Vorbei?

Vorab: Ich habe ein sehr schwieriges Verhältnis zu Beerdigungen. Zumindest gilt dies für hiesige Bräuche. Jetzt mögen sich Mitleser des BLOG fragen, wer denn ein gutes hat. Ich weiß es nicht. Mir fällt hierzu nur der alte Kultfilm „Harold und Maude“ ein, in dem sich die betagte Maude und Harold, der exzentrische junge Mann, bei ihren regelmäßigen Besuchen von Beerdigungen kennenlernen. Für mich beginnt es bereits mit den begleitenden Formulierungen. „Jemanden wird die letzte Ehre erwiesen!“ Oder: „Wir nehmen hier Abschied von …!“ Dass den „Hinterbliebenen“ wildfremde Menschen, aufrichtiges Beileid zuteilwerden lassen, macht es nicht besser.
In erster Linie sind Beerdigungen Veranstaltungen für die Lebenden. Gleiches gilt für Gräber und ihre Gestaltung. Der oder die Verstorbene hat mit alledem nichts mehr zu tun. Damit sind sie auch eine Auskunft an die restlichen Teile der Welt über einen selbst. Jeder muss sich überlegen, wie er oder sie mit dem Tod umgehen und welche Form sie im Umgang mit der Zeit danach finden. Mich dabei in ein Korsett der Erwartungshaltung anderer pressen zu lassen, ist mir zuwider. Gerade in den zurückliegenden Tagen hörte ich wieder einmal zu oft: „Das macht man so, dies gehört sich so und dies ist eben unsere Kultur!“ Meine Herangehensweise ist eine völlig andere. In der heutigen Zeit habe ich die Möglichkeit Ideen, Vorstellungen, Philosophien, einer kompletten Erdbevölkerung kennenzulernen. Also kann ich mir aus alledem das mir am schlüssigsten Erscheinende heraussuchen und auch übernehmen. Menschen errichteten früher riesige Steingräber. Andere verbrannten ihre Toten auf Flüssen oder Schiffen. Über lange Epochen hinweg mussten gleich die noch lebenden Frauen und das Gefolge sterben. Jetzt wühlen Heerscharen von Archäologen in der Erde und buddeln aus, was die Vorfahren mühsam unter Steinen verdeckten. Gäbe es Zeitreisende aus diesen Epochen, würden die das bestimmt nicht lustig finden. Zeitweilig besuchte ich gern Friedhöfe. Dort stehen monumentale Grabanlagen mit Statuen und prunkvollen Mausoleen. Botschaften an die Nachwelt, die besagen: „Schau, ich war ein toller, wichtiger Mann oder Frau und konnte mir dies hier leisten.“ Dumm nur, dass selbst längere Recherchen zu diesen Personen, keinerlei Ergebnisse liefern. Mit dem Wirken war es also weit weniger gut gestellt, als mit dem zusammengerafften Vermögen. Andere, die zu Lebzeiten arm waren und eher bescheidene Gräber bekamen, sind heute noch bekannt.
Schau ich mir frische Gräber an, fallen mir stets als Erstes die Trauerkränze und die Blumen auf. Auf den bereits nach zwei Tagen unansehnlich aussehenden Schleifen stehen die Namen der Leute, die ihre Trauer bekunden wollen. In meiner Wahrnehmung steht da: „I was here! 2022!“ Wozu? Warum muss ich anderen Leuten mitteilen, dass ich dort am Grab stand oder nicht vergessen habe rechtzeitig beim Blumenhändler einen Kranz zu bestellen? Ich war da oder nicht, das muss ich mit mir selbst ausmachen. Selbst wenn ich nicht da war, sagt dies noch nichts über mein Verhältnis zu dem – oder derjenigen aus, dessen/deren Körperreste entsorgt werden.
Bei Christen hält ein/e Geistliche/r eine spirituelle Rede. Sie soll den Lebenden Trost spenden. Das klappt aber nur, wenn die Zuhörer auch Christen sind. Weil dies viele erkennen, werden nunmehr häufig Reden von professionellen Grabrednern/innen gehalten. Da die zuvor nichts mit den Verstorbenen zu tun hatten, sind sie auf die Informationen angewiesen, die ihnen zugespielt werden. Im Ergebnis halten sie eine Rede darüber, wie die Informanten sich wünschen, dass die Verstorbenen in Erinnerung bleiben. Ob dies im Einklang mit dem steht, was die zu Lebzeiten selbst wollten, kann niemals geklärt werden. Umgehen kann man dies nur, in dem man seine eigene Grabrede verfasst, die dann verlesen wird. Die wenigsten haben die Gelegenheit dazu. Ich könnte heute eine schreiben und sie hinterlegen. Doch was weiß ich darüber, was in den nächsten Jahren, wenn es für mich gut läuft, noch alles passieren wird? Wenn ich senil bin oder mein Kopf von Schmerzen benebelt ist, kommt auch nichts Wünschenswertes bei heraus. Außerdem ist es ziemlich egal. Was ich in 56 Jahren nicht gesagt habe oder gehört wurde, macht auf dem letzten Meter auch nichts mehr aus. Hinzu kommt die alte Grundregel, dass es mir als Mensch nicht gegeben ist, den Eindruck bei anderen zu hinterlassen, den ich mir wünsche. Jeder macht aus mir in seinem Kopf, was er oder sie für richtig halten. Womit sich auch ergibt, dass da der Körper, die Hülle eines Menschen, verabschiedet wird, dessen Bedeutung für jeden der Anwesenden eine andere war.
Der Tod ist eines der existenziellen Themen, wenn nicht sogar das Thema, des menschlichen Daseins. Er ist zusammen mit der Geburt der einzig sichere Eckpunkt des Lebens. Alles, was dazwischen stattfindet, ist unsere Biografie. Mit 21 Jahren schaute ich bei einer Obduktion zum ersten Mal auf eine Leiche. Der Anblick wirkte irreal. Schaue ich in mich hinein, ist davon das Detail geblieben, wie der Pathologe an den Rippenbögen herumschnitt. Mein Kopf blendete aus, dass da ein menschlicher Körper lag und schaltete auf Rinderrippen um. Es folgten diverse weitere in unterschiedlichsten Situationen. Einige Male sah ich auch Menschen sterben. Eines Tages begriff ich, welches Geschenk mir damit gemacht wurde. Im Gegensatz zu anderen, die dies alles niemals sahen, musste ich mich mit dem Tod unmittelbar auseinandersetzen. Beruflich bedingt blieb es nicht aus, dass ich die unterschiedlichsten Verwesungsstadien kennenlernte. Dabei bekommt man eine Lektion über die Vergänglichkeit. Seltsamerweise fällt einem dies beim Anblick eines menschlichen Leichnams deutlicher auf, als beim Anblick eines toten Tieres. Ich muss dabei an eine Geschichte denken, die über Buddha übermittelt wird. Einigen Mönchen verdrehte eine junge, schöne Frau den Kopf. Sie starb früh an einer Krankheit und wurde im Innenhof ihres Hauses aufgebahrt. Buddha soll einen der Mönche aufgefordert haben, ihn zu begleiten. Doch er verschwieg, dass die Frau bereits einige Tage tot war. Vermutlich geschockt stand nun dieser Mönch im Innenhof. Buddha machte ihm anhand der verwesenden Leiche klar, wie töricht es sei, sich in den vergänglichen Körper zu verlieben.
Anhaften an vergänglichen oder flüchtigen Dingen, Ereignissen, ist im Buddhismus der Dreh- und Angelpunkt der Lehre. Jeder, der sich an diesen Sachen orientiert, anhaftet, wird eines Tages durch den Verlust Leid erfahren. Deshalb gilt es, sich davon zu lösen und sich auf das Ewige und Bleibende zu konzentrieren. Immer, wenn ich einen toten Körper sah, kam in mir eine Frage auf. Was führt dazu, dass die Moleküle, Mineralien, Stoffe, aus denen der Körper besteht, nicht nur zusammen halten, sondern uns als etwas Lebendiges erscheinen?
Hierzu möchte ich noch ein anderes Gleichnis, welches mich in diesem Zusammenhang seit Jahren beschäftigt, anbringen. Wenn ich in einen Tonkrug hineinschaue und darin nichts entdecken kann, werde ich ihn als leer bezeichnen. Doch genau genommen, ist dies nicht der Fall. Immerhin befinden sich darin Unmengen an Molekülen, die ich mit meinen Sinnen nicht wahrnehmen kann. Selbst der Tonkrug an sich ist trügerisch. Physikalisch gesehen ist alles, einschließlich meines Körpers, eine Ansammlung von Energiefeldern mit fließenden Übergängen. Allerdings sprengt dies unsere Vorstellungskraft. De facto ist der Krug ein Versuch, etwas aus dem Ganzen zu separieren und in ihm zu deponieren. Versuch, weil es logisch betrachtet nicht funktioniert. Alles, inklusive jedes Menschen, ist ein Teil vom Ganzen und damit ist das Ganze auch ein Bestandteil von jedem Einzelnen. Zerstöre ich den Tonkrug, verteilt sich, was sich zuvor in ihm befand, aber es ist nicht weg. Warum soll ich den Körper eines lebenden Wesens nicht mit dem Tonkrug vergleichen? Ist das, was den Körper leben ließ, weg, weil er zerfallen ist? Wie verhält es sich mit der Idee, die überhaupt zur Herstellung des Krugs führte? Die Leere machte den Krug erst zu dem, was er war: ein Gefäß!
Was ist überhaupt Leben? Wir sind technisch dazu in der Lage Maschinen zu bauen, die über Sensoren mindestens so viele Informationen erlangen können, wie wir es mittels unserer fünf Sinne tun. Mittels Programmen können sie dazu befähigt werden, diese Informationen für Handlungen zu benutzen. Der Dalai Lama Gyalwa Rinpoche hat zum Thema Leben einmal gesagt, dass alles diese Bezeichnung trägt, was sich aus einem eigenen Antrieb heraus bewegt. Die Maschine hat diesen Antrieb nicht. Die Programmierer haben es vorgegeben. In einem Lebewesen passiert mehr. Triebe, wie Hunger, Fortpflanzung, das Bestreben zu überleben und Emotionen bestimmen das Verhalten. Und all dies ist bei jedem Individuum unterschiedlich ausgeprägt. Ich stelle mir dies wie eine Art die Zeiten überdauernde Formel vor, die immer weiter entwickelt wird und deren temporäre Ergebnisse für uns als lebender Körper sichtbar werden. Dabei ist mir ziemlich egal, wie das bezeichnet wird. Auf jeden Fall überdauert es den Körper. Im Buddhismus gibt es dazu das Bild der Kerze. Man nimmt eine neue Kerze und entzündet sie an einer fast heruntergebrannten. Wenn man sich dieses Bild visualisiert, bekommt man ein Verständnis dafür, was mit Inkarnation gemeint ist.
Gräber und Beerdigungen sind für mich irrelevant, wenn überhaupt sind für mich ein symbolischer Platz oder Ereignis für ein Zwiegespräch im Innern. Mich vom Anhaften an einen vergänglichen Körper zu befreien, war ein wichtiger Schritt in meinem Leben, der mir völlig neue Gedanken ermöglichte. Er war das, womit es mir einfacher gemacht wurde, das Wesen wahrzunehmen. Gleichsam verstellte er mir auch den Blick auf das wirklich relevante. Egal, um wen es dabei geht, immer ist entscheidend, welchen Teil des Wesens ich für mich in Anspruch nahm. Mal ist es der Freund, die Freundin, die Lebenspartnerin, die Mutter oder der Vater. Jeder der Genannten ist unendlich viel mehr gewesen und wird sein, als mir möglich ist zu sehen oder sah. Kürzlich starb meine Mutter. In meiner Weltanschauung endet damit die existenzielle Rolle, die sie in meinem Leben einnahm. In meinem Geist bleibt sie existent. Außerdem bleiben die Prägungen und Veränderungen, die wir gegenseitig erfuhren. Das, was ich hier als Wesen bezeichne, bleibt und wird noch lange Zeit in diesem Universum wirken. In welcher Form und Gestalt, kann ich nicht wissen. Im Prinzip hat sich nicht viel verändert. Anderen erschien sie bisher als Kollegin, Freundin, Ehefrau, Nachbarin, Beraterin, usw.
Nocheinmal zurück zu Beerdigungen. Was da zelebriert wird, ist mir definitiv zu körperlich und wird nicht ansatzweise einem Lebewesen gerecht. Es ist eine gruselige Vorstellung, dass Eheleute nebeneinander liegen und einen langen friedlichen Schlaf geniessen. Ähnlich verstörend finde ich die christliche Aussicht, an einem imaginären himmlischen Platz alle wieder zu sehen, die ein gutes christliches Leben führten oder gegenteilig an einen Ort zu gelangen, wo sich alle herumtreiben, die eben dieses nicht taten. Dabei erinnere ich mich an Odysseus, der in der Unterwelt auf die frustrierten Kämpfer von Troja trifft. Wer braucht denn so etwas? Mal ganz davon abgesehen, dass da diverse logische Fehler eine Rolle spielen. Was ein guter Platz ist, dürfte sehr individuell sein und wer den verdient, erscheint ebenfalls subjektiv. Sorry, Moses, Griechen, Römer, Ägypter, ehemalige Bewohner des Gebiets von Euphrat und Tigris, ich kann da nicht folgen. Was sich Konfuzius, Lao Tze und Buddha zurecht legten, erscheint mir einleuchtender.
Bei aller Trauer darüber, nicht mehr unmittelbar mit meiner Mutter sprechen zu können, spürte ich, wie bei der Beerdigung dennoch ein Lächeln über mein Gesicht glitt. Ich durfte das alles Überdauernde einen Zeitabschnitt lang in der Rolle eines Sohnes erleben. Kurz war ich versucht, mal wieder Zugeständnisse zu machen, um anderen nicht die Veranstaltung madig zu machen. Doch ich denke, es gibt wenige Ereignisse im Leben, die so persönlich sind, wie der Tod unmittelbarer Angehöriger, insbesondere wenn es um eigene Kinder oder die Mutter geht. Mit einigem Abstand betrachtet, saß ich da inmitten von Freundschaften, Bekannten und Menschen, die sie sich auserwählt hatte. Ich, der Sohn, war der oder das Einzige, was sie sich nicht aussuchen konnte, sondern ein Produkt ihrer selbst. Einer Bekannten schrieb ich: “Wenn Du als überzeugter Buddhist einer mitteleuropäischen Beerdigung beiwohnst und Dich auch noch zu erkennen gibst, läufst Du schnell unter dem Verdacht, ein verstrahlter Hippi zu sein, der zu Hause mit Joints und Räucherkerzen um sich wirft.” Einen Buddha stellen sich viele gern in den Garten. Doch fragt man die Aufsteller nach Inhalten und der tiefergehenden Logik, kommen wenige Antworten. Wie auch, wenn die Statue in einem Garten vor einem Einfamilienhaus steht, welches die Bewohner in Besitz genommen hat, während sie glauben, dass es genau anders herum ist. Als ich in einer schwierigen Lebenspahse feststeckte, sagte meine Mutter zu mir: “Junge, bewahr Dir Deinen Glauben und orientiere Dich daran.” Wir sprachen niemals intensiver darüber, aber ich denke, dass sie gut verstand, welche Haltung in mir herangereift ist.
Am Ende folgte ich dem Weg und vermied es, dem Vergänglichen noch mehr davon hinzuzufügen. Wenn wir eine schöne Blume sehen, gibt es die Möglichkeit, sie zu pflücken und sie damit dem Verfall zuzuführen oder wir lassen sie an Ort und Stelle, damit wir sie dort bewundern können. Meine Mutter war keine Freundin von Schnittblumen. Ich brauchte eine Weile, bis ich dies genauso sah und verstand. Auch habe ich mir erspart, meinen Namen auf einer Schleife prangen zu sehen, die ein paar Tage später auf dem Müll landet. Ein Symbol gönnte ich mir. In einigen buddhistischen Ausrichtungen symbolisiert die Schildkröte den Begleiter in die neue Erscheinung. Jetzt sitzt neben ihren körperlichen Überresten eine Nachbildung und stellt meine Hoffnung dar, dass sie eine ein wenig unbeschwertere sichtbare Hülle und Dasein erfährt und ein Teil von ihr, lebt in mir weiter.