmen, ein/e neuer Vorgesetzte/r will das Rad neu erfinden und eine Duftmarke hinterlassen, sie wollen Dich versetzen, die Dienststelle auflösen oder sie haben, weil ihnen die Politik auf den Füßen steht, etwas Neues geschaffen, damit eine/r weiter nach Oben befördert wird. Oder schlimmstenfalls ist die/der neue Chef/in zur Bewährung für eine höhere Funktion da.” Und sehr selten kommt bei allem etwas Gutes herum, was der Arbeit förderlich ist. Leute, die Studien betreiben wollen, sind in diesem Milieu immer gern gesehen.

Letztens hatte ich zu einem anderen Thema bei Twitter einen interessanten Austausch. Als Überschrift setze ich mal “Korrekte Befolgung der Dienstvorschriften”. Ich gebe ganz offen zu, dass ich immer die Aussage vertrat: “Wer alles korrekt macht, macht unter Umständen eine ganze Menge falsch. Auf jeden Fall kommt am Ende keine Kriminalitätsbekämpfung heraus.” Mit dieser Einstellung ist bei der Polizei das Karriereende und die Besoldungsgruppe fest vorher bestimmt. Auch wenn mir mein Gesprächspartner es nicht glauben wollte, gibt es Dienststellen, bei denen jeder Insider weiß, dass diese Einstellung dort wissentlich geduldete oder still gewollte Haltung ist. Unter dem Strich kann sich dies aber auch jeder denken. Es gibt nicht umsonst das Verbot der Arbeitskampfmaßnahme: “Dienst nach Vorschrift”. Es ist eine Frage, wie weit dabei gegangen wird. Also, für mich war es eine. Für die andere Seite der Konversation nicht. Ich erinnere mich, dass irgendwie das Wort “Schimanski-Mentalität” ins Spiel kam. Jeder muss für sich alleine wissen, ob er sich dauerhaft, von mit allen Wassern gewaschenen russischen, italienischen, anderen osteuropäischen, international erfahrenen Schwerkriminellen, auf die Rolle schieben lässt. Die kennen ziemlich genau die Schwachpunkte der Vorschriftenlage und was sie noch nicht kennen, bringen ihnen hoch bezahlte Rechtsanwälte bei.

Ich gehe hier darauf ein, weil ich dabei noch über etwas anderes gestolpert bin. Es gibt Bereiche der Polizeiarbeit, die man nicht mal eben so machen kann, oder eventuell lieber die Finger davon lässt, weil man einfach nicht der Typ dafür ist. Wer es mit richtigen Berufsverbrechern und Schwerkriminellen, besonders international agierenden, zu tun bekommt, muss einiges über deren Persönlichkeitsstruktur lernen und verstehen. Leute, die das von Anfang können, sollten mit Skepsis gesehen werden. Es widerspricht der Logik, dass sie bei der Polizei gelandet sind. Mir ist in meinem Leben bisher noch kein/e Soziologe/in begegnet, die das hinbekommen haben. Bei Sozialpädagogen sieht es ein wenig anders aus. Auch Berufsverbrecher haben Kinder und einige von denen werden aus Gründen Erzieher oder Sozialpädagogen. Was bei Untersuchungen oder Studien, durch im Milieu unerfahrenen Diplom-Soziologen herauskommt, könnte extrem interessant werden. Für die beginnt Rassismus und Racial Profiling bereits an der Stelle, wo man einer Clan-Größe ein wenig mit regelmäßigen Besuchen seiner Geschäftsmodelle auf die Nerven geht. Wie schön, dass das nicht mehr mein Problem ist. Immerhin wissen dies auch die Clan-Größen und spannen die “Anti-Rassisten” geschickt ein.

Wie gesagt, einige Vorfälle sind schlicht skandalös und müssen gezielt untersucht werden. Da sind Führungskräfte gefragt, die dort für klare Strukturen und Ansagen zu sorgen haben. Es geht nicht an, dass die beispielsweise auf ihre Uniformen und Einsatzanzüge Patches pappen, wie sie es gerade lustig finden. Schon gar nicht, wenn die zweifelhafte Botschaften transportieren. Dafür benötige ich aber keine Studie, um zu wissen, dass da ein eindeutiges Versagen der Führung eine Rolle spielt. Ich persönlich würde auch eine Intervention erwarten, wenn die in Chat-Gruppen frei drehen. Und mir soll kein unmittelbarer Vorgesetzter damit kommen, es nicht gewusst zu haben. Sollte es so sein, muss eine Versetzung stattfinden. Waren sie selbst dabei, muss sich die nächste Ebene einige Fragen gefallen lassen, warum sie die eingesetzt haben.

Ich habe selbst Situationen erlebt, in denen ich mich fragte, in welchem Kindergarten ich gelandet bin. Wenn sich Leute T-Shirts mit mehr oder weniger eindeutigen Sprüchen bedrucken lassen, gibt es zwei Erklärungen. Es entspricht der tatsächlichen Haltung der Träger/innen oder sie befinden sich auf dem Niveau von Pubertierenden, die sich an einer Provokation ergötzen. In solchen Momenten wünscht man sich in die Schweiz. Dort sagte der Präsident der Kantonspolizei Zürich zu mir: “Bei uns hat jeder eine abgeschlossene Berufsausbildung und in der Regel den Militärdienst hinter sich. Wir wollen nicht halbe Kinder auf erwachsene Eidgenossen loslassen.” Ebenfalls ein Punkt, für den ich keine Studie benötige. Wer einen Haufen Halbstarker ohne Begleitung eines Erwachsenen rausschickt, braucht sich nicht zu wundern. Vieles steht und fällt mit der Führung. Auch ich habe zur Genüge Vorgesetzte kennengelernt, die mir vorkamen, als wenn bei ihnen der Dienst in der Polizei Minderwertigkeitsgefühle auslöste, weil sie viel lieber Bundeswehr gespielt hätten. Machen wir uns nichts vor, mit Programmierern und Leuten, die das Zeug haben theoretische Physiker zu werden, kann ich im Polizeidienst nichts anfangen. Aber Testosteron gesteuerte Führungskräfte mit Persönlichkeitsdefiziten braucht auch keiner. Alles bis zu einem gewissen Maß.

Einen Nebeneffekt beobachte ich dabei bereits seit längerer Zeit. Insbesondere junge Männer landen immer häufiger in einer Identitätskrise. Früher konnte man dies gut bei Standkontrollen (Mausefalle) beobachten. Da wurde aus einem 19-jährigen unsicheren Mann mit Aufsetzen der Mütze plötzlich ein “wichtiger”  Zeitgenosse. Aber daran wurde gearbeitet und das gab sich. Manch einer mag sich gewundert haben, warum ich so sehr gegen Trends wie “Vorbildfunktion”, “Polizei als Berufung” oder “Polizeifamilie” gewütet habe. Die Jüngeren (ich bin ganz bewusst bei den Männern) sind genug einer isolierten Polizeiidentität ausgesetzt. Da muss man nicht noch Öl ins Feuer gießen. Die Kunst besteht darin, Leute mit einem gesunden Bauchgefühl und einigermaßen intakten Persönlichkeitsstruktur zu finden und sie nicht kaputtzumachen. Hierbei erinnere ich mich immer an die Worte eines erfahrenen Schutzpolizisten, der lange Jahre bei der Bereitschaftspolizei war: “In den ersten Einsätzen bei uns, bekommen die ihre Grundtraumatisierung, danach werden sie langsam arbeitsfähig.” Ähnliches schilderte mir einer, der von meiner Dienststelle wieder auf dem “Bock”, Funkwagen auf dem Abschnitt, landete. Nach seinen ersten Einsätzen mit häuslicher Gewalt und drei “Fensterspringern” fragte man ihn, ob es jetzt nach der “Retraumatisierung” wieder ginge.
Im Zusammenhang mit meiner Tätigkeit bei einer Konfliktkommission hatte ich mal eine ganz andere Studie im Sinn. Anstatt bei allen Dienstvergehen mit den entsprechenden Sanktionen zu reagieren, hätte mich eine psychologische Untersuchung interessiert. Wie viel ist auf Überlastung, Traumatisierung, Dissoziationen, Mobbing, Depressionen, Burnout, Kränkungen, tief sitzende Frustration zurückzuführen? Auch hierzu fällt mir ein Zitat, diesmal von einer jungen Frau, ein: 

(...)

"Als ich in meinem ersten Einsatz all die von Hass verzerrten Gesichter sah, wie sie mit dem Kopf voran in mein Schild rannten, der Lärm förmlich durch meinen Körper ging, passierte in mir irgendetwas. Am Abend habe ich mich stundenlang bei meiner Partnerin ausgeheult. Dafür war ich doch niemals zur Polizei gegangen."

In der Zeit, wo ich sie kennenlernte, legte sie dann einige private durchaus grenzwertige Impulsdurchbrüche hin. Für mich absolut nachvollziehbar. In einer Studie wäre sie vermutlich unter latent gewalttätig gelandet.

In meiner Ausbildung durfte ich mich auch ein paar Semester mit der Kriminologie auseinandersetzen. Wie jeder Polizist aus dem gehobenen Dienst, darf ich mich Akademiker schimpfen, weil ich Diplom Verwaltungswirt bin. Was ich ehrlich gesagt ein wenig albern finde. Ich weiß ganz gut, wie eine echte akademische Ausbildung aussieht und habe erfolglos 4 Semester an einer richtigen Universität studiert. Auch wenn mich Kriminologen/innen steinigen, halte ich diese Fakultät alleinstehend für unsinnig. Sie ist eine nette Ergänzung für Psychologen/innen, Psychiater/innen, Soziologen/innen und Juristen/innen. Irgendwann nach der Jahrtausendwende tauchte dann die Polizeiwissenschaft auf. Die erschloss sich mir dann gar nicht mehr. Studieren kann man den Masterstudiengang Kriminologie, Kriminalistik, Polizeiwissenschaft u.a. an der Ruhruniversität Bochum [6] https://www.makrim.de/index.php/studium, abgerufen am 16.4.22/23:00 Uhr. Vorbehalten ist das Studium Leuten, die im Hauptgang etwas Richtiges studieren oder beruflich vorbelastet sind. 

Auf einigen Social Media sind die Polizeiwissenschaftler recht rührig und sparen nicht mit Kritik an der deutschen Polizei. Wären es substanzielle Aussagen von Psychologen/innen, Psychiatern/innen, wegen meiner auch seitens der Soziologen, wäre ich ernsthaft interessiert. Bedingt durch meine eigene Biografie finde ich den Austausch mit diesen Gruppen, vor allem wenn sie therapeutische Erfahrungen in Vollzugsanstalten, mit Polizisten/innen, oder Opfern haben, sehr ergiebig. Aber die Kritik kommt, jedenfalls meinerseits subjektiv wahrgenommen, von den ehemaligen oder freigestellten Polizisten/innen. Der Beschreibung des Studiengangs nach haben die 1 1/2 Jahre ein Zusatzpaket mitgenommen, von dem einiges Teil ihrer Ausbildung war und dafür ein wenig mehr als ein Monatsgehalt A11 hingeblättert. Nur mal zum Vergleich, Psychologie funktioniert nicht unter 5 Jahren und enthält eine fundierte Ausbildung in Statistik. Kurzum, ich hoffe für Deutschland, die Gesellschaft und die Polizei inständig, dass denen nicht die Studien überlassen werden. Dann können dies genauso gut Frauen und Männer aus dem Höheren Dienst übernehmen.

Bei alledem kann aber in keiner Weise geleugnet werden, dass in einigen Bundesländern auf manchen Dienststellen etwas “unrund” läuft. Auch hier stelle ich mal eine äußerst unpopuläre Meinung in den Raum. Von den Empörungen bezüglich einiger “Chat-Gruppen” halte ich überhaupt nichts. Diese Kommunikation über Messenger-Dienste haben diverse Klippen. Außenstehende können die Aussagen schwer einordnen. Wenn ich von meiner/m Konversationspartner/in weiß, dass der/die weder “rechts” noch sonderlich “gewalttätig” ist, erscheint eine Nachricht in einem vollkommen anderen Kontext, als wenn es anders ist. Aber wie will ein Außenstehender dies beurteilen? Man kann mir eine ganze Menge unterstellen, aber sicher nicht, dass ich rechts bin. Also es geht schon, läuft aber ins Leere. Wenn ich ein Telefon weiterreiche und dazu sage: “Die oberste Heeresleitung ist dran.”, weiß jeder aus meinem Umfeld, dass die Ehefrau/Ehemann dran ist. Und wenn ich einen mir gut bekannten Afghanen “Taliban” nenne, kann der dies auch einschätzen. Dies hat keine Substanz. Wenn ein Kollege einem sogenannten “Code Red” unterzogen wird, sieht es schon ganz anders aus. Ebenso ist es absolut “Over the Top”, wenn Mitglieder von Spezialeinheiten Leichensäcke, Kalk und Sprengsätze horten.

Ich bin kein Heuchler. Mir ist eine Menge “Over the Top” begegnet und im Zusammenhang mit einigen Tätigkeiten habe ich auch äußerst zweifelhafte Initiationsrituale oder Party-Exzesse mitbekommen. Diese Dinge galt es zu klären und sie wurden auch bereinigt. Von meinem politischen Standort her ist für mich eine ganze Menge rechtslastig. Doch ich bin auch in eine Gesellschaft eingebunden, die dies trägt und unter akzeptabel einordnet. Da bin ich immer noch Kriminalbeamter genug, dass ich sage: “Hier ist weder etwas, was bei einem Verwaltungsgericht hält, noch ausreichend das Beamtengesetz verletzt, somit eine Disziplinarstrafe nach sich ziehen könnte oder einem Widerspruch entgeht.” Wunschvorstellungen kann ich eine Menge haben. Eins ist auch klar, wenn ich alles als rechtsseitig verwerflich einsortiere, eröffne ich den rechts-konservativen schnell, mich als bedenklich linksseitig unterzubringen. Dieses Spiel können wir eine Weile treiben.

Was ich durchaus beobachte, ist eine anwachsende Xenophobie, die sich auf konkrete Gruppierungen bezieht und eine schwindende Gelassenheit, die ich bei den Kritikern einfordere. Das ist nicht der Polizei vorbehalten. Da sind die Mitarbeiter der Polizei ausnahmsweise ein Spiegel der Gesellschaft. Mit welcher Vehemenz signifikante Teile der Gesellschaft auf junge Aktivisten reagieren, ist besorgniserregend. Ich habe dabei immer das Attentat auf Rudi Dutschke im Hinterkopf. Im Wesentlichen stammen heutige Polizisten/innen aus dem Bürgertum. Jenes radikalisiert sich immer mehr. Ein nachvollziehbarer Prozess. Denen schwimmen die Felle weg. Durch die Klimakatastrophe und die sich anspannende politische Weltlage, werden ihnen ihre Karossen, Häuser, Lebensart, Konsum, madig gemacht. Dies entlädt sich an denen, die sie darauf schmerzlich stoßen. Da ist der junge Polizist mit seinem Auto und Bausparvertrag nicht anders unterwegs. Polizistinnen sind oftmals noch ein wenig anders gestrickt. Aber beide Geschlechter haben es nicht so mit der Gesellschaftskritik aus der Richtung Ökologie. Skeptisch beobachte ich ebenfalls die Nähe zum Milieu. Junge Polizisten/innen im Nachtleben sind immer ein Risiko. Sei es in Shisha-Bars, Clubs, Rocker Partys oder Freundeskreisen, in denen Hooligans oder Rocker unterwegs sind. Aber von so etwas wird bei den Studien selten gesprochen. Die Ermittlungen in München haben mich persönlich wenig überrascht.

Solche Sachen passieren alle Jahre mal wieder. Aktuell scheint es mal wieder an der Zeit zu sein. Aber hat mal jemand festgestellt, dass andererseits eine ganze Menge richtig gelaufen sein muss, weil die sonst nicht aufgeflogen wären? Darüber könnten mal einige nachdenken. Scheint doch noch einige Kriminalbeamte/innen zu geben, die einen guten Job machen. Derartige Ermittlungen erfordern Spitzenklasse. Wie immer: Ich würde richtig nervös werden, wenn solche Sachen nicht ab und zu aufgedeckt werden. Dann ist was faul!

Trotz alledem kann eine gut durchgeführte Studie interessante Ergebnisse liefern. Warum ich daran zweifle, habe ich dargestellt. Hätte ich einen Wunsch frei, würde ich persönlich eine psychologische Betrachtung ausgewählter Bereiche mit anonymisierten Anamnesen spannend finden. Von Fragebögen halte ich herzlich wenig. Unter anderen, weil ich meine Pappenheimer kenne und die Ernsthaftigkeit, selbst bei eingearbeiteten Kontrollfragen, anzweifle. Neben den bisher schon gemachten Ausführungen, habe ich auch im Hinterkopf, dass ich mal bei der Erstellung von Profilen beteiligt war und Bewerber hierzu mit einem Persönlichkeitsstrukturtest befragt wurden. Im Ergebnis wurden die ausgewählt, welche einem völlig verqueren Wunschbild der Auftraggeber entsprachen. Sehr vernünftige, intelligente, sorgfältige und durchstrukturierte Menschen mit einer klaren Lebensplanung. So ziemlich genau die Sorte Charakter, bei der jeder Insider sagte: Die passen nicht hierher. Allein schon, was ich zum Thema Trauma schrieb, dürfte Auskunft genug sein, dass die Charaktere, welche sich “Normalbürger” für die Polizei wünschen, keine Überlebenschancen haben. Jedenfalls ist dies meine Meinung. Die keinerlei Bedeutung hat, weil ich nicht mehr dabei bin. Meinem Eindruck nach gehen meine Vorstellungen von Polizisten/innen und dem Wunschbild von Teilen der Bevölkerung weit auseinander. Ich persönlich mag keine überkorrekten Typen, weder Mann noch Frau, die sich mehr an Buchstaben, als am Zweck der ganzen Veranstaltung orientieren. Wer meinen BLOG kennt, weiß darüber Bescheid, dass ich stark in Richtung Regelutilitarismus [7](…) Der Regelutilitarismus bestimmt das Prinzip der Nützlichkeit nicht mehr in Bezug auf einzelne Handlungen, sondern in Bezug auf Regeln von Handlungen oder Handlungstypen. Danach ist … Continue reading tendiere. Aber ich betone es immer wieder: Ich kann keinen Schaden mehr anrichten.
Erstrebenswert wären die Untersuchungen vermutlich schon allein deshalb, weil dann endlich Ruhe ist und das Thema, so oder so geklärt ist. Wer weiß, unter Umständen gibt es Überraschungen.

Was mich gewaltig stört, ist die Unterstellung, dass jeder nicht davon Begeisterte seitens der Polizeikritiker-Bubble, zum Rechten, Troll oder Verdächtigen abgestempelt wird. OK, die Rhetorik ist recht simpel. Wer nichts zu verbergen hat, kann alles offen legen. Woher kenne ich diese Rhetorik? Korrekt, genau aus dem anderen Lager. Leute, die sich dessen bedienen, erzeugen den unguten Verdacht, dass es ihnen um etwas ganz anderes geht, als eine Besserung der Gesellschaft. Ich glaube, sie würden gern in Ruhe gelassen werden, während die anderen auf den Deckel bekommen. Aber in dieser Form funktioniert Polizei bei uns nicht. Aus ihnen spricht auch eine gewisse Egozentrik, da sie nicht begreifen wollen, dass sie nicht allein auf der Welt sind, sondern da auch noch ein paar Kriminelle durch die Gegend laufen, die ihnen auch nicht genehm sind. Selbst in einer Anarchie, wird es sich nicht umgehen lassen, Leute mit der Regelung einiger polizeilicher Aufgaben zu betreuen. Erfahrungsgemäß sinkt die Kriminalitätsrate in anarchistisch organisierten Gemeinden (z.B. in Spanien) rapide, aber eben nicht auf Null. Twitter lässt den Eindruck entstehen, dass die Studenten, Sorry, die Studierenden (der musste sein ,-) ) der Soziologie, sprachlich und bei Beurteilung der politischen Vorgänge einen mächtigen Aufwind bekommen. Besser als die anderen, trotzdem bisweilen ein wenig anstrengend. Meiner Lebenserfahrung nach funktionieren einige Dinge allein auf dem Campus.
Dazu passend hab ich die Erfahrung gemacht, dass bei der einen oder anderen Demo, die Gegendemonstranten nicht undankbar über die anwesenden trennenden Polizeieinheiten waren. Sich mit einer freigelassenen Horde Hooligans und brutalen Schlägern der rechtsextremen und Neonazi-Szene auseinanderzusetzen, ist auch nicht nach jedermanns Geschmack. Anders ist das Geschrei nicht zu erklären, wenn aus irgendwelchen Gründen (trotz aller Unterstellungen, oftmals taktische Fehler bei der Einsatzleitung) die Kräfte abgezogen werden. Nur sehr wenige aus dem linken Spektrum sind so gestrickt, dass sie selbst noch die Hools u.a. unter die Fittiche des Hashtags #Polizeigewalt, #Polizeiproblem, nehmen.

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Abschließend möchte ich einen Punkt anbringen, den ich hier im BLOG bereits öfter zu bedenken gab. In erster Linie ergreifen heutzutage Polizisten/innen mal von Ausnahmen wie Rainer Wendt und seine Entourage selten die politische Initiative. Besonders die Schutzpolizei, Bundespolizei, handelt zumeist im Auftrag. Bei der Kripo sieht es mit den Möglichkeiten schon ein wenig anders aus. Gleichfalls beim LfV, BfV und einigen Zoll-Einheiten. Entscheidend ist nicht, ob da in der Polizei seltsame Leute herumrennen. Wichtig ist immer, wie sie sich verhalten, wenn sich die politischen Verhältnisse ändern. Das Stichwort hierzu lautet: Opportunismus. An der Stelle lege ich meine Hand nicht ins Feuer. Ich benötige die noch. Damit ist es von besonderer Wichtigkeit, die politische Entwicklung und die Gesetzgebung im Auge zu behalten. Genau dort werden in den letzten Jahren lauter Sachen beschlossen, die sich in falschen Händen katastrophal auswirken können. Da helfen dann auch keine Studien.

Quellen/Fußnoten

Quellen/Fußnoten
1 Ich verwende bewusst nicht das Wort Einzelfall. Man mag es spitzfindig finden, aber ein Fall bleibt ein Fall. Der Plural wäre die Fälle. Der Einzelfall ist dem Verwaltungsrecht entlehnt und stammt aus der Feder eines/einer Beamtin. § 35 S. 1 VwVfG, Verwaltungsakt ist jede Verfügung, Entscheidung oder andere hoheitliche Maßnahme, die eine Behörde zur Regelung eines Einzelfalls auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts trifft und die auf unmittelbare Rechtswirkung nach außen gerichtet ist. Allgemeinverfügung ist ein Verwaltungsakt, der sich an einen nach allgemeinen Merkmalen bestimmten oder bestimmbaren Personenkreis richtet oder die öffentlich-rechtliche Eigenschaft einer Sache oder ihre Benutzung durch die Allgemeinheit betrifft.
Seither geistert er in der Gegend herum. Wenn es eine konkrete Verbindung zwischen zwei oder mehr Fällen gibt, gäbe es hierfür Bezeichnungen wie Vorgang, Sammelfall. Bei mehreren Personen, die mehrere Fälle, die zusammengehören, verwirklichen, spräche man von Vereinigung, Bande, Netzwerk. Hierfür muss ein Nachweis, Beweis, erbracht werden. Alles andere ist entweder populistisches leeres Gerede oder manipulatives Framing.
2 Z.B. auf Twitter am 14.4.2022, Thomas Feltes, Prof., Strafverteidiger!, Investigativer Kriminologe, Ruhr Uni Bochum, “Und schon wieder: Polizeilicher Todesschuss. Welche lebensbedrohende Gefahr geht von jemanden aus, der Gegenstände aus dem Fenster wirft? Bereich darunter absperren und den psychiatrischen Notdienst rufen statt zu schießen. SEK erschießt Randalierer. |Mal ganz davon abgesehen, dass es nicht die feine Art wäre, Mitarbeiter des Psychiatrischen Notdienstes einer derartigen Gefahrenlage, wie sich später herausstellte, sehr gefährlich, auszusetzen, bezog er sich dabei ausschließlich auf einen Presseartikel. Was da noch zusätzlich alles eine Rolle spielte, wissen die Ermittler, aber keiner in der Öffentlichkeit. Auf jeden Fall sind SEK-Beamte alles, aber keine Rambos. Die werden ziemlich genau ihre Vorgehensweise geprüft haben.
3 (…)Es gibt keine allgemein akzeptierte Definition von Rassismus. Viele
Kontroversen über die Bedeutung des Wortes «Rassismus» erklären sich
daraus, dass eine enge und eine weite Bedeutung des Ausdrucks parallel
genutzt werden (…) https://www.humanrights.ch/de/ipf/menschenrechte/rassismus/dossier/was-ist-rassismus/
4 Ich war selbst Mitglied und benenne mich deshalb selbst als Quelle
5 In der Regel eine Stelle mit Führungsaufgaben und Personalverantwortung, wenn nicht spezielle Aufgaben oder Ausbildungsbereich
6 https://www.makrim.de/index.php/studium, abgerufen am 16.4.22/23:00 Uhr.
7 (…) Der Regelutilitarismus bestimmt das Prinzip der Nützlichkeit nicht mehr in Bezug auf einzelne Handlungen, sondern in Bezug auf Regeln von Handlungen oder Handlungstypen. Danach ist jede Handlung sittlich erlaubt, die mit einer an dem sozialen Wohlergehen ausgerichteten Handlungsregel übereinstimmt (Urmson, Brandt) (…), https://www.spektrum.de/lexikon/philosophie/utilitarismus/2119

Auf Beobachtungsposten o. Alien Teil II

Lesedauer 7 Minuten

Unter der Überschrift In einer Bar mit Aliens beschrieb ich hier im BLOG schon einmal die Gesprächssituation mit einem Alien, dem ein humanoider Erdbewohner versucht, das Treiben auf der Erde zu erläutern. Doch ich denke, es bedarf keines Aliens. Der Versuch, alles einem Anführer eines indigenen Stammes im Amazonasgebiet zu erläutern, dürfte genügen. Wo sollte man anfangen? Es würde doch nichts bringen, gleich mit all den Kriegen, Diktatoren, Massengesellschaften, Nationalstaaten, Klimakatastrophen zu beginnen. Vielleicht gab es in der Geschichte der menschlichen Entwicklung tatsächlich den Zeitpunkt, an dem ein Stammesführer sagte: “Lasst uns gut überlegen, ob wir diesen Schritt gehen.” Dann spaltete sich die Entwicklung und manche gingen ihn und die anderen ließen es lieber bleiben. Letztens sah ich einen dreiteiligen Bericht über die Entwicklung des Kapitalismus. Die Urväter, allen voran Adam Smith, behaupteten vom Tauschhandel und der sich daraus entwickelnden Geldwirtschaft, eine natürliche menschliche Entwicklung. Anthropologen widersprechen dem bis heute vehement. Die Ausgangssituation sah anders aus. Die Menschen lebten in Gemeinschaften, in denen jeder beisteuerte, was gerade da war und zu dem die jeweiligen Mitglieder beitrugen, wozu sie fähig waren. Ich habe zwei Hühner und benötige ein Schwert, also tausche ich das eine gegen das andere, war eine europäische Idee, die exportiert wurde. Auch die Theorie, dass der heutige Kapitalismus seinen Ausgang in der Industrialisierung fand, ist mehr oder weniger widerlegt. Richtig Fahrt nahm alles mit der Entdeckung Amerikas, der Ausbeutung ferner Länder im Auftrag von Geldgebern und vor allem dem Sklavenhandel auf.

Ich müsste demnach einem Alien oder dem Stammesführer erst einmal die Notwendigkeit von der Abkehr der gemeinschaftlichen Bedarfsdeckung erläutern. Früher kamen Gemeinschaftsmitglieder von der Jagd zurück und teilten alles. Bei der Aufteilung wird es sicherlich Kriterien gegeben haben. Lebensalter, Frauen, Schwangere, Kinder, Jäger. Unter Umständen hat sich dies aber auch ganz einfach ergeben. Wo liegen die Vorteile, wenn jemand seine drei Fische verkauft, dafür so etwas wie Geld oder ähnliches erhält und dann in der Nachbarhütte neue Speere kauft? Vor allem: Welche Nachteile könnten sich daraus langfristig ergeben? Wäre man nochmals bei dieser Stunde Null dabei, wie würde man sich als modernes Mitglied eines Industriestaats dazu äußern?

Die Geschichte hat sich dahingehend entwickelt, dass Forscher aus Industriestaaten zu indigenen Völkern gehen und diese neugierig beobachten, weil sie die Ursprünge erforschen wollen. Wie wäre es andersherum? Was würde passieren, wenn die Beobachter entsendeten, die uns unter die Lupe nehmen? Bei uns wird von Entwicklung gesprochen und gemeint ist damit eine Verbesserung. Rein körperlich ist zwischen uns und den Indigenen nichts passiert. Sie verfügen über die identische Physis und geistigen Voraussetzungen. Entwicklung allein ist ein leerer Begriff, der nichts mehr bedeutet, als eine Transformation von einem Zustand in den nächsten. Also stellen sich die Fragen, woher wir kamen, wo wir gelandet sind und wohin es gehen soll. Und wenn wir eine Bewertung vornehmen wollen, müssen Kriterien bestimmt werden. Wir wissen mehr über die Zusammenhänge, die das Leben auf dem Planeten Erde ausmachen. Wenige Menschen unter Milliarden können unglaublich präzise Berechnungen durchführen und Vorgänge im Universum ableiten, die bei den meisten jede Vorstellungskraft sprengen. Es besteht ein umfassendes Wissen über körperliche Prozesse, den Aufbau und wie Krankheiten zu heilen sind.

Doch was passiert, wenn ich 30 durchschnittliche, deutsche Männer, Frauen, Kinder, Heranwachsende nehme und sie in einer Wildnis aussetze? Vielleicht würden sie nicht sterben, aber viel Moderne bliebe nicht. Das Mitglied einer modernen Industriegesellschaft ist nicht nur einzeln hilflos, sondern selbst als Gruppe kaum weiter als eine indigene Gruppe. Eher rückständiger, weil diese die wichtigen Sachen zum Überleben beherrschen. Wie ich es auch drehe und wende, gedanklich lande ich bei staatenbildenden Insekten. Ist dies ein Fortschritt in der Entwicklung? In den Grundanlagen ist der Mensch ein hoch entwickeltes Wesen, welches sich innerhalb der Massengesellschaften als Individuum weit unterhalb seiner Möglichkeiten bewegt. Nicht wenige verkümmern vollkommen und bräuchten in einer anderen Umgebung lange Zeit, bis sie wieder als Mensch agieren könnten.

Zu den bemerkenswerten Fähigkeiten des Homo sapiens gehören Beobachten und das Ziehen von Rückschlüssen. Aber beides ist nicht einfach, will gelernt sein, bedarf eines Trainings und setzt einiges Wissen über die Fehlbarkeit, die Beeinflussbarkeit des Großhirns und der Sinne voraus. Unter anderen wird dies in der Wahrnehmungspsychologie untersucht. Letztlich ein moderner Begriff für etwas, was Menschen seit tausenden Jahren praktizieren. Zum Beispiel tauschten griechische und römische Philosophen ihre Beobachtungen miteinander aus, ermittelten Gemeinsamkeiten und Unterschiede, und ersahen die Überschneidungen als eine mögliche Annäherung an die Realität. Sie taten dies, weil sie sich der Fehlerquellen bewusst waren. Die Beobachtung kommt lange vor der Bewertung und erst recht vor den Rückschlüssen. Ein intuitiver Fehler ist das voreilige Zusammenziehen von einzelnen Beobachtungen zu einer Geschichte. Einst war das mal überlebenswichtig, um sich schnell in Sicherheit zu bringen. Lieber einmal mehr eine falsche Kausalität erzeugt zu haben, als zwischen den Zähnen eines sich geschickt angenäherten Säbelzahntigers gelandet zu sein.

In unseren industriellen Massengesellschaften sind Wahrnehmungsfehler, das fehlerhafte Zusammenziehen des Beobachteten, die voreiligen Rückschlüsse, das darauf basierende Verhalten, zur Kultur geworden. Beispielsweise hören Leute auf den größten Dorftrottel, wenn seine Erzählung, in ihre eigene bereits bestehende innere Geschichte passt. Ich nehme mal die Pandemie und das Thema Impfen. Die Pharmakologie ist an sich erstmal nicht mehr als eine Wissenschaft, die von anderen ergänzt wird und vieles hervorbrachte. Rückblickend gehörten bereits die Heiler und Hebammen dazu. Auch die indigenen Völker verfügen über pharmakologisches Wissen. Ganz im Sinne des Kapitalismus ist die Vermarktung ein Geschäftsmodell. Während bei den Indigenen das Wissen unveräußerliches Allgemeingut ist, tauschen wir Wissen, Präparat, gegen Geld und machen es zu einem Teil des Markts. Im Ergebnis gibt es eine Pharmaindustrie, mit bezahlten Forschern, Herstellern, Aktionären usw. Allgemein wird davon ausgegangen, dass dies ein vollkommen logischer Prozess ist. Die Logik lautet: Wenn niemand Geld in die Forschung investiert, werden keine Medikamente entwickelt. In einem System mit Auflösung des gemeinschaftlichen Interesses ist dies korrekt. Was nicht bedeutet, dass dies in einem anderen System auch stimmig ist. Auf jeden Fall hat der Faktor Geld und Profit zu einigen Fehlentwicklungen mit konkret sichtbaren Skandalen geführt. Nun kommt der Fehler! Hat es mehrere Skandale gegeben, kann niemand sagen, dass die Angelegenheit Pandemie und Impfen nicht auch einer ist. Ergo ist davon auszugehen, dass alles eine Inszenierung ist. Folgt man dem, wären auch alle Herzschrittmacher, AIDS – Präparate, Blinddarmoperationen, eigentlich alle medizinischen Eingriffe, unter Umständen das Ergebnis einer Vorspiegelung falscher Tatsachen. Realistischer ist es, dass ein Dorftrottel mit seiner Story das Misstrauen bediente, welches sich aus einigen Skandalen entwickelt hat.

Aktuell sind die europäischen Gesellschaften und Politiker in den USA, Kanada, Australien, auf den Ukrainekrieg fixiert. Ich unterstelle einer Mehrheit der US-Amerikaner, dass sie von den Vorgängen noch nichts gehört haben. Ähnlich sieht es mit durchschnittlichen Asiaten, Indern, Pakistanis u.a. aus. Bisher wissen sie nichts davon, dass sich da möglicherweise ein Dritter Weltkrieg mit unabsehbaren Folgen anbahnt. Nicht einmal, wenn mit etwas Zeitverzug die Auswirkungen, wie Nahrungsmittelknappheit, Zusammenbrüche von Lieferketten, Finanzmärkten, ankommen. Wenn, dann werden dort vielfach eigene Erzählungen entstehen. Traditionell sind dort aufgrund von Erfahrungen an allem irgendwie die USA schuld. Selbst bei uns ist diese Erzählung weit verbreitet. Ob dies nun so ist oder nicht, vor allem im aktuellen Geschehen, ist nicht Teil der Beobachtung.

Aber wie könnte man dies alles dem erwähnten Stammesführer oder gar einem Alien erläutern? Da wäre erst einmal das komplexe System mit all den Verknüpfungen, Abhängigkeiten, Knotenpunkten und Endstellen, innerhalb dessen die Industriestaaten existieren. Man müsste irgendwie die innere Logik und die darauf basierenden Prozesse erläutern. Insofern dies überhaupt möglich ist. “Vor etwas mehr als 200 Jahren gab es zwei schottische Ärzte, welche aus ihrer Perspektive naheliegend, die Interaktionen von Menschen und die von ihnen gebildeten Gesellschaften als einen Blutkreislauf beschrieben. Dabei gingen sie zum einen von vollkommen falschen anthropologischen Voraussetzungen aus (was sie nicht wissen konnten), sie machten gedankliche Fehler, die schlicht dem damaligen Zeitgeist entsprachen, und sie wussten nichts über Klima, Schäden, die durch die Industrie entstehen und sie hatten keinen blassen Schimmer von den Folgen einer Verknappung an Rohstoffen und Überbevölkerung. Aber weil wir nun einmal sind, wie wir sind, haben wir immer weiter gemacht.”
Gleichzeitig müssten wir zugeben, dass innerhalb dieses Systems zahlreiche Kriege stattfanden und immer noch vorkommen, welche aufgrund des ungebremsten Vorantreiben der Weiterentwicklung zu immer mehr Zerstörungskraft der Waffen, ein Vernichtungspotenzial für das komplette Lebenssystem, also über das System der Industriestaaten hinaus, bekommen haben. Spätestens an der Stelle erwarte ich vom Stammesanführer oder dem Alien ein: “Seid ihr noch ganz dicht?” Eine Bewertung, die ihnen, aber nicht dem Beobachter zu steht.

Ich muss das System nicht interpretieren, analysieren oder an sich infrage stellen. An erster Stelle kommen die sichtbaren Beobachtungen. Es bestehen augenscheinlich komplizierte Abhängigkeiten, die es nicht möglich machen, ein Ereignis, wie den Ukraine-Krieg, zu isolieren. Mit den Naturwissenschaften kann nachgewiesen werden, dass das System der Industriestaaten zu einem bedrohlichen Anstieg der globalen Temperaturen führt, was wiederum ebenfalls nachweisbare Auswirkungen auf den gesamten Planeten hat. Weiterhin entstehen innerhalb des Systems von Menschen hergestellte Produkte, die die Lebenssysteme vergiften und zerstören. Parallel zum System der Industriestaaten bestehen weitere, die in Mitleidenschaft gezogen werden. Hinzu kommt, dass nur ein geringer Teil der Menschen innerhalb des Systems überhaupt wissen, wie die Zusammenhänge aussehen oder allein in der Lage wären, simpelste Maschinen zu bauen, geschweige denn eine komplizierte Sache wie einen Computer konstruieren könnten. Dies bedeutet, sie sind für das System entweder mehr oder weniger biologische Werkzeuge, wenn sie nicht eine rein verwaltete dahin vegetierende Masse sind, die nicht an der Gestaltung beteiligt sind.
Bei allem geht es nicht um ein, hätten wir dieses oder jenes getan, was könnten wir tun, sondern schlicht um ein: Das ist der Zustand! Danach gilt es diesen zu bewerten, ihn für schlecht oder gut zu befinden, sich für ein Beibehalten der grundlegenden Prinzipien zu entscheiden oder Änderungen mit neuen Maximen einzuleiten.

Ich kann mir in einem derartigen Gespräch noch eine ganze Menge mehr Fragestellungen vorstellen. Wie gesagt, es geht im Prinzip um einen zuvor entsandten Kundschafter oder bereits dort lebenden Informanten. Beim Entsenden besteht die Kunst darin, die richtigen Aufträge und Fragen mit auf den Weg zu geben. Wenn ich etwas über ein Lokal wissen will, weil ich dort demnächst essen gehen will, ist ein wiederkehrender Kundschafter, der mir lang und detailliert die Inneneinrichtung beschreibt, ziemlich wertlos. Beim Alien wäre es wahrscheinlich die pure Neugierde. Ich denke, ihn würde interessieren, warum von der gesamten Population der dominanten Spezies ein überschaubarer Anteil darauf versessen ist, den Planeten unbewohnbar zu machen und sich die Mehrheit nicht dagegen wehrt. Der Stammesführer wäre immerhin selbst betroffen. Wenn nicht er, dann wenigstens absehbare Folgegenerationen. Zynisch könnte man ihn darauf hinweisen, dass es mittlerweile zum System dazu gehört, nicht mitmachende Völker zu vernichten und sich in bester Gesellschaft befindet. Wenn ihm dies nicht gefällt, müsste er sich Waffen besorgen und den anderen den Garaus machen, womit er schnell den Weg der anderen beschreiten würde.
Dem Alien könnte auffallen, dass der Stammesführer und ein aktuell Krieg führender Putin einer Spezies angehören, somit alle grundlegenden Verhaltensweisen in beiden gleich angelegt sind. Die Befähigung zu einem Sozialverhalten, Kommunikation, Kooperation, Empathie, Aggression, Jagdtrieb, Fortpflanzungstrieb, Imponiergehabe, aber auch Verstand, Vernunft, finden sich sowohl als auch. Den Unterschied machen das System, die davon ausgehende Prägung und sich ergebende Möglichkeiten. Ich fände es spannend, einen Sentinelesen aus der Adaman-See  oder Ayoreo, aus Südamerika zu fragen, ob er ein Interesse an einer Waffe hätte, mit der er auf einen Schlag die ihm bekannte Welt vernichten könnte. Oder wie er eine Nummer kleiner, eine Waffe beurteilen würde, mit der er auf große Entfernungen wahllos jemanden töten kann, den er noch nie in seinem Leben gesehen, gesprochen oder erlebt hat. Oder könnte ich ihnen etwas anbieten, was ihnen Annehmlichkeiten bieten könnte, aber für einige tausend Jahre vor sich hin strahlt und krank macht?

Ich glaube, ich würde dem Alien sagen, dass nicht meine Spezies an sich das Problem ist, sondern augenscheinlich ein spezieller Weg, den Teile eingeschlagen haben und durch die Organisation in Massengesellschaften, die im Aufbau gänzlich nicht dem entsprechen, wo die Spezies evolutionär steht, nicht mehr selbst die Dynamik stoppen kann. Einzelnen mag der Ausbruch gelingen, doch das ändert nichts mehr.

Schweigendes Beobachten

Lesedauer 5 Minuten

Es gibt einen Typen, den ich seit Jahren immer wieder in einem meiner bevorzugten Lokale treffe. Wir beide kennen uns bereits aus der Schulzeit. Ich hab ihn immer als einen Sonderling wahrgenommen. Letztens änderte sich dies. Ich war losgezogen, weil mir die Decke auf den Kopf fiel. All die Nachrichten, das Geschehen um mich herum, trieben mich heraus. Der Laden war voll und er konnte sich nicht an seinen Stammplatz setzen. Dort sitzt er jeden Abend nach seinem Feierabend. Er arbeitet in einer Pflegeeinrichtung für Leute mit geistigen Einschränkungen und Menschen, die mit einer Trisomie 21 (Down-Syndrom) geboren wurden. Der Eindruck Sonderling bezieht sich darauf, dass er nahezu nicht spricht. Meistens sitzt er schweigend mit seinen drei bis vier Weizen am Tisch. Einmal gelang es mir in all den Jahren ihn aus der Reserve zu locken. Aus einem Gespräch mit anderen Leuten ergab sich, dass er einen Verwandten erwähnte, der über Jahrzehnte hinweg einen kleinen festen Kreis mit Marihuana versorgt hatte, bis eines Tages die Kripo vor der Tür stand. So oft kommt es nicht vor, dass richtig alte “Kiffer”, die sich quasi seit den 70ern gegenseitig versorgen, in Schwierigkeiten geraten. Zerknirscht musste ich zugeben, dass ich bei der Aktion beteiligt war. Nicht unbedingt eine meiner Sternstunden. Mit taten die Typen damals leid. Außerdem fühlte ich mich äußerst deplatziert. Deshalb konnte ich mich an die Geschichte erinnern. Sie gehört zu den kleinen Bausteinen eines Gesamtbilds, was mich an einigen Sachen zweifeln ließ. Jedenfalls taute er auf und ich bekam die Geschichte hinter der Geschichte zu hören.m

Zurück zu dem Abend. Ich weiß nicht, was es war. Aber irgendetwas in seinem Blick, mit dem er die anderen Gäste beobachtete, berührte mich. Plötzlich verstand ich all seine Schweigsamkeit. Quer durch den Raum trafen sich unsere Blicke. Es war einer der Momente, wo man ganz genau weiß, was der andere gerade denkt. Eigentlich wollte ich es dabei belassen. Ich setzte mich zu einigen Leuten an den Tisch, die ich mehr oder weniger flüchtig kenne. Nach einer Weile setzte sich ein Paar an den Tisch, die ich bis dahin nicht kannte. Das Gespräch kam auf Corona und der Unbekannte meinte, dass viele die Quarantäneregelung ausnutzen würden und sich eine Art Urlaub verschafften. Ich fragte ihn nach seinem Beruf. Ausnahmsweise hatte ich es nicht erahnt. Es lag vermutlich an der Umgebung, die früher eher nicht von Polizisten privat besucht wurde. Kurz um: einer von der Kripo. Ich ließ ihn nicht auflaufen und sagte ihm, dass ich pensioniert wäre. Gleichzeitig hielt ich ihm entgegen, dass jeder mein vollstes Verständnis hat, wenn er diese Karte zieht. Zumal ich es noch so kenne, dass sich die meisten halbtot zum Dienst schleppen und dann alle anderen anstecken. Das Thema wechselte schnell. Eine junge Frau beklagte sich über einen Nachbarn, der sich daneben benimmt und außerdem dealt. Sie wohnt nicht gerade in der besten und teuersten Gegend. Es ist mehr eine dieser Hochhaussiedlungen, in der sich mehrere hundert Jahre Knast zusammenfinden. Bereits früher vertrat ich den Standpunkt, dass es mit den Mengen und dem Geschäftsmodell nicht weit her sein kann, wenn ein Dealer dort wohnt und am besten noch mit einem Auto unterwegs ist, welches an der nächsten Ecke auseinanderfällt. Deshalb fragte ich nach, ob sie es wirklich für eine gute Idee hält, einen Polizisten, der privat unterwegs ist, damit zu belagern. Zumal sie äußerlich auftritt, als wenn sie normalerweise nicht wirklich etwas gegen Leute hat, die sich mit Kleinkram über Wasser halten.

Ich suchte mir einen anderen Platz. Im Laden war ein anderer aufgetaucht, den ich einen Winter zuvor kennengelernt hatte. Ein Italiener, der sich nach einer harten Zeit zeitweilig als Straßenmusiker und später als Lagerarbeiter durchschlug. Langes schwarzes Haar, jede Menge Nieten und eine Lederjacke, der klassische Heavymetal Fan. Zu ihm hatte sich ein schwäbischer Straßenmaler gesellt. Eigentlich hatte er gute Sachen zu sagen. Doch leider tat er dies in der typisch nasalen aufgeklärten Art, die jeden weniger “Aufgeklärten” zum Rennen bringt. Ich fragte ihn, wie er als älterer gestandener Straßenmaler mit internationaler Erfahrung auf diese neue 3D-Techniken reagieren würde. Darüber war er erstaunt, weil ihn dies wohl noch niemand außerhalb der Szene gefragt hatte. Dabei fand ich die Überlegung naheliegend. Davon zu leben ist ohnehin hart, aber dann kommen die Youngsters daher und machen es noch schwerer. Aber man kann das wohl recht zügig erlernen, weil es dafür in Quadrate aufgeteilte Vorlagen gibt, an denen man sich orientieren kann.

Auch dieses Gespräch verlief sich irgendwie. Wie auch immer es kam, stand ich später neben meinem schweigsamen Bekannten: “Sag mal, Du siehst jeden Tag eine vollkommen andere Lebensrealität, als die Menschen, die sich hier sammeln und dennoch gibt es viele Gemeinsamkeiten. Die hier verpacken alles anders, aber letztlich sind sie genauso unterwegs, wie die von Dir betreuten. Dann kommst Du her, siehst Dir den Zirkus an und denkst Dir einfach Deinen Teil. Warum sprechen? Sie würden es ohnehin nicht kapieren, oder?” Seine Antwort war ein Grinsen. In diesem Moment überkam mich beängstigender Gedanke. Ich sah ihn an und fügte hinzu: “Ich habe echt Sorge, genauso zu werden.”
Ich ließ den Blick nochmals schweifen. Als ich vor Corona in Südostasien unterwegs war, ging es mir gut. Ich traf auf Menschen aus den unterschiedlichsten Ländern und vor allem Biografien, Sichtweisen, Ansätzen, die wohltuend anders waren. Im Prinzip stellten sie dar, was mir mal unter dem Begriff alternative Pfade begegnete. Man wählt unter mehreren möglichen Wegen einen aus. Wo einen die anderen hingeführt hätten, kann man erahnen, aber nicht wissen. Bei der Auswahl orientiert man sich häufig an den Beschreibungen, Warnungen, Prophezeiungen anderer. Und je mehr die alternativen Strecken als schlecht, unwegsam, oder als Irrwege dargestellt werden, die einen nicht dort ankommen lassen, was als das richtige Ziel erachtet wird, um so geringer wird die Vielfalt.
Gleichsam hat es mit einer Risikobewertung zu tun. Manchmal ist es das, was den Unterschied zwischen einem Kriminellen und einem “rechtschaffenden” Bürger ausmacht. Eine Straftat, die einen lukrativen Gewinn verspricht, kommt stets mit einem Risiko daher. Komme ich durch, habe ich in kürzester Zeit soviel Geld ergaunert, wie ich mit 15 Jahren ehrlicher Arbeit nicht verdienen werde. Kriegen sie mich, komme ich eventuell nie wieder auf die Beine. Meinem Erleben nach ist es häufig mit der Moral nicht weit her. Lange Zeit habe ich Leute gefragt, warum sie nicht stehlen. Meistens lautete die Antwort: “Weil es verboten ist!” Sehr selten kamen moralische oder ethische Erwägungen. Ich erinnere mich auch an die Sympathien, die einem Arnold Funke, besser bekannt unter dem Namen “Dagobert” entgegenschlugen. Ich gebe zu, dass ich auch Favoriten habe. Die Typen, welche damals die Rohrpost der Spielbank anzapften und niemals geschnappt wurden, hatten echt Stil.
Es ist auch der Unterschied zwischen einem jungen Mann oder Frau, die/der sich für eine Beamtenlaufbahn entscheidet. Jahrzehntelang geregelte Armut, mit der Aussicht nach hinten raus auf der sicheren Seite zu sein oder sich zum Beispiel selbstständig zu machen und eine Chance zu haben, damit den großen Wurf zu landen.
Von dort aus, wo ich stand, sah ich nur Menschen, die auf einem Weg unterwegs waren. Manche am Anfang, die meisten irgendwo auf halber Strecke, wenige am Ende.

Sie glauben alle an ihre Unterschiede. Manche sehen sich als Rebellen, die alles ganz anders machen. Dabei ist das eine Falle. Am Anfang dieses Weges gehört das Auflehnen dazu. Nicht zu heftig, weil dann das Risiko ansteigt. Aber was soll schon mit ein wenig provokativen Aussehen, einem Motto-Shirt, ein wenig Körpermodifikation und Rezipieren von ein wenig Untergrundkultur passieren?  Später kann man sich damit brüsten, nicht immer ein etabliertes Leben geführt zu haben, sondern wie alle anderen, die in der Jugend etwas auf sich hielten, dagegen gewesen zu sein. Genau genommen haben sie nicht bemerkt, dass diese Rebellion für andere ein Geschäftsmodell ist, welches sie ein Leben lang begleiten wird. Wo sind die großen Unterschiede zu denen, die sich in ihrer Einfachheit nicht in die großen theoretischen Rechtfertigungen und Erzählungen ergehen können? Es bleibt ein betreutes Leben auf einem vorgezeichneten Weg.

Ich kritisiere dies nicht. Da stände ich mit meiner Biografie auf verlorenen Posten. Aber ich kann Menschen respektieren und bisweilen auch die bewundern, die einen anderen Weg gehen oder gingen. Wobei ich dabei genau hinschaue, wofür und warum jemand die Risiken eingegangen ist. Doch so oder so, ist es ein Ausbruch aus der Betreuung, das Suchen eines anderen, jenseits des breiten asphaltierten Weges, den die breite Masse geht. Viel zu viele Menschen lassen sich in vorbereitete Gruppen pressen, in denen sie schnell Opfer des Gruppendenkens und der Gruppenmoral werden. Den eingangs erwähnte Bekannten hat das Leben, mehr oder weniger ohne sein Dazutun, außerhalb der ganzen Gruppen gestellt. Deshalb erkennt er, wie sie alle zu Mitgliedern geformt werden, während ausgerechnet seine Schützlinge bedingt durch ihre speziellen Voraussetzungen das Individuelle leben können oder dürfen?

Mein täglich Twitter gib mir …

Lesedauer 14 Minuten

Ich habe letztens überlegt, wann ich meinen ersten Account bei Twitter anlegte. Vergessen! Irgendwie kam ich über Facebook dazu. Twitter passte mehr zu meinen ersten Schritten im Internet. Als alles aufkam, entdeckte ich recht schnell die Newsgroups. Wie bei Twitter gab es da eine Menge Unsinn, aber auch durchaus interessante Gruppen. Na ja, eigentlich mehr Unsinn, als wirklich Informatives. Schon damals beharkten sich sich die Gruppenmitglieder. Doch es gab eine gewisse Hygiene. Wer allzu auffällig wurde, kickten die Administratoren ins Abstellgleis. Meistens gab es mehrere Ansagen, irgendwann bekam man eine Merkbefreiung ausgestellt, bis man sich endgültig einen neuen Account zulegen musste. In der ersten Zeit hatte ich noch einen bösen Spaß daran, Leute hochzunehmen.

Und wenn ich ehrlich bin – eine saudoofe Phrase, weil sie suggeriert, dass ich es sonst nicht bin – treiben sich bei Facebook zu viele Bekannte herum. Wenn ich die sehen oder sprechen will, werde ich Mittel und Wege finden, bis dahin interessieren mich viele ihrer Aktivitäten nicht. Außerdem hat man sich nichts mehr zu erzählen, wenn man alles auf Facebook nachlesen kann. Doch ich scheue mich mein Konto zu löschen, weil ich damit meinen Kumpel “Kommissar Emmes” killen würde. Er ruht, aber ist nicht tot!

Die alten Quälgeister

Ich denke, Twitter befriedigt bei mir im gewissen Sinne u.a. eine masochistische Neigung. Als ich noch bei der Polizei beschäftigt war, gab es in den ausgelagerten Gebäuden des Landeskriminalamts einen wöchentlichen Anzeigedienst. Normalerweise gehen die Leute zum nächsten Abschnitt und erstatten dort ihre Anzeigen. Aber wenn es schon einmal jemanden in ein Polizeigebäude verirrt, dann soll sie oder er, dort auch sein “Begehren” vorbringen können. Dummerweise verirren sich die meisten nicht, sondern denken sich, dass es eine gute Idee wäre, sich direkt an die Spezialdienststelle der Kripo zu wenden. Meistens sind dies recht spezielle Persönlichkeiten. Die ersten “Alu-Hüte” sind mir in diesem Zusammenhang bereits vor dem Fall der Berliner Mauer begegnet. Manche hörten Klopfzeichen von Geheimdiensten, glaubten an Gedankenmanipulationen, damals noch externe elektronische Gerätschaften zur Kontrolle und fiese Geheimgesellschaften, die ihnen Übles wollten. All die ganzen Verschwörungstheorien sind nichts Neues. Skull&Bones, Illuminaten, Bilderberger, Satanisten, gab es bereits in den Achtzigern. QAnon und alles, was sich darum herum rankt, ist ein Aufguss der alten Nummern. Letztlich nicht verwunderlich, weil diejenigen, welche sich den Kram ausgedacht haben, Kinder der Achtziger sind. Sehr selten war damals mal ein Treffer dabei, bei dem an der vorgetragenen Geschichte etwas dran war. Die Stadt war im Aufbruch, die östlichen Geheimdienste mussten sich neu sortieren und einige durchaus wichtige Leute, verselbstständigten sich. Ich bin in dieser Zeit mehrfach über den KGB, Veteranen des MfS und anderer Geheimdienste gestolpert. Einige waren arbeitslos geworden und suchten sich passend zu ihren Fähigkeiten und dem bestehenden Netzwerk neue Betätigungsfelder. Da passte es gut, dass die östlichen Geheimdienste stets gute Kontakte zu den westlichen kriminellen Netzwerken unterhielten. Nicht alles sind Verschwörungen, sondern lang angelegte Operationen der jeweiligen Dienste.

Das Problem besteht darin, dass die meisten Leute mit Realitätsverlust erstmal recht unauffällig auftreten und recht schlüssig erzählen. Erst nach einer Weile kommt der Punkt, an dem man ins Grübeln gerät. Kriminalbeamte haben immer mal wieder mit Geschichten zu tun, die aus einem Roman oder Film zu stammen scheinen, aber tatsächlich stattgefunden haben. Wenn aber plötzlich der uneheliche Sohn des Bundeskanzlers vor einem sitzt, der angeblich jahrelang für den Mossad arbeitete und deshalb vom KGB mit Terrorstrahlen aus der Nachbarwohnung belästigt wird, erscheint dies einem doch ein wenig unglaubwürdig. Ganz anders verhält es sich mit einem Ex-Agenten, der sich selbstständig gemacht hat und im Auftrag einer Gruppe russischer Geschäftsleute Gelder einfangen soll, die von anderen russischen Kriminellen aus Versehen den falschen Leuten abgepresst wurden. Ich kann nicht sagen, dass ich die alle vermisst habe. Unser Gesellschaftssystem spuckt halt immer mal wieder Leute aus, die entweder die Kontrolle verloren haben oder die Gnade erfuhren, in ihrer eigenen abgeschlossenen Welt zu leben. Das kann man sehr unterschiedlich sehen. Jedenfalls tauchen solche Leute auch bei Twitter auf. Also die Desorientierten! Die anderen bestimmt auch, aber ich denke, die stehen wieder auf irgendwelchen Gehaltslisten. Nur im Unterschied zu damals, sitzen die nicht in einem Büro bei der Kripo, sondern tippen ihren Kram ins Smartphone und werden von Leuten gelesen, die ihnen Glauben schenken.

Die Nervtöter

Es bleibt und ist eine meiner Schwächen, die Zustände nicht annehmen zu können, wie sie sind. Diese alte Weisheit: “Man gebe mir die Stärke, die Dinge zu ertragen, die ich nicht ändern kann, und die zu ändern, wo ich etwas tun kann!” – bleibt eins meiner Stoßgebete. Zumal ich weiß, dass ich fast nichts von dem ändern kann, was ich gern ändern würde. Wenn andere von den Geistern sprechen, die sie verfolgen, meine ich all die Stereotype, die ich in meinem Leben kennenlernte.

Da wären die, welche ihre Tweets gern mit “In was für einer Welt …” anfangen. Na, was meinst Du wohl? Die, welche Du sehen könntest, wenn Du einmal Deine Augen aufmachen würdest! Nein, da draußen ist vieles nicht in Ordnung und die Leute sehen weg. Sie suhlen sich in ihrer Dekadenz, Bequemlichkeit, beschäftigen sich mit sich selbst, rollen mit dem Auto von A nach B, betreten ein Gebäude, machen ihren Job, stellen keine Frage zu viel, fahren wieder nach Hause, stellen den Rasensprenger an und das war’s. Oder ich “liebe” all diese Empörten, welche sich darüber mokieren, dass irgendwo am anderen Ende der Welt niedliche Katzen, Hunde, gequält werden. Warum haben sie kein Problem damit, dass Millionen Viecher, Geflügel, in der Hölle leben müssen? Es ist ihnen auch vollkommen schnuppe, dass ihre geliebten Vierbeiner mit Fleisch aus der Massentierhaltung gefüttert werden. Sie lassen sich für Twitter ein empörten Tweet nach dem anderen einfallen, weil irgendwo einer aus dem falschen Land mordete. Aber die verprügelten Ehefrauen, misshandelten Kinder, all die Missbrauchten hinter verschlossenen deutschen Türen in der Nachbarschaft, interessieren sie nicht. Eben sowenig, wie sie sich Gedanken über “Ur-Deutsche” machen, die in Laos, Kambodscha oder Thailand Kinder missbrauchen. Da sind noch nicht all die Opfer unserer Lebensart, Konsumverhalten und Arroganz mit eingebucht. Würden sie sich damit auseinandersetzen, wüssten sie, in welcher Welt sie leben und vor allem müssten sie sie aushalten! Aber genau dies können sie nicht. Sie wollen die Guten unter all den Bösen sein! Es wäre hart zuzugeben, dass sie keinen Deut besser sind.
Auch mir bereitet der Ukraine-Krieg Kopfzerbrechen. Doch die Mahner, welche die Finger in die Wunde legen und darauf hinweisen, dass all dies auch in Georgien, Tschetschenien, Syrien, Irak, stattgefunden hat und sich deutlich weniger Leute aufregten, haben schlicht recht. Und sie liegen auch richtig, wenn sie bemerken, wie unterschiedlich der Umgang mit den Fliehenden ist. Kommst Du aus dem falschen Land, hast vielleicht noch den falschen Glauben oder gar eine unpassende Hautfarbe – wird es eng für Dich. Das ist aber kein deutsches oder europäisches Thema. In Asien findet mit anderen Flüchtenden eine Parallelveranstaltung statt. Und ob man nun im warmen oder im kalten Wasser ertrinkt, ist auch egal.

Zu meinen weiteren Lieblingen gehören die, welche ich unter der Sammelbezeichnung die Dekadenten zusammenfasse. Wie auch immer es dazu gekommen ist: Sie haben ihren Hintern ins Warme und Trockene bekommen. Sie leben jeden Tag mit einer Anspruchshaltung. Wie sie die begründen, bleibt ihr Geheimnis. Der Witz ist der: Ich kann nur auf etwas verzichten, was mir eigentlich aus irgendwelchen Gründen zusteht. Unter anderen Umständen oder in einem anderen Land geboren, wären sie genauso gekniffen, wie die Mehrheit der Menschen auf dem Planeten Erde. Da ist erstmal Demut gefragt und nicht Rumpöbeln. Und wenn andere noch mehr zusammengerafft haben als ich, begründet dies keine Berechtigung nachzuziehen, sondern eröffnet eher die Möglichkeit, dass die deutlich zu viel haben. Abgesehen vom sozialen und finanziellen Bodensatz der Industriegesellschaften, saugen wir diesen Planeten aus. Mit Kommunismus, Sozialismus oder der allgemeinen Bezeichnung “links” hat das nichts zu tun. Es ist vielmehr der gesunde Menschenverstand, der einen zu diesem Schluss kommen lässt. Gern wird von diesen Leuten vertreten: “Wir können nicht alle retten!” Hat auch niemand gefordert. Es genügt völlig, es zu unterlassen, Umstände zu schaffen, die sie in Not bringen. Wenn die untergehen, gehen wir auch unter! Bildlich gesprochen sitzen wir in einem Boot auf hoher See und theoretisch könnten wir mit vereinten Kräften das nächste feste Land erreichen. Wenn aber ein Teil der Insassen alles aufrisst, werden alle verhungern und zu schwach sein, das Land zu erreichen.

Und -Ja-, in einem komplexen System bringt es herzlich wenig, wenn mal der eine oder andere, zu verganen Lebensmitteln greift, das Auto stehen lässt, die Temperatur herunterregelt oder sonst etwas Tolles macht. Aber wenn ich den Ferengis mit meiner eifersüchtigen kleinlichen Haltung ständige die Stange halte, wird sich nichts ändern. Dann werden die Frauen und Männer, welche Politik für eine persönliche Partie Schach halten, bei der sie gegen einen Gegner spielen, aber völlig außer Acht lassen, dass es um alle geht, den Karren weiter in Richtung Abgrund steuern. Stattdessen sollte lieber dazu übergegangen werden, alle mit innovativen Ideen und kooperativen Verhalten zu unterstützen.

Die Stammtisch - Kampfpiloten

Ich glaube, das ist die größte Gruppe. Im realen Leben sind ihre Äußerungen vom “Runden Eck” bis zur Studentenkneipe “Barrikade” zu hören. Sie haben klare und simple Feindbilder. Mal sind es die “Linken”, “Gutmenschen”, “Ökoterroristen” und schräg gegenüber sind es die “Nazis”, “Bullen”, “Rassisten”. Das Gute ist, man kann mit ihnen schnell Freund werden, weil sie nicht bemerken, wie einfach es ist, ihre Ressentiments zu bedienen. Sie reiten per Meinung und Sprache jeden Esel, der gerade durch ihr Dorf getrieben wird. Amüsant ist dabei, wie keiner von ihnen die Ähnlichkeit bemerkt. Haben die einen es niemals für nötig gehalten, sich differenziert mit den unterschiedlichen Ansätzen auseinanderzusetzen, die sie alle unter “links” zusammenfassen, hat sich die Gegenseite zu keiner Zeit damit beschäftigt, worin sich Faschismus, Neue Rechte oder Nationalsozialisten unterscheiden. Die meisten wurden schlicht in ihrem Dorf geboren. Wären sie auf der anderen Straßenseite aufgewachsen, würden sie daher reden, was dort gerade Usus ist.

Ich persönlich halte von diesem klassischen ganzen “links” und “rechts” überhaupt nichts. Am Ende ist entscheidend, welches Bild man vom Menschen an sich und dem Leben hat. Sind wir in der Lage freie Entscheidungen zu treffen oder sind wir Getriebene unserer Hormone, den im Gehirn angelegten Wahrnehmungsfehlern, den blitzschnellen Reaktionen im ZNS und in der Amygdala? Wie sehr sind wir von der Gesellschaft geformt und hat jeder die Chance, diesen Prägungen etwas entgegenzusetzen? Was dominiert den Homo sapiens? Der in allen vorhandene Affe oder Vernunft, Verstand, die Fähigkeit zur Empathie, Kommunikation und Kooperation? Traue ich der Spezies Mensch eine eigenständige Umprogrammierung vor und sind wir verdammt dazu, bis zum bitteren Ende der größte und schädlichste Parasit zu bleiben, den dieses planetare Lebenssystem hervorgebracht hat? Inwieweit hat das Individuum eine Bedeutung oder landen wir letztlich immer wieder im Gruppenzwang und laufen Leitfiguren hinterher? Je nachdem, wie ich mir diese Fragen beantworte, werde ich zu einem Ergebnis kommen, wie das Zusammenleben organisiert werden kann.
Die Stammtisch-Piloten haben entweder zu schnelle Antworten oder plappern nach, was ihnen andere mit auf den Weg gegeben haben. Die Jüngeren wissen es noch nicht besser, weil ihnen die Erfahrung fehlt und die Älteren sind verhärtet, weil sie nicht mehr fähig sind, Erfahrungen als etwas zu begreifen, was zwar für die Vergangenheit durchaus passend ist, aber nicht zwingend etwas mit der Zukunft zu tun haben muss. Oftmals gilt auch die alte Weisheit: “Warum urteilst Du über mich, wenn Du noch keinen Meter in meinen Schuhen gelaufen bist!”

Weisheit ist ohnehin keine Stärke der Leute in dieser Kategorie. Allerdings kann man ihnen dieses nicht vorwerfen. Sich die Mühe zu machen, die Welt mit den Augen eines anderen zu sehen, die Fehlbarkeit des Menschen, all die Gedankenfehler zu berücksichtigen, die uns allen widerfahren, ist in unseren Breiten nicht sonderlich ausgeprägt. Dabei ist es ein Geschenk, dies alles tun zu können. In der Rolle des Kriminalbeamten versagte ich mir dies sehr häufig. Sonst wäre meine Birne irgendwann Matsch gewesen. Ich weiß auch nicht, zu wie vielen Leuten ich gesagt hätte: “Komm, hau ab! Schwamm drüber und lass es Dir eine Lehre sein.” Heute darf und kann ich über vieles hinweg sehen. Womit mir ganz andere Fragen möglich geworden sind.

Die unfreiwilligen Selbstgesteller

Spätestens seit der Pandemie wurde auf Twitter und in Deutschland allgemein viel über Freiheit debattiert. Was dabei oftmals vollkommen zu kurz gekommen ist, war die Beschreibung eines erwachsenen, freien Menschen. Grundsätzlich gilt dabei: Alles, was ich mir zugestehe, muss ich auch einem anderen Menschen zubilligen. Ich kann z.B. jederzeit über einen Menschen denken und sagen, was ich will, solange ich ihm dieses Recht auch einräume. Tue ich dies nicht, kommt es zu Problemen bzw. ist es ein Beweis dafür, dass ich die Freiheit nicht respektiere. Auch habe ich das Recht, mich jederzeit anders zu entscheiden und meine Worte aus der Vergangenheit zu verwerfen. Ich muss es nicht einmal begründen. Dies ergibt sich schon aus einer zeitlichen Logik heraus. Zwischen eben noch und jetzt kann viel passieren. Ich wäre ziemlich dumm, wenn ich trotz der Veränderung an meiner alten Entscheidung festhielte. Dies gilt für mich und bitte auch für jeden anderen Menschen. Ganz nebenbei: Politiker sind Menschen!
Es besteht ein eklatanter Unterschied zwischen Egoismus und Egozentrik. Beim Egoismus bewerte ich meine eigenen Belange höher, als die eines anderen Menschen. Bei der Egozentrik setze ich mich in den Mittelpunkt des Geschehens und erwarte, dass sich alles um mich dreht, was alle außer mir zu äußerst unfreien Menschen macht.

Viele Twitterer übersehen scheinbar eine absolute Grundregel. Bei allem, was ich tue, gebe ich eine Auskunft über mich. Was ich schreibe, wie ich es schreibe, worauf ich antworte, mein Account, selbst dass ich überhaupt auf Twitter unterwegs bin, sind Informationen über mich. Welche Vorstellung von Freiheit hat eine/r, die/der mir schreibt: “Lesen Sie dieses und jenes Buch!” oder mir gar den “Mund” verbietet? Und was sagt sie/er über sich selbst? Welche Schlussfolgerungen kann ich aus der Verwendung irgendwelcher propagandistischen Spin-Begriffen ziehen? Welche Botschaft geben mir beinahe unleserliche Tweets, in denen ein soziologischer Fachterminus an den anderen gereiht ist? Im Dienstbetrieb ergingen sich einige Vorgesetzte gern Texten mit Entlehnungen aus diesem “Marketing-Kauderwelsch”. Wehe, da fragte einer nach, was damit gemeint sei. Mehr als warme Luft kam da nicht als Antwort.
Die Mehrheit stellt sich auf einen Platz und ruft laut nach Gleichgesinnten. Als Jugendliche legten wir uns Klamotten, Turnschuhe und Frisuren passend zu unserer “Bewegung” zu. Da die Punks, dort die Teds, in der nächsten Ecke die Popper und einige Meter weiter die New-Romantiker. Bei Twitter ist das nicht viel anders. Wir sind die, mit dem “Antifa – Account”, die da haben einen “Blueline-Cop-Account”, da hinten sind die “Welterklärer”, dort die “Esoteriker”, da die “Provo-Kids”. Jeder, der bei Twitter unterwegs ist, kann selbst jede Menge ergänzen. Mit Freiheit hat das wenig zu tun. Eher mit dem freiwilligen Eintritt in eine Gruppe, die über eine Gruppen-Moral, Konsens verfügt und vor allem sozialen Druck ausübt.

Für mich liefern sie alle eine Menge Spaß. Ich liebe es, wenn sich Menschen freiwillig entblößen und mich meinen alten Job zum Hobby machen lassen.

Streithähne, Kombattanten und Nutznießer.

Negativ verlaufende Konflikte folgen immer dem gleichen Muster und wer Spaß daran hat, das  9-Stufen Verlaufsmodell von Friedrich Glasl nachzuvollziehen, braucht sich nur einen Twitter-Account zu besorgen. Praktisch ist dabei, dass man alles nachlesen kann und nicht auf lange Suche nach einem Ursprungskonflikt gehen muss, sondern die hinreichend bekannten gesellschaftlichen Konflikte nehmen kann. Einer dieser Konflikte ist das Spannungsfeld Polizei und Gesellschaft, besonders zu denen, die aus unterschiedlichen Motiven heraus, etwas an und in der Gesellschaft verändern wollen. 
An dieser Stelle schon mal vorweg einige Bemerkungen an die, welche diesen “Fraktionen” angehören. Meine Berufs- und Lebenserfahrung sagt mir, dass die wirklich “harten” Charaktere kaum auf Twitter unterwegs sind. Die einen sind viel zu paranoid dafür und die anderen haben Sorge dienstliche Konsequenzen tragen zu müssen. Selbst aus dem kriminellen Milieu ist kaum jemand bei Twitter. Wenn es nicht gerade durchgeknallte Rapper sind, die hoffen Kapital daraus schlagen zu können, haben die andere Sachen zu tun oder treiben sich auf Plattformen, wie Facebook (viele!), Instagram oder bei Telegram (ganz viele!) herum.
Einer der ersten Schritte, die ein Mediator unternimmt, ist die Suche nach Gemeinsamkeiten. Nahezu alle, die diese Twitter-Konflikte austragen, haben ein Mitteilungs- und Sendebedürfnis (ergibt sich aus der Natur der Sache/Social Media), haben eine Position und engagieren sich dafür (schon mal ein Unterschied zu vielen anderen Zeitgenossen), haben wenigstens ein rudimentäres Interesse zu kommunizieren und wollen meistens andere für sich gewinnen. Das ist schon mal eine ganze Menge. Wenn sich jetzt auch noch gemeinsame Ziele fänden und einfach nur ein Wegkonflikt vorliegt, also wie man das gemeinsame Ziel erreichen kann, hätte ein/e Mediator/in eine reelle Chance. Aber gut, dies ist hier nicht gefragt.

  1. In der ersten Stufe kommt es zu einer Verhärtung. Beim Beispiel kann man dies getrost als gegeben voraussetzen.
  2. Die Teilnehmer nehmen feste Standorte ein. Der Begriff ist wichtig! Über einen Standort kann nicht diskutiert werden. Wir haben es mit einer Debatte zu tun. Die tobt schon eine ganze Weile. Bisher ist noch alles im grünen Bereich.
  3. Es kommt zu Taten. Da wird geblockt, Screenshots werden erstellt, Tweets werden gemeldet.
  4. Langsam kommt Sorge um das eigene Image auf. Was tut man in solchen Fällen? Man sucht sich Mitstreiter, die einem zur Seite stehen, Reputation liefern oder Unterstützung liefern. Langsam wird es unangenehm.
  5. Es kommt die Angst des Gesichtsverlustes auf. Dementsprechend rau wird der Ton und die Wortwahl.
  6. Die ersten gegenseitigen Bedrohungen tauchen auf. Mal mehr oder weniger subtil. Man weiß, wo die oder wohnt, welche Dienststelle usw.
  7. Meldungen sind draußen. Sperrungen erfolgen. Dienststellenleiter melden sich per Mail. Die Presse wird aufmerksam.
  8. Die beiden Lager stehen sich endgültig feindselig gegenüber. Kommunikation ist nicht mehr übergreifend möglich.
  9. Einige Accounts verschwinden von der Bildfläche.

Da fragt man sich als Zuschauer: Wissen die wirklich nichts Besseres mit ihrem Leben anzufangen? Und wenn nicht, was ist da los? Dazu schreibe ich noch etwas bei der letzten Gruppe. Gemein ist dabei, dass es bei alledem auch Nutznießer gibt. Man mag mir dafür mit gestreckten Fingern ins Gesicht springen, aber all das Gerede über den Anspruch eine bessere Polizei zu schaffen, Untersuchungen zu betreiben, damit sich etwas in der Gesellschaft verbessert, die “panische” Angst vor rechten Umtrieben in der Polizei, treiben mir Falten der Skepsis auf die Stirn.
Ich hab das hier im BLOG schon einige Male ausgeführt. Entscheidend ist nicht, ob einige Frauen und Männer in der Polizei die Ideologie der “Neuen Rechten” (dies machen mindestens 50 % der UNION-Mitglieder) oder neofaschistisches Gedankengut in sich tragen, vereinzelt strammere Rassisten, als der Rest der Deutschen sind. Spannend ist die Frage, ob sie sich im Fall der Fälle gegen eine politische Wende stellen würden und sich politische Entscheidungsträger ihrer bedienen können. Dafür braucht es keine Begeisterung. Opportunismus reicht völlig aus. Und ich bin kein Schlauschlumpf und der einzige Insider. Eine ganze Menge, was da bei der Polizei passiert, hat etwas mit Überlastung, der sich immer mehr zeigenden verhärteten Konflikte in der Gesellschaft, der fehlenden Antworten auf die sich am Horizont abzeichnenden Probleme und vor allem auch mit den Aufträgen aus der Politik zu tun.
Die sich da teilweise als ehemalige Polizisten in die Wissenschaft, Ausbildung, aber auch in die Gewerkschaft verzogen haben, haben klug gehandelt und sich ins Trockene gerettet. Ich hoffe die/der eine oder andere verzeiht mir meine persönliche Desillusionierung, aber ein wenig habe ich auch schon gesehen. Das Thema #Polizeiproblem ist in vielerlei Hinsicht eine lohnende Beschäftigung, die einen aus der Schusslinie nimmt, dem Aufstieg nicht hinderlich ist und vor allem sehr wenig mit dem eigentlichen Polizeiberuf zu tun hat. Mit Sicherheit ist immer eine Prise Engagement dabei, doch alles andere zu leugnen, halte ich für unredlich.
Ich fände es fair, wenn sich diese Angesprochenen aus den Konflikten heraushielten und sich aus der Beobachterposition heraus die notwendigen Informationen holen. Und für Mitarbeiter, die sich zu weit herauswagen, gibt es immer noch Vorgesetzte und eine Personalverantwortung. Dies muss man allerdings auch in Betracht ziehen. Bei allem Verständnis für Frustrationen, akuten Erlebnissen, internen Konflikten, die den Kessel unter Dampf setzen, sollten sich einige überlegen, ob nicht das Bier nach dem Dienst die bessere Wahl, als Twitter ist.

Je mehr sich die Lage verschärft, Kriege, Flüchtlinge, Klimakatastrophe, wirtschaftliche Veränderungen, um so mehr wird es Proteste, Unruhen, Riots und noch einiges mehr geben. Wie sich dies alles entwickeln wird, kann sich jeder in der europäischen Nachbarschaft ansehen. Frankreich, Belgien, Spanien, sind meiner Meinung nach nur ein leichter Vorgeschmack. Und auch Polizisten werden nicht umhinkommen, ihre Postionen zu suchen. Doch es dürfte eine schlechte Idee sein, diese private Nummer zu einer dienstlichen zu machen. Wenn es in der einen oder auch in der anderen Richtung nicht mehr geht, bleibt immer noch, den halben Bogen im Geschäftszimmer abzugeben und zu quittieren.

Den Kritikern sei gesagt, dass vieles einer gewissen Logik folgt. Das satte Deutschland bewegt sich wie ein schwerfälliger Tanker, dessen Unversehrtheit von kleineren Schiffen geschützt wird. Ich bin der Letzte, der nicht nachvollziehen kann, wenn jemand sagt: “Das ist zu langsam!” Aber genau diese Trägheit, Zuverlässigkeit, Vorhersehbarkeit, ist gewünscht und auch dafür gibt es die Polizei. Außerdem ist die Welt in Bewegung geraten und das bringt eine Menge mit sich. Ich schrieb letztens in einem Tweet: “Intellektuelle haben Verständnisprobleme bei Kriminellen.” Zu dieser Aussage stehe ich. Wie kompliziert eine Flüchtlingslage werden kann, lernte ich z.B. in den 90ern, als sich zusammen mit den vor dem Jugoslawien-Krieg fliehenden Leuten, die halbe Albanische, Serbische und Bosnische Organisierte Kriminalität mit auf den Weg machte. Als Externer kann ich es mir leisten, einiges zu ignorieren und all die Grauzonen, die menschliche Schicksale mit sich bringen, anders zu betrachten. Polizisten bleibt die undankbare Aufgabe der Kontrollen, Identitätsfeststellungen, Durchsuchungen und das Eingreifen. Einschränkend muss ich basierend auf diesen Erfahrungen wiederum feststellen, dass seitens Politik und der DPolG diesbezüglich eine Unmenge populistischer und hetzerischer Blödsinn erzählt wird. Seit den 90ern kann kein Krimineller an einer Grenze gestoppt werden. Schon gar nicht die Typen, welche wirklich interessant sind. Aber, dies ist ein anderes Thema. 

Therapiegruppe Twitter

Vor nicht allzu langer Zeit bekam ich eine Lektion erteilt, die bis heute mein Leben prägt. Ich lernte, wie viele Menschen am bestehenden System scheitern, einsam mit den Folgen leben müssen und wie wichtig es sein kann, von Leuten zu wissen, denen es genauso geht. Richtig genutzt, kann Twitter ausnahmsweise ein Segen sein. Depressionen, die einen auf der Couch fesseln, oder diese Einsamkeit, trotz der Anwesenheit vieler anderer Menschen, kann mit Twitter nicht behoben werden, aber unter Umständen der erste kleine Schritt in die richtige Richtung sein.

Allerdings geht es nur über Solidarität und mitfühlenden Leuten, die merken, was los ist und sich auch noch darauf einlassen, weil sie wissen, wo sich der andere befindet und wie wichtig einfach ein Like sein kann. Vielen, den es so geht, “funktionierten” einmal ganz im Sinne des von der FDP hochgelobten “Leistungsprinzips”, bis eben genau dieses, sie an die Wand fuhr. Es gibt immer mal wieder Leute bei Twitter, mit denen ich recht rüde umspringe. Bei dieser Gruppe unterlasse ich es. Jene, welche sich einen anonymen Account eingerichtet haben und offen das Wort Depression oder Burnout aussprechen, sind bereits weit gekommen. Übler sind die dran, die selbst noch gar nicht wissen, was mit ihnen los ist. Es ihnen zu sagen, würde nichts bringen. Darauf müssen sie alleine kommen. 

Ich möchte hier zum Ende meines Beitrags einen Wunsch an alle richten, die wissen und verstehen, was ich meine. Egal ob anonym oder mit einem Klarnamen, postet Eure Schwächen und sich ergebenden Probleme. Verpackt sie wegen meiner mit Humor. Sei es der seit Wochen nicht geöffnete Briefkasten, die sich stapelnde ungelesene Post, die ohnehin nur aus Rechnungen besteht, die Scham, weil nicht mehr geht, was mal selbstverständlich war, der ungeplante Serien-Marathon, die Katzen und Hunde, die die letzten Vertrauten geblieben sind (da mach ich mal ne Ausnahme), die Unordnung, der Abwasch oder was sonst noch alles eine Rolle spielt. Egal, wie groß die Reichweite ist, es reicht, wenn eine oder einer es liest, die/der auf diese Weise erfährt: Ich bin nicht alleine! Andere sind auch gestolpert, sind alle, können nicht mehr, sind im Abwärtsstrudel gelandet.

Viel zu häufig lassen wir uns zu Maschinenbauteilen machen und halten “funktionieren” für das Normalste auf der Welt. Dabei ist es gar nicht so einfach. Wer innerhalb des Systems sein Ding gemacht hat, ist eingebunden und alles Mögliche wird eingefordert. Alleine schon, weil wir es immer gemacht haben und es deshalb kein anderer machen musste. Bis zu dem Tag, an dem es heißt: So, Du hast alle Warnzeichen ignoriert, dann kommt jetzt mal das andere Programm. Das interessiert aber keine Behörden, Banken, Abrechnungsstellen, Arbeitgeber. Ziemlich zügig landet jemand, der bis vor kurzer Zeit noch auf andere schaute und nicht verstehen konnte, wie diese “Assis” nichts auf die Reihe bekommen vor dem eigenen gefällten Urteil.

Dies ist noch der ungefährliche Part. Gefährlich wird es, wenn die Kränkung hinzukommt. Da hat jemand alles gegeben und plötzlich prügeln alle auf sie/ ihn alle ein und wollen etwas. In diesem Moment kann die Erkenntnis, dass man halt auch nur ein Mensch ist, wie all die anderen, denen es laut Tweet nicht besser geht und es vielleicht gar nicht das eigene Unvermögen ist, sondern noch mehr eine Rolle spielt, das Leben retten.

Ps.: Ich weiß das alles, weil ich es überlebt habe und viele kennenlernen durfte, die ganz erstaunt voreinander standen: Du auch? Lehrer/innen, Staatsanwälte/innen, Richter/innen, Polizei, Selbstständige, da war alles dabei.