9 April 2022

Mein täglich Twitter gib mir …

Lesedauer 14 Minuten

Ich habe letztens überlegt, wann ich meinen ersten Account bei Twitter anlegte. Vergessen! Irgendwie kam ich über Facebook dazu. Twitter passte mehr zu meinen ersten Schritten im Internet. Als alles aufkam, entdeckte ich recht schnell die Newsgroups. Wie bei Twitter gab es da eine Menge Unsinn, aber auch durchaus interessante Gruppen. Na ja, eigentlich mehr Unsinn, als wirklich Informatives. Schon damals beharkten sich sich die Gruppenmitglieder. Doch es gab eine gewisse Hygiene. Wer allzu auffällig wurde, kickten die Administratoren ins Abstellgleis. Meistens gab es mehrere Ansagen, irgendwann bekam man eine Merkbefreiung ausgestellt, bis man sich endgültig einen neuen Account zulegen musste. In der ersten Zeit hatte ich noch einen bösen Spaß daran, Leute hochzunehmen.

Und wenn ich ehrlich bin – eine saudoofe Phrase, weil sie suggeriert, dass ich es sonst nicht bin – treiben sich bei Facebook zu viele Bekannte herum. Wenn ich die sehen oder sprechen will, werde ich Mittel und Wege finden, bis dahin interessieren mich viele ihrer Aktivitäten nicht. Außerdem hat man sich nichts mehr zu erzählen, wenn man alles auf Facebook nachlesen kann. Doch ich scheue mich mein Konto zu löschen, weil ich damit meinen Kumpel “Kommissar Emmes” killen würde. Er ruht, aber ist nicht tot!

Die alten Quälgeister

Ich denke, Twitter befriedigt bei mir im gewissen Sinne u.a. eine masochistische Neigung. Als ich noch bei der Polizei beschäftigt war, gab es in den ausgelagerten Gebäuden des Landeskriminalamts einen wöchentlichen Anzeigedienst. Normalerweise gehen die Leute zum nächsten Abschnitt und erstatten dort ihre Anzeigen. Aber wenn es schon einmal jemanden in ein Polizeigebäude verirrt, dann soll sie oder er, dort auch sein “Begehren” vorbringen können. Dummerweise verirren sich die meisten nicht, sondern denken sich, dass es eine gute Idee wäre, sich direkt an die Spezialdienststelle der Kripo zu wenden. Meistens sind dies recht spezielle Persönlichkeiten. Die ersten “Alu-Hüte” sind mir in diesem Zusammenhang bereits vor dem Fall der Berliner Mauer begegnet. Manche hörten Klopfzeichen von Geheimdiensten, glaubten an Gedankenmanipulationen, damals noch externe elektronische Gerätschaften zur Kontrolle und fiese Geheimgesellschaften, die ihnen Übles wollten. All die ganzen Verschwörungstheorien sind nichts Neues. Skull&Bones, Illuminaten, Bilderberger, Satanisten, gab es bereits in den Achtzigern. QAnon und alles, was sich darum herum rankt, ist ein Aufguss der alten Nummern. Letztlich nicht verwunderlich, weil diejenigen, welche sich den Kram ausgedacht haben, Kinder der Achtziger sind. Sehr selten war damals mal ein Treffer dabei, bei dem an der vorgetragenen Geschichte etwas dran war. Die Stadt war im Aufbruch, die östlichen Geheimdienste mussten sich neu sortieren und einige durchaus wichtige Leute, verselbstständigten sich. Ich bin in dieser Zeit mehrfach über den KGB, Veteranen des MfS und anderer Geheimdienste gestolpert. Einige waren arbeitslos geworden und suchten sich passend zu ihren Fähigkeiten und dem bestehenden Netzwerk neue Betätigungsfelder. Da passte es gut, dass die östlichen Geheimdienste stets gute Kontakte zu den westlichen kriminellen Netzwerken unterhielten. Nicht alles sind Verschwörungen, sondern lang angelegte Operationen der jeweiligen Dienste.

Das Problem besteht darin, dass die meisten Leute mit Realitätsverlust erstmal recht unauffällig auftreten und recht schlüssig erzählen. Erst nach einer Weile kommt der Punkt, an dem man ins Grübeln gerät. Kriminalbeamte haben immer mal wieder mit Geschichten zu tun, die aus einem Roman oder Film zu stammen scheinen, aber tatsächlich stattgefunden haben. Wenn aber plötzlich der uneheliche Sohn des Bundeskanzlers vor einem sitzt, der angeblich jahrelang für den Mossad arbeitete und deshalb vom KGB mit Terrorstrahlen aus der Nachbarwohnung belästigt wird, erscheint dies einem doch ein wenig unglaubwürdig. Ganz anders verhält es sich mit einem Ex-Agenten, der sich selbstständig gemacht hat und im Auftrag einer Gruppe russischer Geschäftsleute Gelder einfangen soll, die von anderen russischen Kriminellen aus Versehen den falschen Leuten abgepresst wurden. Ich kann nicht sagen, dass ich die alle vermisst habe. Unser Gesellschaftssystem spuckt halt immer mal wieder Leute aus, die entweder die Kontrolle verloren haben oder die Gnade erfuhren, in ihrer eigenen abgeschlossenen Welt zu leben. Das kann man sehr unterschiedlich sehen. Jedenfalls tauchen solche Leute auch bei Twitter auf. Also die Desorientierten! Die anderen bestimmt auch, aber ich denke, die stehen wieder auf irgendwelchen Gehaltslisten. Nur im Unterschied zu damals, sitzen die nicht in einem Büro bei der Kripo, sondern tippen ihren Kram ins Smartphone und werden von Leuten gelesen, die ihnen Glauben schenken.

Die Nervtöter

Es bleibt und ist eine meiner Schwächen, die Zustände nicht annehmen zu können, wie sie sind. Diese alte Weisheit: “Man gebe mir die Stärke, die Dinge zu ertragen, die ich nicht ändern kann, und die zu ändern, wo ich etwas tun kann!” – bleibt eins meiner Stoßgebete. Zumal ich weiß, dass ich fast nichts von dem ändern kann, was ich gern ändern würde. Wenn andere von den Geistern sprechen, die sie verfolgen, meine ich all die Stereotype, die ich in meinem Leben kennenlernte.

Da wären die, welche ihre Tweets gern mit “In was für einer Welt …” anfangen. Na, was meinst Du wohl? Die, welche Du sehen könntest, wenn Du einmal Deine Augen aufmachen würdest! Nein, da draußen ist vieles nicht in Ordnung und die Leute sehen weg. Sie suhlen sich in ihrer Dekadenz, Bequemlichkeit, beschäftigen sich mit sich selbst, rollen mit dem Auto von A nach B, betreten ein Gebäude, machen ihren Job, stellen keine Frage zu viel, fahren wieder nach Hause, stellen den Rasensprenger an und das war’s. Oder ich “liebe” all diese Empörten, welche sich darüber mokieren, dass irgendwo am anderen Ende der Welt niedliche Katzen, Hunde, gequält werden. Warum haben sie kein Problem damit, dass Millionen Viecher, Geflügel, in der Hölle leben müssen? Es ist ihnen auch vollkommen schnuppe, dass ihre geliebten Vierbeiner mit Fleisch aus der Massentierhaltung gefüttert werden. Sie lassen sich für Twitter ein empörten Tweet nach dem anderen einfallen, weil irgendwo einer aus dem falschen Land mordete. Aber die verprügelten Ehefrauen, misshandelten Kinder, all die Missbrauchten hinter verschlossenen deutschen Türen in der Nachbarschaft, interessieren sie nicht. Eben sowenig, wie sie sich Gedanken über “Ur-Deutsche” machen, die in Laos, Kambodscha oder Thailand Kinder missbrauchen. Da sind noch nicht all die Opfer unserer Lebensart, Konsumverhalten und Arroganz mit eingebucht. Würden sie sich damit auseinandersetzen, wüssten sie, in welcher Welt sie leben und vor allem müssten sie sie aushalten! Aber genau dies können sie nicht. Sie wollen die Guten unter all den Bösen sein! Es wäre hart zuzugeben, dass sie keinen Deut besser sind.
Auch mir bereitet der Ukraine-Krieg Kopfzerbrechen. Doch die Mahner, welche die Finger in die Wunde legen und darauf hinweisen, dass all dies auch in Georgien, Tschetschenien, Syrien, Irak, stattgefunden hat und sich deutlich weniger Leute aufregten, haben schlicht recht. Und sie liegen auch richtig, wenn sie bemerken, wie unterschiedlich der Umgang mit den Fliehenden ist. Kommst Du aus dem falschen Land, hast vielleicht noch den falschen Glauben oder gar eine unpassende Hautfarbe – wird es eng für Dich. Das ist aber kein deutsches oder europäisches Thema. In Asien findet mit anderen Flüchtenden eine Parallelveranstaltung statt. Und ob man nun im warmen oder im kalten Wasser ertrinkt, ist auch egal.

Zu meinen weiteren Lieblingen gehören die, welche ich unter der Sammelbezeichnung die Dekadenten zusammenfasse. Wie auch immer es dazu gekommen ist: Sie haben ihren Hintern ins Warme und Trockene bekommen. Sie leben jeden Tag mit einer Anspruchshaltung. Wie sie die begründen, bleibt ihr Geheimnis. Der Witz ist der: Ich kann nur auf etwas verzichten, was mir eigentlich aus irgendwelchen Gründen zusteht. Unter anderen Umständen oder in einem anderen Land geboren, wären sie genauso gekniffen, wie die Mehrheit der Menschen auf dem Planeten Erde. Da ist erstmal Demut gefragt und nicht Rumpöbeln. Und wenn andere noch mehr zusammengerafft haben als ich, begründet dies keine Berechtigung nachzuziehen, sondern eröffnet eher die Möglichkeit, dass die deutlich zu viel haben. Abgesehen vom sozialen und finanziellen Bodensatz der Industriegesellschaften, saugen wir diesen Planeten aus. Mit Kommunismus, Sozialismus oder der allgemeinen Bezeichnung “links” hat das nichts zu tun. Es ist vielmehr der gesunde Menschenverstand, der einen zu diesem Schluss kommen lässt. Gern wird von diesen Leuten vertreten: “Wir können nicht alle retten!” Hat auch niemand gefordert. Es genügt völlig, es zu unterlassen, Umstände zu schaffen, die sie in Not bringen. Wenn die untergehen, gehen wir auch unter! Bildlich gesprochen sitzen wir in einem Boot auf hoher See und theoretisch könnten wir mit vereinten Kräften das nächste feste Land erreichen. Wenn aber ein Teil der Insassen alles aufrisst, werden alle verhungern und zu schwach sein, das Land zu erreichen.

Und -Ja-, in einem komplexen System bringt es herzlich wenig, wenn mal der eine oder andere, zu verganen Lebensmitteln greift, das Auto stehen lässt, die Temperatur herunterregelt oder sonst etwas Tolles macht. Aber wenn ich den Ferengis mit meiner eifersüchtigen kleinlichen Haltung ständige die Stange halte, wird sich nichts ändern. Dann werden die Frauen und Männer, welche Politik für eine persönliche Partie Schach halten, bei der sie gegen einen Gegner spielen, aber völlig außer Acht lassen, dass es um alle geht, den Karren weiter in Richtung Abgrund steuern. Stattdessen sollte lieber dazu übergegangen werden, alle mit innovativen Ideen und kooperativen Verhalten zu unterstützen.

Die Stammtisch – Kampfpiloten

Ich glaube, das ist die größte Gruppe. Im realen Leben sind ihre Äußerungen vom “Runden Eck” bis zur Studentenkneipe “Barrikade” zu hören. Sie haben klare und simple Feindbilder. Mal sind es die “Linken”, “Gutmenschen”, “Ökoterroristen” und schräg gegenüber sind es die “Nazis”, “Bullen”, “Rassisten”. Das Gute ist, man kann mit ihnen schnell Freund werden, weil sie nicht bemerken, wie einfach es ist, ihre Ressentiments zu bedienen. Sie reiten per Meinung und Sprache jeden Esel, der gerade durch ihr Dorf getrieben wird. Amüsant ist dabei, wie keiner von ihnen die Ähnlichkeit bemerkt. Haben die einen es niemals für nötig gehalten, sich differenziert mit den unterschiedlichen Ansätzen auseinanderzusetzen, die sie alle unter “links” zusammenfassen, hat sich die Gegenseite zu keiner Zeit damit beschäftigt, worin sich Faschismus, Neue Rechte oder Nationalsozialisten unterscheiden. Die meisten wurden schlicht in ihrem Dorf geboren. Wären sie auf der anderen Straßenseite aufgewachsen, würden sie daher reden, was dort gerade Usus ist.

Ich persönlich halte von diesem klassischen ganzen “links” und “rechts” überhaupt nichts. Am Ende ist entscheidend, welches Bild man vom Menschen an sich und dem Leben hat. Sind wir in der Lage freie Entscheidungen zu treffen oder sind wir Getriebene unserer Hormone, den im Gehirn angelegten Wahrnehmungsfehlern, den blitzschnellen Reaktionen im ZNS und in der Amygdala? Wie sehr sind wir von der Gesellschaft geformt und hat jeder die Chance, diesen Prägungen etwas entgegenzusetzen? Was dominiert den Homo sapiens? Der in allen vorhandene Affe oder Vernunft, Verstand, die Fähigkeit zur Empathie, Kommunikation und Kooperation? Traue ich der Spezies Mensch eine eigenständige Umprogrammierung vor und sind wir verdammt dazu, bis zum bitteren Ende der größte und schädlichste Parasit zu bleiben, den dieses planetare Lebenssystem hervorgebracht hat? Inwieweit hat das Individuum eine Bedeutung oder landen wir letztlich immer wieder im Gruppenzwang und laufen Leitfiguren hinterher? Je nachdem, wie ich mir diese Fragen beantworte, werde ich zu einem Ergebnis kommen, wie das Zusammenleben organisiert werden kann.
Die Stammtisch-Piloten haben entweder zu schnelle Antworten oder plappern nach, was ihnen andere mit auf den Weg gegeben haben. Die Jüngeren wissen es noch nicht besser, weil ihnen die Erfahrung fehlt und die Älteren sind verhärtet, weil sie nicht mehr fähig sind, Erfahrungen als etwas zu begreifen, was zwar für die Vergangenheit durchaus passend ist, aber nicht zwingend etwas mit der Zukunft zu tun haben muss. Oftmals gilt auch die alte Weisheit: “Warum urteilst Du über mich, wenn Du noch keinen Meter in meinen Schuhen gelaufen bist!”

Weisheit ist ohnehin keine Stärke der Leute in dieser Kategorie. Allerdings kann man ihnen dieses nicht vorwerfen. Sich die Mühe zu machen, die Welt mit den Augen eines anderen zu sehen, die Fehlbarkeit des Menschen, all die Gedankenfehler zu berücksichtigen, die uns allen widerfahren, ist in unseren Breiten nicht sonderlich ausgeprägt. Dabei ist es ein Geschenk, dies alles tun zu können. In der Rolle des Kriminalbeamten versagte ich mir dies sehr häufig. Sonst wäre meine Birne irgendwann Matsch gewesen. Ich weiß auch nicht, zu wie vielen Leuten ich gesagt hätte: “Komm, hau ab! Schwamm drüber und lass es Dir eine Lehre sein.” Heute darf und kann ich über vieles hinweg sehen. Womit mir ganz andere Fragen möglich geworden sind.

Die unfreiwilligen Selbstgesteller

Spätestens seit der Pandemie wurde auf Twitter und in Deutschland allgemein viel über Freiheit debattiert. Was dabei oftmals vollkommen zu kurz gekommen ist, war die Beschreibung eines erwachsenen, freien Menschen. Grundsätzlich gilt dabei: Alles, was ich mir zugestehe, muss ich auch einem anderen Menschen zubilligen. Ich kann z.B. jederzeit über einen Menschen denken und sagen, was ich will, solange ich ihm dieses Recht auch einräume. Tue ich dies nicht, kommt es zu Problemen bzw. ist es ein Beweis dafür, dass ich die Freiheit nicht respektiere. Auch habe ich das Recht, mich jederzeit anders zu entscheiden und meine Worte aus der Vergangenheit zu verwerfen. Ich muss es nicht einmal begründen. Dies ergibt sich schon aus einer zeitlichen Logik heraus. Zwischen eben noch und jetzt kann viel passieren. Ich wäre ziemlich dumm, wenn ich trotz der Veränderung an meiner alten Entscheidung festhielte. Dies gilt für mich und bitte auch für jeden anderen Menschen. Ganz nebenbei: Politiker sind Menschen!
Es besteht ein eklatanter Unterschied zwischen Egoismus und Egozentrik. Beim Egoismus bewerte ich meine eigenen Belange höher, als die eines anderen Menschen. Bei der Egozentrik setze ich mich in den Mittelpunkt des Geschehens und erwarte, dass sich alles um mich dreht, was alle außer mir zu äußerst unfreien Menschen macht.

Viele Twitterer übersehen scheinbar eine absolute Grundregel. Bei allem, was ich tue, gebe ich eine Auskunft über mich. Was ich schreibe, wie ich es schreibe, worauf ich antworte, mein Account, selbst dass ich überhaupt auf Twitter unterwegs bin, sind Informationen über mich. Welche Vorstellung von Freiheit hat eine/r, die/der mir schreibt: “Lesen Sie dieses und jenes Buch!” oder mir gar den “Mund” verbietet? Und was sagt sie/er über sich selbst? Welche Schlussfolgerungen kann ich aus der Verwendung irgendwelcher propagandistischen Spin-Begriffen ziehen? Welche Botschaft geben mir beinahe unleserliche Tweets, in denen ein soziologischer Fachterminus an den anderen gereiht ist? Im Dienstbetrieb ergingen sich einige Vorgesetzte gern Texten mit Entlehnungen aus diesem “Marketing-Kauderwelsch”. Wehe, da fragte einer nach, was damit gemeint sei. Mehr als warme Luft kam da nicht als Antwort.
Die Mehrheit stellt sich auf einen Platz und ruft laut nach Gleichgesinnten. Als Jugendliche legten wir uns Klamotten, Turnschuhe und Frisuren passend zu unserer “Bewegung” zu. Da die Punks, dort die Teds, in der nächsten Ecke die Popper und einige Meter weiter die New-Romantiker. Bei Twitter ist das nicht viel anders. Wir sind die, mit dem “Antifa – Account”, die da haben einen “Blueline-Cop-Account”, da hinten sind die “Welterklärer”, dort die “Esoteriker”, da die “Provo-Kids”. Jeder, der bei Twitter unterwegs ist, kann selbst jede Menge ergänzen. Mit Freiheit hat das wenig zu tun. Eher mit dem freiwilligen Eintritt in eine Gruppe, die über eine Gruppen-Moral, Konsens verfügt und vor allem sozialen Druck ausübt.

Für mich liefern sie alle eine Menge Spaß. Ich liebe es, wenn sich Menschen freiwillig entblößen und mich meinen alten Job zum Hobby machen lassen.

Streithähne, Kombattanten und Nutznießer.

Negativ verlaufende Konflikte folgen immer dem gleichen Muster und wer Spaß daran hat, das  9-Stufen Verlaufsmodell von Friedrich Glasl nachzuvollziehen, braucht sich nur einen Twitter-Account zu besorgen. Praktisch ist dabei, dass man alles nachlesen kann und nicht auf lange Suche nach einem Ursprungskonflikt gehen muss, sondern die hinreichend bekannten gesellschaftlichen Konflikte nehmen kann. Einer dieser Konflikte ist das Spannungsfeld Polizei und Gesellschaft, besonders zu denen, die aus unterschiedlichen Motiven heraus, etwas an und in der Gesellschaft verändern wollen. 
An dieser Stelle schon mal vorweg einige Bemerkungen an die, welche diesen “Fraktionen” angehören. Meine Berufs- und Lebenserfahrung sagt mir, dass die wirklich “harten” Charaktere kaum auf Twitter unterwegs sind. Die einen sind viel zu paranoid dafür und die anderen haben Sorge dienstliche Konsequenzen tragen zu müssen. Selbst aus dem kriminellen Milieu ist kaum jemand bei Twitter. Wenn es nicht gerade durchgeknallte Rapper sind, die hoffen Kapital daraus schlagen zu können, haben die andere Sachen zu tun oder treiben sich auf Plattformen, wie Facebook (viele!), Instagram oder bei Telegram (ganz viele!) herum.
Einer der ersten Schritte, die ein Mediator unternimmt, ist die Suche nach Gemeinsamkeiten. Nahezu alle, die diese Twitter-Konflikte austragen, haben ein Mitteilungs- und Sendebedürfnis (ergibt sich aus der Natur der Sache/Social Media), haben eine Position und engagieren sich dafür (schon mal ein Unterschied zu vielen anderen Zeitgenossen), haben wenigstens ein rudimentäres Interesse zu kommunizieren und wollen meistens andere für sich gewinnen. Das ist schon mal eine ganze Menge. Wenn sich jetzt auch noch gemeinsame Ziele fänden und einfach nur ein Wegkonflikt vorliegt, also wie man das gemeinsame Ziel erreichen kann, hätte ein/e Mediator/in eine reelle Chance. Aber gut, dies ist hier nicht gefragt.

  1. In der ersten Stufe kommt es zu einer Verhärtung. Beim Beispiel kann man dies getrost als gegeben voraussetzen.
  2. Die Teilnehmer nehmen feste Standorte ein. Der Begriff ist wichtig! Über einen Standort kann nicht diskutiert werden. Wir haben es mit einer Debatte zu tun. Die tobt schon eine ganze Weile. Bisher ist noch alles im grünen Bereich.
  3. Es kommt zu Taten. Da wird geblockt, Screenshots werden erstellt, Tweets werden gemeldet.
  4. Langsam kommt Sorge um das eigene Image auf. Was tut man in solchen Fällen? Man sucht sich Mitstreiter, die einem zur Seite stehen, Reputation liefern oder Unterstützung liefern. Langsam wird es unangenehm.
  5. Es kommt die Angst des Gesichtsverlustes auf. Dementsprechend rau wird der Ton und die Wortwahl.
  6. Die ersten gegenseitigen Bedrohungen tauchen auf. Mal mehr oder weniger subtil. Man weiß, wo die oder wohnt, welche Dienststelle usw.
  7. Meldungen sind draußen. Sperrungen erfolgen. Dienststellenleiter melden sich per Mail. Die Presse wird aufmerksam.
  8. Die beiden Lager stehen sich endgültig feindselig gegenüber. Kommunikation ist nicht mehr übergreifend möglich.
  9. Einige Accounts verschwinden von der Bildfläche.

Da fragt man sich als Zuschauer: Wissen die wirklich nichts Besseres mit ihrem Leben anzufangen? Und wenn nicht, was ist da los? Dazu schreibe ich noch etwas bei der letzten Gruppe. Gemein ist dabei, dass es bei alledem auch Nutznießer gibt. Man mag mir dafür mit gestreckten Fingern ins Gesicht springen, aber all das Gerede über den Anspruch eine bessere Polizei zu schaffen, Untersuchungen zu betreiben, damit sich etwas in der Gesellschaft verbessert, die “panische” Angst vor rechten Umtrieben in der Polizei, treiben mir Falten der Skepsis auf die Stirn.
Ich hab das hier im BLOG schon einige Male ausgeführt. Entscheidend ist nicht, ob einige Frauen und Männer in der Polizei die Ideologie der “Neuen Rechten” (dies machen mindestens 50 % der UNION-Mitglieder) oder neofaschistisches Gedankengut in sich tragen, vereinzelt strammere Rassisten, als der Rest der Deutschen sind. Spannend ist die Frage, ob sie sich im Fall der Fälle gegen eine politische Wende stellen würden und sich politische Entscheidungsträger ihrer bedienen können. Dafür braucht es keine Begeisterung. Opportunismus reicht völlig aus. Und ich bin kein Schlauschlumpf und der einzige Insider. Eine ganze Menge, was da bei der Polizei passiert, hat etwas mit Überlastung, der sich immer mehr zeigenden verhärteten Konflikte in der Gesellschaft, der fehlenden Antworten auf die sich am Horizont abzeichnenden Probleme und vor allem auch mit den Aufträgen aus der Politik zu tun.
Die sich da teilweise als ehemalige Polizisten in die Wissenschaft, Ausbildung, aber auch in die Gewerkschaft verzogen haben, haben klug gehandelt und sich ins Trockene gerettet. Ich hoffe die/der eine oder andere verzeiht mir meine persönliche Desillusionierung, aber ein wenig habe ich auch schon gesehen. Das Thema #Polizeiproblem ist in vielerlei Hinsicht eine lohnende Beschäftigung, die einen aus der Schusslinie nimmt, dem Aufstieg nicht hinderlich ist und vor allem sehr wenig mit dem eigentlichen Polizeiberuf zu tun hat. Mit Sicherheit ist immer eine Prise Engagement dabei, doch alles andere zu leugnen, halte ich für unredlich.
Ich fände es fair, wenn sich diese Angesprochenen aus den Konflikten heraushielten und sich aus der Beobachterposition heraus die notwendigen Informationen holen. Und für Mitarbeiter, die sich zu weit herauswagen, gibt es immer noch Vorgesetzte und eine Personalverantwortung. Dies muss man allerdings auch in Betracht ziehen. Bei allem Verständnis für Frustrationen, akuten Erlebnissen, internen Konflikten, die den Kessel unter Dampf setzen, sollten sich einige überlegen, ob nicht das Bier nach dem Dienst die bessere Wahl, als Twitter ist.

Je mehr sich die Lage verschärft, Kriege, Flüchtlinge, Klimakatastrophe, wirtschaftliche Veränderungen, um so mehr wird es Proteste, Unruhen, Riots und noch einiges mehr geben. Wie sich dies alles entwickeln wird, kann sich jeder in der europäischen Nachbarschaft ansehen. Frankreich, Belgien, Spanien, sind meiner Meinung nach nur ein leichter Vorgeschmack. Und auch Polizisten werden nicht umhinkommen, ihre Postionen zu suchen. Doch es dürfte eine schlechte Idee sein, diese private Nummer zu einer dienstlichen zu machen. Wenn es in der einen oder auch in der anderen Richtung nicht mehr geht, bleibt immer noch, den halben Bogen im Geschäftszimmer abzugeben und zu quittieren.

Den Kritikern sei gesagt, dass vieles einer gewissen Logik folgt. Das satte Deutschland bewegt sich wie ein schwerfälliger Tanker, dessen Unversehrtheit von kleineren Schiffen geschützt wird. Ich bin der Letzte, der nicht nachvollziehen kann, wenn jemand sagt: “Das ist zu langsam!” Aber genau diese Trägheit, Zuverlässigkeit, Vorhersehbarkeit, ist gewünscht und auch dafür gibt es die Polizei. Außerdem ist die Welt in Bewegung geraten und das bringt eine Menge mit sich. Ich schrieb letztens in einem Tweet: “Intellektuelle haben Verständnisprobleme bei Kriminellen.” Zu dieser Aussage stehe ich. Wie kompliziert eine Flüchtlingslage werden kann, lernte ich z.B. in den 90ern, als sich zusammen mit den vor dem Jugoslawien-Krieg fliehenden Leuten, die halbe Albanische, Serbische und Bosnische Organisierte Kriminalität mit auf den Weg machte. Als Externer kann ich es mir leisten, einiges zu ignorieren und all die Grauzonen, die menschliche Schicksale mit sich bringen, anders zu betrachten. Polizisten bleibt die undankbare Aufgabe der Kontrollen, Identitätsfeststellungen, Durchsuchungen und das Eingreifen. Einschränkend muss ich basierend auf diesen Erfahrungen wiederum feststellen, dass seitens Politik und der DPolG diesbezüglich eine Unmenge populistischer und hetzerischer Blödsinn erzählt wird. Seit den 90ern kann kein Krimineller an einer Grenze gestoppt werden. Schon gar nicht die Typen, welche wirklich interessant sind. Aber, dies ist ein anderes Thema. 

Therapiegruppe Twitter

Vor nicht allzu langer Zeit bekam ich eine Lektion erteilt, die bis heute mein Leben prägt. Ich lernte, wie viele Menschen am bestehenden System scheitern, einsam mit den Folgen leben müssen und wie wichtig es sein kann, von Leuten zu wissen, denen es genauso geht. Richtig genutzt, kann Twitter ausnahmsweise ein Segen sein. Depressionen, die einen auf der Couch fesseln, oder diese Einsamkeit, trotz der Anwesenheit vieler anderer Menschen, kann mit Twitter nicht behoben werden, aber unter Umständen der erste kleine Schritt in die richtige Richtung sein.

Allerdings geht es nur über Solidarität und mitfühlenden Leuten, die merken, was los ist und sich auch noch darauf einlassen, weil sie wissen, wo sich der andere befindet und wie wichtig einfach ein Like sein kann. Vielen, den es so geht, “funktionierten” einmal ganz im Sinne des von der FDP hochgelobten “Leistungsprinzips”, bis eben genau dieses, sie an die Wand fuhr. Es gibt immer mal wieder Leute bei Twitter, mit denen ich recht rüde umspringe. Bei dieser Gruppe unterlasse ich es. Jene, welche sich einen anonymen Account eingerichtet haben und offen das Wort Depression oder Burnout aussprechen, sind bereits weit gekommen. Übler sind die dran, die selbst noch gar nicht wissen, was mit ihnen los ist. Es ihnen zu sagen, würde nichts bringen. Darauf müssen sie alleine kommen. 

Ich möchte hier zum Ende meines Beitrags einen Wunsch an alle richten, die wissen und verstehen, was ich meine. Egal ob anonym oder mit einem Klarnamen, postet Eure Schwächen und sich ergebenden Probleme. Verpackt sie wegen meiner mit Humor. Sei es der seit Wochen nicht geöffnete Briefkasten, die sich stapelnde ungelesene Post, die ohnehin nur aus Rechnungen besteht, die Scham, weil nicht mehr geht, was mal selbstverständlich war, der ungeplante Serien-Marathon, die Katzen und Hunde, die die letzten Vertrauten geblieben sind (da mach ich mal ne Ausnahme), die Unordnung, der Abwasch oder was sonst noch alles eine Rolle spielt. Egal, wie groß die Reichweite ist, es reicht, wenn eine oder einer es liest, die/der auf diese Weise erfährt: Ich bin nicht alleine! Andere sind auch gestolpert, sind alle, können nicht mehr, sind im Abwärtsstrudel gelandet.

Viel zu häufig lassen wir uns zu Maschinenbauteilen machen und halten “funktionieren” für das Normalste auf der Welt. Dabei ist es gar nicht so einfach. Wer innerhalb des Systems sein Ding gemacht hat, ist eingebunden und alles Mögliche wird eingefordert. Alleine schon, weil wir es immer gemacht haben und es deshalb kein anderer machen musste. Bis zu dem Tag, an dem es heißt: So, Du hast alle Warnzeichen ignoriert, dann kommt jetzt mal das andere Programm. Das interessiert aber keine Behörden, Banken, Abrechnungsstellen, Arbeitgeber. Ziemlich zügig landet jemand, der bis vor kurzer Zeit noch auf andere schaute und nicht verstehen konnte, wie diese “Assis” nichts auf die Reihe bekommen vor dem eigenen gefällten Urteil.

Dies ist noch der ungefährliche Part. Gefährlich wird es, wenn die Kränkung hinzukommt. Da hat jemand alles gegeben und plötzlich prügeln alle auf sie/ ihn alle ein und wollen etwas. In diesem Moment kann die Erkenntnis, dass man halt auch nur ein Mensch ist, wie all die anderen, denen es laut Tweet nicht besser geht und es vielleicht gar nicht das eigene Unvermögen ist, sondern noch mehr eine Rolle spielt, das Leben retten.

Ps.: Ich weiß das alles, weil ich es überlebt habe und viele kennenlernen durfte, die ganz erstaunt voreinander standen: Du auch? Lehrer/innen, Staatsanwälte/innen, Richter/innen, Polizei, Selbstständige, da war alles dabei.


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Verfasst 9. April 2022 von Troelle in category "Gesellschaft

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