Moderne Welt

white skeleton figurine on black laptop computer Lesedauer 7 Minuten

Mein Vater ist seit kurzem Witwer und teilt das Schicksal vieler Männer der bürgerlichen Nachkriegsgeneration. Zeitlebens verließ er sich auf das kaufmännische und buchhalterische Können seiner Frau. Computer, Digitalisierung, die neuesten rückwärts eingesprungenen Rittberger bei Bankensicherungssystemen zogen in den Jahren an ihm vorbei. Ihm genügte es, seine EC-Karte in einen Automaten zu stecken, eine vierstellige Nummer einzugeben und das Ding gab ihm Geld. Bei allen anderen Sachen musste er halt zu Hause vorstellig werden. Wie er mit der Haltung in den 80ern und 90ern durch die Polizei kam, ist mir ein Rätsel. Vielleicht nicht ganz. Ich habe noch die Rufe meiner ehemaligen Kollegen im Ohr. „Trölle!“, hieß es dann immer mit einem leicht verzweifelten, dezent aggressiven, Unterton. An irgendeiner Stelle war mal wieder jemand an einem Rechner oder Drucker gescheitert. Auf die Art und Weise kann man auch viel über die angeblich widerlegte Frustration-Aggression-Theorie lernen.
Bereits seit längerer Zeit betrachte ich das Meiste in diesem Zusammenhang als ein groß angelegtes Spiel. Von meinem Vater kann ich das nicht verlangen. Bereits in der Jugend faszinierte es mich, wie er verrenkt unter der Decke klebend eine persönliche Beziehung zu einer Schraube aufbauen konnte, die ein sadistisch-perverser Designer für eine Deckenlampe vorgesehen hatte. Dies ist nur eins von vielen Beispielen für die Dinge, die nachhaltig meine Lebenshaltung prägten. Aus unerfindlichen Gründen neigen Mitglieder moderner industrialisierter Gesellschaften dazu, sich das Leben maximal zu verkomplizieren. Alles muss versteckt sein, möglichst unsichtbar montiert werden und darf das Auge mit der Existenz nicht stören. So als ob es einem peinlich wäre, dass man dem Universum wieder einmal eine Ausgeburt des Großhirns unterwuchtete. Egal, vielleicht gibt es ja tatsächlich Designer, die abends am Tresen sitzen und sich stundenlang darüber amüsieren, wie weltweit Handwerker an ihren Konstruktionen verzweifeln. Bei den Konstrukteuren von Motoren bin ich mir sicher. Warum sollten sie sonst stets neue unzugängliche Plätze für Zündkerzen finden?
Zurück zu den Problemen der neuen Welt oder besser gesagt, in die Zeit der „Digitalen Revolution“. Bisher konnte ich meinen Vater nicht davon überzeugen, dass der Mensch Computer jenseits der Wissenschaft ausschließlich einsetzt, um Probleme zu lösen, die wir ohne sie nicht hätten. Beispielsweise entdeckte ich auf seinem Rechner ein Finanzmanagement-Programm. Ich gebe zu, dass ich so etwas auch mal hatte. Es dauerte eine Weile, bis ich die Hintergründe verstand. Haushaltsbücher gelten als antiquiert. Ich fand mal eins meiner Großmutter. Oben stand, wie viel mein Großvater in der Lohntüte nach Hause brachte, darunter folgten simple Eintragungen über die Ausgaben. Miete, Strom, Milch, Butter, Brot, Belag, Getränke, fertig. Keine Aktien, Depots, Abschreibungen, Sonderausgaben, Werbungskosten, Außenstände bei der Krankenkasse, Rücklagen oder ähnlich verwirrende Dinge. Das Buch ist weder sexy, hip, noch cool. Also machten sich Programmierer ans Werk. Theoretisch kann jetzt jeder mit diesen Programmen nachvollziehen, wie viel Prozent die Nahrungsmittel, das Vergnügen, die Toilettenartikel, ausmachen. Es ist auch nachvollziehbar, wie sich das über das Jahr entwickelte. Oder man kann bestimmen, welche Ausgaben steuerlich relevant sind. Mal ganz abgesehen davon, dass sie dies beim Normalbürger nie sind, weil in der unteren Mittelschicht kaum einer über die Pauschalbeträge kommt. Aber man darf träumen. Genau genommen sind diese Programme zeitraubende PC-Spiele. Etwas philosophischer formuliert, liefern sie eine grafische Darstellung des inneren Zustands „Haben“. De facto benötigt er dieses Programm wie eine singende Einhorn-Figur aus rosafarbenen Plüsch. Leider sperrte es aufgrund einer Fehlbedienung den online-Zugang für die Bank.
Man mag meinen, dass dies kein gravierender Vorgang ist. Tausende geben jeden Tag eine falsche PIN ein. Eben! Damit gehen sie den Banken auf den Zünder. Kaum freuten sich all die Dagobert Ducks über die fantastischen Kostenersparnisse, die sich aus der Freisetzung der teuren Angestellten ergaben, begannen die Kunden online zu nerven. Immer wieder bewundere ich die Genialität Douglas Adams. Im „Anhalter durch die Galaxis“ zeigen sich die Gorgonen verwundert, weil die Erdbewohner nicht rechtzeitig Widerspruch gegen Zerstörung der Erde einreichten. Parallel kämpft einer der Protagonisten um die Unversehrtheit seines Hauses, welches für eine Umgehungsstraße geopfert werden soll. Mitgeteilt wurde dies mittels eines Aushangs im Keller des Rathauses, hier wiederum in einem verschlossenen Raum, für dessen Öffnung ein Antrag notwendig ist. Webpräsenzen von Banken sind ähnlich strukturiert. Alles was verkauft werden soll springt einen an. Mit drei Tasten und zwei Klicks ist der Deal abgeschlossen. Will man einen Kontakt herstellen, wird es schwieriger. Zur Auswahl standen der telefonische Support, ein WhatsApp-Kontakt (extrem bedenklich), eine KI, die den Namen nicht verdient, da sie nur FAQ beantworten kann und einige Formulare, die seltsamerweise nur auf den Kauf weiterer Produkte bezogen sind.
Zunächst rief er selbst bei der Bank an. Sie, die Beraterin und er, der Mann aus der Zeit vor der Digitalen Revolution, sprachen sauber aneinander vorbei. Hilfreich wäre die Klärung gewesen, von welcher Art Gerät jeder spricht. Am Ende war der Zugang wieder dicht. Ich kenne nicht den Masterplan der Sparkasse Berlin, aber am Geld der Senioren scheinen die Verantwortlichen nicht interessiert zu sein. Ich weiß! Sie sind am Geld, richtig formuliert an den Datensätzen, die Geld darstellen, interessiert, aber nicht an diesen lästigen verfallenden Blutsäcken, die nichts mehr generieren, sondern nur noch empfangen. Demnächst, jedenfalls wenn es nach den Ferengis (Mein Vater weiß natürlich nicht, was ein Ferengi ist, aber ohne es zu wissen, kennt er sie doch, weil man Politiker*innen der CDU/CSU/FDP, nicht besser darstellen kann) geht, wird das Geld für die Rente treubrav an Blackrock übergeben. Der Investment-Gigant, soll dann mit einer weiteren europäischen Rentenkasse spielen dürfen.
Also machte ich mich an die Angelegenheit. Ich selbst bin bei einem anderen Institut. Mir fällt es leicht, mit den entsprechenden Apps auf dem Smartphone zu agieren. Aber kann ich das von einer älteren Generation erwarten? Ich denke nicht. Weil ich mir nicht ganz sicher war, was die eigentlich in Sachen online-Banking auf dem Portal wollten und außerdem das richtige Gerät benötigte, stellte ich mich in die Schlange vor der Sparkassen-Filiale. Jedem, der ein wenig Zeit hat, kann ich diese Erfahrung empfehlen. Mit mir zusammen standen dort in der prallen Sonne ca. 20 mehr oder weniger verzweifelte Rentner und Rentnerinnen. Ich bereitete mich innerlich auf erste Wiederbelebungsmaßnahmen vor. Vor uns stand ein typischer Berliner Sicherheitsmann. Schwarzes Hemd, schwarze Jeans, Schuhe von einem bekannten Sicherheitsausstatter und rudimentär der Sprache mächtig, die die Rentner vor ihm sprachen. Immer mal wieder grüßte er knutschend junge kräftige tätowierte Männer, die an allen vorbei zu den EC-Automaten gingen. An den Schaltern spielten sich menschliche Tragödien ab. Es ist nicht schön, wenn man alte Männer in Tränen ausbrechen sieht, weil sie mit dem Humbug überfordert sind. Grotesk wird es, wenn man dabei den Kontrast an den Automaten beobachtet, wo sich merkwürdige Gestalten ihr Geld holen.
Endlich an der Reihe nickte der Angestellte nur mitleidig. Was ich schilderte, war sein täglich Brot. Allerdings konnte er mir nicht das passende Gerät verkaufen. Hätte er dies getan, ergäbe sich daraus für die Bank ein Haftungsanspruch, deshalb müsse man es online kaufen. Über die App, zu der ich keinen Zugang habe, würde sich das Ding ganz leicht kaufen lassen. Zwischenzeitlich rief mich mein Vater an. Bei einer großen Bank in seiner Nähe böten sie ihm einen Seniorenberater an. Zu meiner Begeisterung beschloss er dorthin umzuziehen.
Doch da wäre noch die Sache mit den Konto-Auszügen. Eigentlich simpel, wenn man sich in Berlin befindet und einen Berliner Automaten benutzt. Weilt man in einer anderen Stadt, mögen einen die Sparkassenautomaten nicht. Jetzt ritt mich der Teufel. Auf einem Samstag, zur Primetime, also nachdem alle Hundebesitzer nochmals ihre Lieblinge ausgeführt hatten, 5 Minuten nach Beginn des traditionellen deutschen 20:15 Uhr Fernsehprogrammbeginn, zu der Zeit, in der die Wasserbetriebe die geringste Auslastung haben, rief ich die Hotline an. Es dauerte 30 Minuten, bis sich eine freundliche Dame meldete. Ihr schilderte ich mein hochkomplexes Anliegen, welches manche Absolventen der Betriebswirtschaftslehre nicht regeln können: „Können Sie bitte meinem Vater, Inhaber des Kontos xy, einen Ausdruck des letzten Monats übersenden?“ Theoretisch wäre dies möglich, aber über das online-Banking sei dies viel einfacher. Yeap! Aber nicht, wenn es gesperrt ist. Also bot sie mir die Entsperrung an. Mein müsste hierfür nur eine seiner letzten Abhebungen oder Zahlungen, auf den Cent genau und mit Nennung der Transaktionsnummer benennen. Außerdem noch Geburtsdatum, Kartennummer, Schuhgröße, Essgewohnheiten der Großmutter … Was folgte, war eine kleine Eskalation. Da half auch nicht die Erklärung, dass die arme Frau auch nur ein Opfer der Ferengis und der Digitalen Revolution ist.
Ich schrieb bereits, dass mich der Teufel ritt. Unabhängig vom Anruf hatte ich bereits eine online-Lösung gefunden. Dachte ich! Die Sparkasse hat zwischenzeitlich eine eMail gesandt, dass sie leider Anfragen dieser Art nicht bearbeiten kann, weil sie den Absender nicht verifizieren können. Grundsätzlich wäre das kein Thema, weil sie ja einen Brief absenden. Aber sie wären kein Geldinstitut, wenn sie für den Ausdruck nicht satte 5 EUR berechnen würden.

Ich lehne mich mal weit hinaus. Bei mir ist ein abgebrochenes und ein abgeschlossenes Studium, jahrelange EDV-Erfahrung, diverse Zusatzausbildungen für computergesteuerte Spezialtechnik im Hintergrund. Im Gegenzuge wirft mir kein Installateur Werkzeug und ein Handbuch an den Kopf, damit ich meinen Kram alleine erledige und verlangt auch noch Geld von mir. Ich schrieb hier von Rentnern und Leuten, die sich jenseits der 70 bewegen. Das ist nicht fair und trifft auch nicht die Realität. Viele sind mit alledem überfordert. Hinzu kommen die, welche nicht darüber reden wollen und so tun, als ob sie klar kämen. Eines schönen Tages wird alles sehr simpel sein. Und damit wird es dann richtig gefährlich. Nur noch Insider wissen dann, was im Hintergrund passiert. Damit gibt es dann gar keine Chance mehr sich gegen die eine oder andere Sauerei zu wehren. Vermutlich gebe ich mich einer Illusion hin. Was da wie und warum passiert, weiß ich nicht. Jetzt in diesem Augenblick schreibe ich auf einem Laptop, der über ein WLAN online ist und mit dem ich einen Text schreibe, der aussieht wie früher auf der Schreibmaschine, tatsächlich aber eine Ansammlung von kryptischen Codezeichen ist, von denen ich nichts verstehe. 70 % von dem, was auf dieser Seite geschieht, verstehe ich nicht. Ich bin nicht einmal dazu in der Lage Werbung so einzublenden, dass ich damit Geld verdienen könnte.
Bei Geld bin ich ohnehin raus. Bitcoins, Aktien, Börsenkurse, Finanzprodukte, Tagesgeldkonten, haben mich niemals interessiert und heutzutage will ich damit nichts mehr zu tun haben. Ich weiß, dass da eine Menge Dinge passieren, die nichts Gutes erbringen. Dieses Wissen reicht mir völlig aus. Ich hege einen bösen Wunsch. Meiner Erfahrung nach, gehen alle hochkomplizierten Prozesse eines Tages böse schief, während einfache recht zuverlässig funktionieren. Wie schön wäre es doch, wenn den Freaks irgendwann alles um die Ohren fliegt. Es gäbe dann bedauernswerte Opfer, aber die Überlebenden und nachfolgenden Generationen wären die Gewinner. Im alten Chaplin Film gerät der Protagonist zwischen die Zahnräder einer Maschine. Die Revolution der mechanischen Maschinen ist Vergangenheit, jetzt haben wir es mit der Digitalisierung zu tun. Erich Fromm beschrieb die Moderne als eine Zeit, in der die Menschen alles tote und seelenlose lieben, während sie das Lebendige vernachlässigen. Er sagte dies vor ca. 50 Jahren. Ja, ich kann dem nur zustimmen.


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Verfasst 5. Juli 2022 von Troelle in category "Gesellschaft

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