Roter Bruder

portrait of a native american woman horseback riding Lesedauer 8 Minuten

Und wieder einmal kommt eine Debatte auf, die meiner Auffassung nach nicht wirklich die Hühneraugen der aktuellen Zeit berührt. Diesmal stehen Karl May und seine frei erfundenen Figuren Old Shatterhand und Winnetou im Fokus. Die meisten kennen die Geschichte. Ein deutscher Vermessungsingenieur kommt in den “Wilden Westen” und arbeitet für eine Firma, die den Ureinwohnern mal wieder Land wegnehmen will. Die wehren sich dagegen und kämpfen unter Anführung ihres Häuptlings und seinem Sohn Winnetou gegen die Besatzer. Der Ingenieur, ein edler Kerl, überzeugter Christ, eines guten rechten Hakens mächtig, freundet sich mit dem Sohn an, verliebt sich in die Schwester, welche von weißen Bösewichten getötet wird. Trotzdem werden die beiden, Sohn und Ingenieur, am Ende Blutsbrüder und der Sohn übernimmt nach dem Tod des Vaters, den Stamm. Wir wissen, dass alles eine reine Fiktion war. Karl May war niemals selbst in den USA, geschweige denn, stand er jemals einem Ureinwohner gegenüber. Daran ist erst einmal nichts Verwerfliches. Eine ganze Menge Autoren*innen schreiben Geschichten, mit denen sie nie etwas zu tun hatten.
Karl May schrieb darüber, wie er sich gute und schlechte Menschen vorstellte. Dazu gehörte auch, dass Old Shatterhand stets bemüht war, seinen Blutsbruder als guten Christen, der nur nicht selbst wusste, dass er einer ist, zu sehen. Nun, so waren und sind einige Anhänger der großen Buchreligionen. Menschen können gut sein und im Sinne der Lehre handeln, aber am Ende fehlt halt der entscheidende Punkt: das Bekenntnis zur Religion. Dass die Ideale des Christentums, inklusive des missionarischen Anspruchs und die kirchliche Ordnung in unserer Kultur immer noch eine Rolle spielen, ist jetzt nach mehreren tausend Jahren nicht weiter verwunderlich.
Egal, zurück zu Karl May. Ich glaube, dass ich beinahe das Gesamtwerk gelesen habe. Als Junge war ich fasziniert und wusste auch nichts davon, dass der Mann nie da war. Karl May, Old Shatterhand, Kara Ben Nemsi, waren für mich eine Person. Ein Abenteurer, der sich fair durch die Lande schlug, fremde Menschen und Kulturen, kennenlernte. Ich wusste nichts davon, dass der sogenannte Wilde Westen zu großen Teilen eine Geschichte menschlicher Verwerflichkeit war. Seien es die ausgebeuteten schwarzen Cowboys, die kaum erwähnt werden, obwohl sie die Mehrheit stellten, oder die amerikanischen Ureinwohner, die unfassbares Leid ertragen mussten. So wie ich mich erst heute frage, woher Karl May eigentlich all die Inspirationen für vermeintliche Folterungen ausgehend von den Ureinwohnern hatte. Ich vermute, er machte dabei Anleihen an das Geschehen im Dreißigjährigen Krieg.

Als die aktuelle Kritik aufkam, rollte ich erst einmal reflexartig die Augen. Habt ihr nichts Besseres zu tun?
Dann dachte ich nach. Ja, dieses idealisierte Menschenbild, welches Karl May da niederschrieb, ist aus heutiger Sicht ein wenig daneben. Ich erinnere mich zum Beispiel an die Stelle, wo alle anderen saufen bis der Arzt kommt und sich daneben benehmen und der gute Deutsche nur Bier trinkt, wofür er ein Lob seitens der Saloon-Betreiberin einheimst. Der Typ schien auch unüberwindbar zu sein. Er ist in den Büchern ein fantastischer Schütze, boxt, rennt schnell und ist widerstandsfähig. Der naive Junge brachte damals das pathologische Verständnis des Deutschen, die Krönung, mit einer simplen Heldendarstellung nicht übereinander. Weil ich schlicht nichts vom Nationalsozialismus, den Wurzeln und der Vorgeschichte wusste. Ebenso war mir Rassismus fremd. Beide, Winnetou und Old Shatterhand waren Helden. Selbst diesen ganzen christlichen Kram konnte ich nicht einordnen. In dieser Zeit las ich ebenfalls Ben Hur und fragte mich, wer denn diese drei Weisen aus den ersten Kapiteln wären. Dass da parallel das Leben Jesu geschildert wurde, kam bei mir erst später an.
Bezüglich Ureinwohner kapierte ich das erst, als ich Tecumseh las und Rassismus trat langsam mit Onkel Toms Hütte in mein Bewusstsein. Nicht ohne Grund spricht man von der Unbescholtenheit eines Kindes. Jemand versteht erst, was Dunkelheit bedeutet, wenn er weiß, was Helligkeit ist. Das Christentum war bei mir zu Hause kein Thema und Rassismus kam nicht zum Tragen, weil da war schlicht niemand. Ich lernte, sich wehren und hauen ist in Ordnung, solange es olympisch bei einem fairen Zweikampf bleibt. Schwache mussten geschützt werden und Respekt ist eine wichtige Sache. Dunkel erinnere ich mich an ein “Indianer-Spiel”, welches böse in die Hose ging, weil wir einen Jungen festbanden und ihn im Eifer vergaßen. Blöd war auch, dass mir meine Eltern Nachbildungen von Schusswaffen verbaten. Aber immerhin hatte ich zeitweilig ein Tipi im Zimmer zu stehen. Aber es blieb bei einem Gummi-Tomahawk, Plastik-Messer, Pfeil und Bogen. Bei letzteren übertrieb mein Vater etwas, das Ding war ganz schön heftig.

Ich kann die Zeit nicht zurückdrehen. Heute weiß ich, was mit den Ureinwohnern geschah. Das Christentum sehe ich äußerst kritisch und der US-amerikanische Rassismus, macht mich in Anbetracht der Tatsache, dass wir im 21. Jahrhundert leben, immer wieder fassungslos. Bei Deutschen ist dies ohnehin der Fall. Bisweilen glaube ich, dass da bei Teilen keinerlei Hoffnung besteht. Und mit all diesem Wissen, kann ich Karl May nicht mehr unvoreingenommen sehen. Aber wie jeden Autor, jede Autorin, Künstler, Maler, Schauspieler usw. muss ich ihn im Kontext der Zeit sehen. Er gehört zum abrufbaren Archiv, was in dieser Zeit los war und wie sich alles entwickelte. Doch nun kommt die Gretchenfrage: Müssen wir dies mit Neuauflagen im gleichen Stil fortsetzen? Ich denke nicht. Kinder haben heute genug andere Vorlagen. Warum nicht als Hobbit, Star Trek Figur, Ninja Turtle, Super-Mario oder Marvel Held, verkleiden? Über das alte “Indianer-Bild” kann man sprechen. Kinder verstehen so etwas durchaus.

Denn eins ist klar, sie verkleiden sich nicht als Ureinwohner, sondern als das Bild, was ihnen vermittelt wird, bzw. wir zeichnen.

Es ist unser Bild, welches sie spielerisch umsetzen und jetzt wieder in neuen Filmproduktionen erneut aufleben lassen. Sie verkleiden sich nicht als Dschingis Khan, Römer oder Hermann der Cherusker. Es hat Gründe, warum sie sich spezielle Figuren heraussuchen. Kinder sind unbestechliche Spiegel. Nicht immer ausschließlich der Eltern, aber ausnahmslos der Gesellschaft. Ich erinnere dabei an die Disney Figur Pocahontas. Da war ich bei meinen Töchtern auch nicht begeistert. Eine verschleppte Frau, zwangsweise christianisiert und in der Fremde an einer Krankheit gestorben, die die Europäer auf den amerikanischen Kontinent brachten, als US-Märchen nach Europa transportiert, hielt ich für mehr als bedenklich. Ums knallhart auszudrücken: Winnetou, als auch Pocahontas, sind neben anderen Aspekten, auch der Versuch mittels Erzählungen, absolute Sauereien schönzufärben, statt sich endlich den grundlegenden Gedankenfehlern der Europäer zu stellen. Irgendwie scheint bis heute aus den Köpfen nicht herauszubekommen sein, dass die europäischen Kulturen die Heilsbringer sind.

Natürlich sind wir nicht die einzigen mit Vorfahren, die ein aus heutiger Sicht verstörendes Gebaren an den Tag legten. Seien es nordafrikanische Sklavenhändler oder von der arabischen Halbinsel, oder Piraten aus der gleichen Ecke, die tausende europäische Seeleute versklavten. Auch in diesem Bereich wurde viel romantisiert, was nicht zu romantisieren ist. Doch wir leben 2022 und es ist immer zweckmäßig vor der eigenen Tür zu kehren. Vielleicht wäre es eine kluge Idee, seitens der Filmemacher mal weniger auf das Kommerzielle zu schauen und neue Helden, mit denen sich die Jugendlichen identifizieren können, zu implementieren. Machen wir uns nichts vor, Winnetou wieder aufzukochen, ist cineastisch mehr eine Verzweiflungstat und kann nur auf den Geldbeutel zielen. Oder möglicherweise sollte man überhaupt mal darüber nachdenken, ob es zweckmäßig ist, alle dunklen Aspekte der Geschichte nachträglich zu idealisieren. Vielleicht tritt dann mal so etwas wie ein Lerneffekt ein?

Auf jeden Fall bringen diese beinahe pubertären Reflexreaktionen, die angeblich erwachsene Politiker*innen aufgrund der durchaus vertretbaren Kritik an den Tag legen gar nichts. Na, etwas zeigen sie schon. Die intellektuellen Qualitäten und der Ausbildungsgrad der Persönlichkeit liegen auf dem Tisch. Wie ich in letzter Zeit bereits mehrfach schrieb, sind all diese Themen nicht derart dringlich, dass sie einer intensiveren Aufmerksamkeit unterliegen sollten. Eher dienen sie der Ablenkung. Dennoch sind die Reaktionen bemerkenswert und signifikant dafür, was in anderen Themenfeldern zu erwarten ist. Wieder einmal ist alles, was sich ihnen nicht sofort erschließt oder eine Reflexion erfordert, links, links-extrem, intellektuelle Verwirrtheit. Letztens schaute ich mir ein Interview mit Herbert Marcuse an. Darin wurde er u.a. gefragt, wie er die Diskriminierung der Juden, auch nach dem Dritten Reich erlebt. Sinngemäß antwortete er, dass er für Diskriminierung nicht unbedingt Jude sein muss, weil Intellektuelle grundsätzlich diskriminiert werden. Grund hierfür sei die Eigenart, dass sie, wenn sie wirklich Intellektuelle sind, den Herrschenden auf die Füße treten. Er verweist dabei auf Ernst Bloch, der meinte, ein Intellektueller ist ein Mensch, der sich weigert, den Herrschenden einen Kompromiss anzubieten. Laut Marcuse sei damit die kritische Haltung gegenüber der repressiven Gesellschaft gemeint, die nirgendwo gern sehen wird.

Nun mag man den Protest oder auch Kritik an einer Neuauflage der Fiktion von Karl May als den Versuch einer Repression durch gesellschaftliche Kräfte betrachten. In meinen Augen ist dies ein derzeit häufig vorkommender taktischer Zug. Diejenigen, welche tatsächlich nicht nur die Majorität stellen, sondern auch die von Macht getragene Deutungshoheit innehaben, unterstellen der kritischen Minorität eine nicht vorhandene Machtposition. Und die Taktik geht auf. Im Übrigen gehört sie zu den Grundwerkzeugen der Propaganda. Ich unterstelle dem anderen, was tatsächlich ich selbst unternehme. Vieles mag der Majorität überzogen vorkommen. Doch ohne lautes Getrommel, würden Homosexuelle heute noch verfolgt werden, vom deutschen Phänotyp (also dem Mix aus Slawen, Goten, Südeuropäern, Mitteleuropäern) abweichende Zeitgenossen als fremdartige Exoten wahrgenommen werden, obwohl sie spießige Schwaben, Bayern oder Nordlichter sind. Auch hier kommt stetig der Reflex: “Ich doch nicht!” Die will ich immer anbrüllen: “Ja, dann bist Du nicht gemeint! Zieh Dir die Jacke nicht an, aber mach die Augen auf und schau Dich mal in einigen ländlichen Gegenden um, oder beobachte mal ganz genau die Blicke einiger Leute.”


Eben diesen Abstand und Überblick erwarte ich von Leuten, die in die Politik gehen. Wenn es alle machen können, die sich von Emotionen, infantilen Persönlichkeitsanteilen leiten lassen und nicht in der Lage sind, sich zu reflektieren, sollten wir einfach wahllos jemanden von der Bushaltestelle nehmen. Ein Teil mag dem Versuch geschuldet sein, komplexe Sachverhalte und Prozesse zu simplifizieren, damit eine kritische Auseinandersetzung gar nicht erst möglich wird. Doch bisweilen überkommt mich der Verdacht, dass einige tatsächlich simpel und einfach strukturiert sind. Der Höhepunkt war einer von der FDP, der sich auf einem Bild mit dem Satz: Ich lass mir meinen Winnetou nicht nehmen, abbilden ließ. Bemerkenswert war mal wieder der Auftritt des stellvertretenden Vorsitzenden der DPolG Bundespolizei Manuel Ostermann, der nicht anders kann, jede Argumentation, die sich ihm nicht erschließt (und das ist eine Menge) als links zu deklarieren. Die DPolG produziert immer mehr einen ausufernden Schaden für das Ansehen der gesamten Polizei. Der junge Mann klinkt sich in jede Debatte ein und sieht überall linksradikale Kräfte am Werk. Diese Paranoia ist normalerweise kennzeichnend für Leute, die eine devote Unterordnung unter das Herrschende erwarten. Diese Position verließ die Polizei der alten Republik in den ausgehenden 70ern des 20. Jahrhunderts. In seiner Position ist er das Aushängeschild für junge Polizisten*innen, die sich am Ende, ob sie sich dagegen verwehren oder nicht, diesem Bild ausgesetzt sehen. Dass es da auch noch eine größere GdP (Gewerkschaft der Polizei) und einen BdK (Bund Deutscher Kriminalbeamter) gibt, die deutlich reflektierter und umsichtiger mit gesellschaftlichen Debatten umgehen, geht dabei unter. Zumal in unserer Zeit seitens der Medien, dem provokativ auftretenden Konservativen und Neuen Rechten der Vorzug gegeben wird (Soviel zum Thema Machtverhältnisse).


Nochmals zurück zu Karl May und den amerikanischen Ureinwohnern. Eigentlich ist es schade, dass wir nie von den echten lernten oder ihnen zuhörten. Im Buch “Touch the Earth” – A Self Portrait of Indian Existenz, Pocket Books New York, 1972, wird auf Seite 15 eine heilige Frau vom Stamm der Wintu zitiert: “Wie kann der Geist der Erde den weißen Mann mögen? Überall, wo der Weiße Mann sie berührt hat, ist sie wund.” (Original: How can the spirit of the earth like the white man? Everywhre the White man has touched, it is sore.)
Es wäre keine schlechte Idee, wenn einige Politiker*innen, Karl May, aus den Händen legten und stattdessen mit echten Ureinwohnern über Fracking, Erdölförderung und leckende Pipelines in ihren Reservaten sprächen. Zum von mir angegangenen Manuel Ostermann möchte ich anfügen, dass ich ihn in seiner Symbolik sehe. Was er menschlich veranstaltet, maße ich mir nicht an zu kritisieren. Unter Umständen war ich als junger Polizist ähnlich unterwegs. Ich halte dies sogar für wahrscheinlich. Aber ich steckte den Kopf nicht so weit aus dem Fenster. Die “Winnetou”- Debatte ist ein erneuter Aufhänger. Dankenswert erleben wir bei Teilen der jüngeren Generation eine längst überfällige progressive, provokante, kompromisslose und auch wehrhafte Bewegung. Hierzu wäre es wünschenswert, wenn die Polizei nicht ähnliche Fehler begeht, wie sie es schon einmal tat. Es ist eben nicht alles in das Korsett Recht, Gesetz und Ordnung zu pressen. In einer Gesellschaft geht es auch um Strukturen, Macht, Deutungshoheiten, die Kontrolle der Herrschenden und Verbesserung. Naturgemäß wird sie dabei von den faktisch Herrschenden eingebunden. Als Mensch, der diesen Beruf ausübt, muss man dabei eine Menge Fingerspitzengefühl entwickeln.

Sie haben ihm ein Denkmal gesetzt

left human hand Lesedauer 5 Minuten

„Ach, was? Den Elefanten gibt es noch?“, dachte ich gestern. Ich glaube, so geht es in letzter Zeit vielen. In Berlin gibt es ein paar alte Institutionen, die alle kennen. Und wenn man nicht gerade Stammgast ist, sondern nur ab und zu mal vorbeischaut, kann man nie wissen, wo das Kneipensterben zugeschlagen hat. Tönnchen, Blauer Affe, Drei Mädel Haus, Alter Schwede, Marianne 137, Barrikade, Goldene Henne, Turandot, sind einige davon. Na, und eben der Elefant am Heinrichplatz, der seit gestern Rio-Reiser-Platz heißt. Zu meiner Freude, saßen drinnen immer noch die Gestalten, welche man dort erwarten darf. Lauter alte Kreuzberger SO36 Kiezgestalten, jeder zweite ein Original für sich. Philosophen, Trinker, Lokalpolitiker, Literaten, Soziologen, Psychologen, Weltenversteher, in einer Person. „Arbeit ist scheiße!”, sagte der eine, als ich mein erstes Bier, ein Jever aus dem Henkel versteht sich, bestellte. Sein Kumpel, ich hatte mich zwischen die beiden gedrängt, raunte an mir vorbei: “Ja, aber wenn die hinter dem Tresen nicht ackern würde, wäre auch kacke!” Der andere schaute auf sein Bier und meinte dann im besten Berliner Dialekt: “Na, und? Dann zapfe ick halt alleene.” Damit war das dann auch geklärt.
Ich ging mit meinem Bier vor die Tür. Der Kiez wollte mit gebührenden Ehren einen der Helden aus den 70ern und 80ern feiern und ihm einen Platz widmen. Eine Stunde vor dem offiziellen Beginn der Veranstaltung fanden sich erstmal die ein, die ohnehin im Kiez wohnen. Die Scherben setzten zum Soundcheck auf der errichteten Bühne an. “Der Traum ist aus, doch ich werde alles geben …”, schallte es über den Platz. Kurz danach folgte der markante Refrain von „Keine Macht für Niemand!“ Das veranlasste ein paar Fans, die schon vor der Bühne standen, gleich mit einzustimmen. Der Slogan stand jahrzehntelang in großen weißen Buchstaben auf einer der Bahnüberführungen in der Yorckstr. Unweit davon steht das Haus, in dem die Scherben zeitweilig residierten. Die sich da heute über Airbnb einmieten, wissen nichts mehr davon. Ich erinnerte mich daran, wie ich als Jugendlicher eine Weile brauchte, den Spruch zu verstehen. Der Umstand, dass meine Großeltern mit Nachnamen Niemandt hießen, machte es nicht einfacher.
Ich fragte zwei Typen, ob ich mich an ihren Tisch hinzusetzen könnte. Beides Urgesteine um die 70. Schnell kamen wir ins Gespräch. Das Kneipensterben bedauerten sie, wie ich. Gemeinsam gingen wir die Liste durch. “Hier ist auch nicht mehr, wie es mal war.” Stellte der eine fest. “Du darfst drinnen nicht mal mehr einen durchziehen. So’n Blödsinn, hat früher auch keinen interessiert. Hinten in der Dresdner, da gibt es einen Laden, da kannst Du einen durchziehen und in Ruhe Dein Bier trinken. Die Spießer und Spekulanten haben den Kiez gekauft. Nur noch Touris hier.” Der Lauf der Zeit dachte ich mir. Bis auf wenige Ausnahmen ist das passiert, was zu erwarten war. Alles ist ein Produkt! Da macht die Rebellion, die Subkultur, keine Ausnahme. Passend dazu liefen an uns die ersten Vorgartenbesitzer mit Fan-Shirts vorbei. Ich glaube, Rio hätte dazu seine ganz eigene Meinung gehabt. Aber er war mehr. In ihm steckte auch ein Romantiker und ein Poet. Er fand die Worte für all das, was die Leute jenseits des Bürgertums dachten, aber nicht ausdrücken konnten. Als er zum Ende seines Lebens mit “König von Deutschland” in den Charts landete, war ich traurig. Ich spürte, wie etwas aufgekauft wurde, woran ich mich lange festhielt. Als ich letztens über die Platte “Radio für Millionen – Kai & Funky (Ton Steine Scherben) & Gymmik” stolperte, jubilierte ich. Man spürt, wie Rio bei anderen etwas anstieß und sie mit dem, was er ihnen gab, weiter arbeiteten.
Nach und nach zog die Prominenz an uns vorbei. “Da ist Claudia. Gewagtes Kleid! Weiß nicht!”, sagte der eine an meinem Tisch. Grinsend entgegnete ich: “Ach, komm. Die geht auch schon auf die 70 zu. Dafür hat sie sich gut gehalten. Vielleicht darf sie ja wieder auf der Bühne das Tambourine halten.” Am Nachbartisch lachte eine auch etwas in die Jahre gekommene Frau. “Vielleicht weiß sie ja jetzt, wo das ganze Geld geblieben ist.” Am Tisch kam nochmal das Thema auf, warum man den Heinrichplatz und nicht den Mariannenplatz, wo die alten Kämpfe tobten, gewählt hatte. Ich sagte dazu: “Hey, Leute. Die mussten schon die Rudi-Dutschke-Straße fressen, da kann man mal ein paar Meter entgegenkommen.”
Ich verabschiedete mich vom Tisch. Irgendwann ging es dann los.
Um einigermaßen etwas hören zu können, musste man sehr nah heran. Eine lästerte: “Vielleicht hat der Senat die Anlage gestellt.” Ein wenig hatte ich auf Marianne Rosenberg und eine Wiederholung ihrer Interpretation von “Der Traum ist aus” beim Abschiedskonzert von Rio gehofft. Aber gut, die alten Männer machten, was wohl am angemessensten war. Sie spielten ein paar Klassiker und überließen die Bühne den Rednern und Rednerinnen. Ich gebe zu, dass ich kaum zu hörte. Mitreißende Reden hört man ohnehin kaum noch. Diese Kunst scheint irgendwie untergegangen zu sein. Die Mischung der Menge war interessant. Junges angepasstes Volk, Familien mit Mutter, Vater und jugendlichen Ablegern, Hipster, die den Kiez angenehm erfrischend finden und sich als Teil von etwas fühlen wollen, wo sie niemals dran teilhaben werden und wenige nicht mehr ganz taufrische Gesellen, denen die Verzweiflung ins Gesicht geschrieben stand. Genau wie ich spürten sie, dass die Schlachten vorläufig geschlagen sind oder zumindest nicht mehr von denen geführt werden, die dort standen. Dann wurde es peinlich. Nach der Enthüllung der Hinweistafel wurde die Bühne einer Band überlassen, die verdächtig nach Andreas Bourani klang. Belangloser Pop und die Scherben? Da half auch nicht die Information, dass sie demnächst im SO36 auftreten. Die müssen auch ziemlich verzweifelt sein. Unvermittelt ging mir ein Lied durch den Kopf, dessen tiefere Bedeutung ich plötzlich verstand. “Denkmal”, von Wir sind Helden.

Hol den Vorschlaghammer!
Sie haben uns ein Denkmal gebaut
Und jeder Vollidiot weiß, dass das die Liebe versaut
Ich werd’ die schlechtesten Sprayer dieser Stadt engagier’n
Die soll’n nachts noch die Trümmer mit Parolen beschmier’n

Wir sind Helden, Denkmal

Vielleicht war es doch keine gute Idee, Rio einen Platz zu weihen. Denkmäler sollen an die Vergangenheit erinnern. Womit dann das, wofür Rio und die Scherben standen, ein abgeschlossenes Kapitel wäre. Wer weiß, vielleicht war das ein Schachzug von Leuten, die keiner auf dem Zettel hat. In mir kam das Bedürfnis auf, zum Ende nochmal das hoffentlich noch Lebendige mitzunehmen. Deshalb zog ich den Trinkteufel. Keine gute Idee! Wahrscheinlich hätte ich mich besser an den Tipp vom Tisch orientieren sollen. Die einstige Rückzugkneipe, wenn alle anderen Läden ins Visier der Staatsmacht geriet, hat der Banalität der Kaufhaus-Punkrocker nicht Stand halten können. Ich vermute ein klassisches Tripadvisor-Opfer. Man sollte dort niemals die Läden posten, die man wirklich mag. Es gibt noch einige Locations, aber ich halte mich an meine Regeln. Ich werde sie nicht verraten. Beim Elefanten kann man eine Ausnahme machen. Das Publikum ist stabil. Die meisten werden in den nächsten 20 Jahren gestorben sein, aber bis dahin sind die zäh.

Mein Highlight? Ich hatte zeitweilig eine Begleitung. Was kann es schöneres für einen Vater geben, wenn ein Mensch, dem man nach dem ersten Schrei leise ins Ohr flüsterte: “Ich werde alles tun, dass Du die Chance bekommst, ein freier Mensch zu sein.”, neben einem steht und textsicher lauthals “Keine Macht für Niemand!” mitsingt? Nein, es ist noch nicht vorbei. Vor gar nicht langer Zeit fuhren wir zu dritt mit dem 9-EURO Ticket durch die Gegend. Wer denkt dabei nicht an “Mensch Meier”?

“Halt mal an, Fritz!”, brüllt da der BVG Knecht
“Ick schmeiß den Meier raus und hol die Polizei”
Doch die Leute riefen: “Sag mal, bist Du blöd, Mensch?
Wir müssen arbeiten, wir haben keine Zeit
Und wenn die da oben X-Millionen Schulden haben
Solln’ses bei den Bonzen holen, die uns beklauen
Du kannst Deinem Chef bestellen, wir fahr’n jetzt alle schwarz
Und der Meier bleibt hier drin, sonst fliegst Du raus!”

Ton Steine Scherben

Nette Geste! Rio-Reiser-Platz! Aber Rio hat sich zusammen mit den Scherben selbst ein Denkmal gesetzt und solange es noch ist, wie er es kennenlernte und den Soundtrack für alle schrieb, die sich nicht damit abfinden wollen, wird ihn auch keiner von denen vergessen und die Lieder weitergeben.

Jugend als Staatsfeind

Lesedauer 8 Minuten

In der Regel sagte ich bei mir dann doch sehr merkwürdig vorkommenden Schilderungen über Polizeieinsätze: „Na ja, jeder hat seine eigene Geschichte. Vielleicht war es dann doch ein wenig anders.“ Immer häufiger nagt ein banger Zweifel an mir. Schloss ich allzu oft von mir selbst auf andere? Verlor ich aufgrund der speziellen Bereiche, in denen ich unterwegs war, ein wenig den Blick für eine Entwicklung?

Gemäß diverser zuverlässiger Quellen[1]u.a. hier https://www.br.de/nachrichten/bayern/wenn-der-augsburger-staatsschutz-im-kinderzimmer-steht,T6NGbJ1 ist es zu folgenden, im Wesentlichen nicht einmal seitens der involvierten Dienststellen bestrittenen Sachverhalt gekommen:
Am 29. November 2019, also in der Nacht vor dem Shopping-Event „Black Friday“ sprühten Greenpeace die Slogans „Brauchst Du das?” und “Buy not!” mit Kreidespray an die Hauswände/Schaufenster von Augsburger Geschäften, die sie sich an dieser Aktion beteiligen. Greenpeace macht daraus auch kein Geheimnis und bekennt sich dazu.
Am folgenden Tag wird im Zusammenhang mit einer Klima-Demo eine 15-jährige Demonstrantin von Beamten in Zivil angesprochen und danach gefragt, ob sie etwas mit den Ereignissen zu tun hätte. In mehreren Publikationen steht dies so beschrieben. Sie verneint die Frage. Trotzdem werden umgangssprachlich ihre Personalien aufgenommen und ein Foto von ihr gemacht. Also wird von zwei Beamten ihre Identität festgestellt und sie wird mit ihrer Kleidung fotografiert. In der Regel wird dieses unternommen um bei gewalttätigen Auseinandersetzungen den Nachweis bringen zu können, dass dieser oder jene Demonstrationsteilnehmer*in eine Straftat, meistens Landfriedensbruch verwickelt war. Die 15-Jährige misst dem Vorfall keine besondere Bedeutung bei. Bis fünf Monate später mehrere Beamte des Polizeilichen Staatsschutzes (nach Aussagen der Mutter 7, was unerheblich ist, weil alles über 2 eine Unverschämtheit ist) mit einem Durchsuchungsbeschluss des Amtsgerichts Augsburg vor der Tür stehen und ihr Zimmer nach Beweismitteln für die Sachbeschädigung, für die sich Greenpeace bekannte, suchen. Gesucht wird nach Spraydosen und einer Jacke, die schemenhaft auf einem Überwachungsvideo erkennbar ist.
Gut, ein/e Sachbearbeiterin bekommt einen Vorgang zugewiesen. Es besteht der Tatverdacht einer Sachbeschädigung, wobei fraglich ist, ob der Tatbestand bei einem leicht entfernbaren Kreidespray erfüllt ist. Denn sie ist nicht gegeben, wenn die Veränderung der fremden Sache nur vorübergehend ist und mit leichtem Aufwand wieder rückgängig gemacht werden kann. Anders: Die Leute bei Greenpeace sind auch nicht auf den Kopf gefallen! Es erfolgt die Auswertung der Aufzeichnungen einer Überwachungskamera. Ab hier wird es ein wenig nebulös. Wie hat das Bild von der Zivilstreife, welches im Zusammenhang mit einer Demo, die am Ende friedlich verlief, unter bedenkenswerten Umständen entstand, zur Sachbearbeitung gefunden? Dies dürfte nur mit einer Kartei funktionieren. Und dort liegen 15-jährige Aktivisten*innen ein?
Ich erinnere mich dunkel daran, dass wir separate Bildkarteien nur mit besonderen Genehmigungen pflegen durften. Und ich befand mich zu dieser Zeit im Bereich Schwerstkriminalität, ausgehend von Täter*innen mit Bezug zur Organisierten Kriminalität vom Balkan. Ähnliches gab es im Bereich Jugendgruppen Kriminalität. Doch auch die waren mit Messern, Schusswaffen und ähnlichen schweren Gerät unterwegs. Bilderkarteien mit Bildern, die mal eben am Rande von Klima-Demos entstehen, an denen sich Aktivisten*innen von Fridays for Future beteiligen? Zumindest liegt der Verdacht nahe.

Weiter! Von der Sachbearbeitung aus wird der Vorgang an die Staatsanwaltschaft ab verfügt (ganz bewusst Amtsdeutsch). Entweder mit der Bitte um die Beantragung eines richterlichen Durchsuchungsbeschlusses oder eine Stufe darunter mit dem Standardsatz: „Wird der StA m.d.B. um weitere Entscheidung und Veranlassung übersandt.“ Es folgen also zwei weitere Instanzen. Eine Staatsanwaltschaft, die das Verfahren nicht aus mangelnden öffentlichen Interesse einstellt und ein/e Richter*in, der/die es für geeignet hält, das Recht auf Unversehrtheit der Wohnung zum Zweck der Beweismittelauffindung bei einer 15-Jährigen aufzuheben. Hierzu ein kleiner Exkurs für Leute, die sich mit solchen Dingen nicht auskennen. In der Praxis kann es passieren, dass ein leitender Beamter die Anordnung einer Durchsuchung selbst treffen muss, weil eine Gefahr im Verzuge vorliegt. Dabei gibt es durchaus Abwägungen und bei unterschwelligen Delikten, kann darauf verzichtet werden, vor allem wenn die Auffindung von Beweismitteln sehr unwahrscheinlich ist. Was will ich denn finden? Spraydosen mit Kreidespray? Die sind handelsüblich und für forensische Untersuchungen ungeeignet. Die Jacke, die nicht einmal gut zu erkennen ist? Bei einem Verbrechen könnte man ein paar Spezialisten in die Spur schicken, die ein Gutachten bezüglich der Physiognomie der aufgenommenen Person erstellen – Verbrechen! Bleibt: Man kann ja mal nachschauen, was man sonst noch so findet. Bin ich dabei! Wenn ich gegen Mitglieder einer Kriminellen Vereinigung ermittle, greife ich nach jedem Strohhalm und nach jeder Eintrittskarte. Aber zur Erinnerung: 15-jährige Aktivistin bei FFF.

Kriminelle leben in dem Lebensgefühl, dass jederzeit mal die Polizei vorbeikommen kann. Denen ist es überwiegend egal, wenn ihre Behausungen durchsucht werden. Teenager bekommen bereits eine Krise, wenn Mutter oder Vater das Zimmer betreten um „biologische Experimente“ zu entfernen. Das Recht auf Unversehrtheit der Wohnung existiert nicht ohne Grund. Es ist ein folgenreicher, tiefgreifender Eingriff in die Privatsphäre, wenn wildfremde Menschen meine Sachen durchstöbern und unter Umständen Sachen aufdecken, die ich nicht preisgeben will. Ein Einbruch oder eine Durchsuchung können das gesamte weitere Leben verändern. Es geht nämlich etwas verloren. Das Vertrauen, die Sicherheit, dass es einen Platz gibt, an dem ich den Blicken vom Rest der Welt entzogen bin.

Nach der Durchsuchung, vor allem wenn sie aus einem nichtigen Anlass heraus passiert, die Gründe eher wacklig sind oder ich schlicht unschuldig bin, habe ich eine Lektion gelernt. Zu jeder Zeit kann die Staatsmacht bei mir eindringen. Auch wegen einer popeligen -eventuell- Sachbeschädigung. Wenn ich eine echte Privatsphäre möchte, bedarf es eines erheblichen Aufwands. Mobiltelefon verschlüsseln, Rechner mit Kryptografie absichern, wirklich private Sachen nicht zu Hause aufbewahren – die komplette Paranoia. Was hat die 15-Jährige noch vor ihrer Volljährigkeit gelernt? Lass Dich nicht einfach von Zivis ansprechen, erst recht nicht fotografieren, ziehe Dir uniformierte Kleidung an, sei vorsichtig, wenn Du auf eine Demo gehst, Basecap, Sonnenbrille. Oder lasse es lieber gleich sein, weil sie Dich schnell einsortieren. Und: Es gibt keinen sicheren Platz!

Ich mache aus meiner Biografie kein Geheimnis. Über zwei Jahrzehnte hinweg observierte ich Straftäter*innen in unterschiedlichen Deliktbereichen. Unter anderen auch politische und religiöse Extremisten. Wer in diesem Bereich arbeitet, muss besonders abwägen, wo die Grenzen sind und ob das Verhalten der Personen die Maßnahmen rechtfertigen. Dabei gab es immer mal wieder Konflikte mit Sachbearbeitern*innen, die gerne alles und jeden beobachten lassen wollten. Ermittlern*innen müssen immer mal wieder Grenzen gesetzt werden, weil sie irgendwann den Bodenkontakt verlieren und nur noch in ihrer Aktenwelt leben. Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass man sich irgendwann nicht mehr der Außenwirkung bewusst ist, weil man nur noch seine Verfahren wahrnimmt. Nicht umsonst ist die Bezeichnung Sachbearbeiter*in! Es wird ein Sachverhalt aufgeklärt. Das klingt abstrakt und neutral. Ohne Ansehen der Person soll nüchtern und objektiv festgestellt werden, was passiert ist und welche Handlungen von wem ursächlich waren. Klingt gut, funktioniert aber nicht. Wenn ich als Ermittler den Menschen und die Gesellschaft aus den Augen verliere, mutiere ich zum Technokraten.

Ich komme nicht umhin, immer mal wieder zu schauen, was ich da als Mensch und Mitglied einer Gesellschaft veranstalte. Mein Handeln ist in ein größeres Konzept eingebunden. Viele einzelne Handlungen ergeben einen Prozess mit einem Ergebnis. Meiner Auffassung kann sich kein Deutscher Beamter aus der Verantwortung stehlen, weil wir die historische Lektion erhielten, dass viele einzelne Unterschriften eine Katastrophe ergeben können. „Ich bin heraus, weil ich nur in einem Sachverhalt ermittelte, der Staatsanwalt hat den Hut auf und immerhin hat ein Richter entschieden!“, ist das Ergebnis einer Hierarchie und gleichsam die Feigheit, eigene Verantwortung zu übernehmen. Mein Job war es häufig, für den/die Sachbearbeiter*in das Auge auf der Straße zu sein. Deshalb weiß ich: Was auf dem Papier geschrieben steht, erweckt oftmals ein falsches Bild vom tatsächlichen Geschehen. Dafür gibt es unterschiedliche Gründe. Manche sind nicht wirklich talentiert beim Schreiben, andere übertreiben, weil sie sich selbst in ein gutes Licht rücken wollen oder sie „trimmen“ den Bericht darauf, dass alles seine Richtigkeit hatte. Bei einer 15-Jährigen sollten die Alarmglocken läuten und mit ganz besonderer Sorgfalt vorgegangen werden. Insbesondere dann, wenn es nicht um eine schwerwiegende Straftat geht.

Ist das der Haken?

Verfassungsschützer, Angehörige des polizeilichen Staatsschutzes, Vertreter von Polizeigewerkschaften, eine ganze Horde Journalisten und Kolumnisten ergehen sich in Statements, bei denen sie von Extremisten und Radikalen sprechen. Wenn ich zurückschaue, assoziiere ich mit diesen Begriffen, islamistische Terroristen, rechte Terrorvereinigungen und Netzwerke, Mitglieder der AiZ, Klasse gegen Klasse, Bewegung 2. Juni, RAF, Baader-Meinhof, alle Vertreter der anarchistischen Vertreter der Propaganda der Tat, Attentäter. Ich denke auch an die Straßenschlachten der autonomen Bewegung in den 80ern, Startbahn-West, Wackersdorf, Brockdorf (wobei hier zum Teil ganz biedere Leute zum Opfer wurden), Verteidigung der Bannmeile um das Rathaus Schöneberg. Mit Sicherheit denke ich nicht an FFF, Ende Gelände, Extinction Rebellion oder Letzte Generation.
Worin besteht denn ihre Radikalität?
Sie behaupten, dass die Zeit dessen, was offensichtlich als gemäßigt gilt, vorbei ist. Faule Kompromisse mit Wirtschaftszweigen, Klientel-Politik, Befriedigung von Lobbyisten, die die Auszahlungen von Renditen sichern sollen, Wirtschaftswachstum vor echter Lebensqualität, ein bemerkenswert in die Schieflage geratenes Verhältnis zu den Lebensressourcen, und eine Gesellschaft, die mittlerweile zu 100 % auf Haben ausgerichtet ist, während das Lebendige in den Hintergrund tritt. Ja, sie rütteln an den Grundfesten der Ergebnisse dessen, was aus dem 20. Jahrhundert hervorgegangen ist und der Welt des 21. Jahrhunderts massive Probleme beschert. Dies taten auch schon Leute im 20. Jahrhundert. Nur entführten die Politiker, zündeten Bomben und erschossen Frauen und Männer. Davon sind die Genannten weit entfernt. Es lohnt sich aber, mal auf die ausgehenden 60er und die 70er zu schauen. Alles begann mal mit Kritik, Forderungen, einem Krieg in Vietnam und einer Staatsgewalt, getragen von einem konservativen Bürgertum, welches nur die Repression, Statik und Verweigerung der Kommunikation kannte. Es mündete in dem Irrweg, dass mit Gewalt gegen Personen eine Änderung herbeigeführt werden könne. Solche Entwicklungen dauern!
Nein, wir leben nicht mehr im 20. Jahrhundert und ich kann nicht 1:1 die Prozesse übertragen. Die damaligen Ereignisse und Terror ausgehend von verschiedenen Gruppierungen, zogen eine veränderte Sicherheitsstruktur nach sich. Heute sind wir an dem Punkt angekommen, wo wir sehr kritisch die Frage stellen und beantworten müssen, wie das Verhältnis zwischen Sicherheit, Kontrolle und Freiheit ausgestaltet werden soll. Veränderungen bedeuten Weiterentwicklung und beides ist ohne Freiheit nicht möglich. Sicherheit, die durch exzessive Kontrolle und Verfolgung erreicht wird, steht der Freiheit entgegen. Außerdem verändern sich die Menschen unmerklich, aber es passiert.

Ich spiele das mal hypothetisch durch. Indem die erwähnten Propagandisten vom Foodsharer, Klimaaktivisten, Demonstranten, die Veränderungen fordern, Blockierern bis zum provokant auftretenden Accountinhaber (wahlweise das passende Geschlecht einsetzen), jeden zum linken Extremisten deklarieren, bereiten sie die Basis für staatliche Repression, unmittelbar oder durch die Kontrolle vor. Das Ergebnis ist dann die Hausdurchsuchung bei einer harmlosen 15-Jährigen, deren Fehler darin bestand, sich öffentlich-wirksam zu engagiern, Gesicht und Haltung zu zeigen. Was danach folgte, ist eine Botschaft an alle anderen. Die „Szene“ beobachtet sehr genau, was in diesem Bereich passiert. Gesetzt den Fall, die liegen mit all ihren Befürchtungen richtig. Ein Umstand, der zumindest mit den weltweiten wissenschaftlichen Erkenntnissen und globalen Geschehnissen, nicht unwahrscheinlich ist. Dann werden die Ereignisse inklusive der negativen gesellschaftlichen Entwicklungen Fahrt aufnehmen. Es scheint, dass die Aktivisten*innen mundtot gemacht werden sollen. Dies hätte eine minimale Chance, wenn es um schnöden Besitz, eine Karriere, Erfolg, ginge. Tatsächlich geht es allerdings um begründete Existenzängste, die unter Umständen von realen Geschehnissen begleitet werden. Dann haben wir es in 10 Jahren mit 25-30-Jährigen zu tun, die gelernt haben, dass das Establishment, welches sich passende Schutzmaßnahmen leisten kann, von einem repressiven Staatsapparat getragen wird. Dann sehe ich mich einer Generation gegenüber, die mit Rechnern tolle Sachen anstellen können. Nach und nach wird sich wahrscheinlich alles in den Cyberspace verschieben und da sie wissen, dass sie es mit Leuten zu tun haben, die nicht gerade die Top-Spezialisten auf diesem Gebiet sind, werden sie für ihre Anonymität zu sorgen wissen.

Fazit: Wer heute von Extremisten oder Ökoterroristen spricht, dem fehlt es an Fantasie, was da noch alles passieren kann. Und wer halben Kindern wegen einer Spray-Aktion die Buchte einrennt, ist ein Depp der Geschichte. Nicht die Heranwachsenden gefährden unseren Staat und die Freiheit, sondern das Gebaren des politischen Establishments in Zusammenarbeit mit willfährigen Publikationen ohne Urteilsvermögen bezüglich der Folgen ihres Populismus und einhergehender Propaganda. Was nicht bedeutet, dass es nicht andere gibt. Doch die erreichen nicht die dominierenden Gesellschaftsschichten, welche derzeit die Entwicklungen bestimmen. Ein ehemaliger Lehrer sagte mal zu mir: “Ich wusste immer, dass es eine gute Idee ist, Euch fair zu behandeln. Denn eines Tages stehen Erwachsene der Gegenwart vor Dir, während Du die Vergangenheit bist.” Und ich weiß, wo ich herkomme. Wenn ich mit meiner Vergangenheit die Augenbrauen hebe, bedeutet dies: Ich hege den Verdacht, dass in der Polizei Haltungen, die es schon immer gab, langsam wieder die Oberhand gewinnen. Keine Sorge, ich meine damit nicht rechte Strömungen oder was im Allgemeinen darunter verstanden wird. Es ist die autoritäre Law & Order – Fraktion, die sich aus Technokraten und Freunden der Hierarchie zusammensetzt, weil sie in ihr andere für sich denken lassen können. Damit werden Wege geebnet. Wer links mit progressiv, notwendigen Veränderungen, Innovation, verwechselt, wird eines Tages feststellen müssen, dass dieses links allgemein akzeptiertes Gemeingut ist und man selbst ein unliebsames Relikt aus alten Zeiten geworden ist. Kurzum: 15-Jährige maß nehmen? Geht’s noch!? Der restliche Text ist lediglich eine Erklärung, warum ich dies empört ausrufe.

Sofortbestrafung – Nein!

Lesedauer 3 Minuten

Langsam werde ich sauer. In meinem Freundeskreis und bei mir war es immer erklärtes Ziel unseren Kindern die Möglichkeit zu geben, ein eigenständiges, kritisches Denken, zu vermitteln und ihnen vorzuleben, sich einzumischen, wenn etwas nicht richtig ist. Nun mögen manche trefflich darüber streiten wollen, was denn dieses „richtig“ ist. Meiner Auffassung nach merkt dies ein Mensch mit einer gesunden Persönlichkeitsstruktur ganz alleine. Es gibt da einige Dinge, die schlicht und ergreifend in uns verankert sind.
Teile der jüngeren Generation sorgen sich um ihre Zukunft. Ich kann das nachvollziehen. Man muss schon ausgesprochen ignorant sein, wenn man die Zeichen der Zeit nicht erkennt. Diskussionswürdig ist, welche Maßnahmen Veränderungen herbeiführen können. Simple logische Überlegungen führen mich persönlich zum Ergebnis, dass all die Vorgehensweisen, Konstrukte, Verhaltensweisen, welche in die Misere führten, nicht aus ihr herausführen können. Es braucht Alternativen. Die Theorie des notwendigen Wachstums, das Setzen auf technische Entwicklungen, der Neoliberalismus, haben sich als Irrwege erwiesen. Beim Kommunismus und Sozialismus hat sich gezeigt, wie schnell damit ein Nährboden für Cliquen erzeugt wird, die zügig einen nicht weniger schädlichen Staatskapitalismus installieren. In der Konsequenz muss alles auf den Tisch gelegt und radikal neu betrachtet werden. Die Gestalter*innen des Grundgesetzes waren keine unfehlbaren Götter. Ihre Entscheidungen und Vorgaben beruhten auf den bis zu diesem Zeitpunkt vorliegenden Informationen und Erfahrungen aus der zurückliegenden Geschichte. Ihre Intentionen finden sich zwischen den Zeilen.

Wie auch immer: Manche setzen sich auf die Straße, andere verzichten zugunsten eines Protestes auf das Recht zur Schule zu gehen, andere stellen sich denen entgegen, die eine Anschauung der Welt innehaben, die große Teile der Weltbevölkerung bereits einmal ins Verderben schickte. In Anbetracht dessen, dass sie unsere Zukunft sind, die Menschen wie ich, eventuell noch als alter gebrechlicher Mann erleben werden, ist es ein schwerer unverzeihlicher Fehler, nicht mit ihnen zu sprechen, sie zu ignorieren oder sie zu diffamieren. Wenn es noch eine Chance der Veränderung gibt, dann durch sie. Bisher wählten sie den friedlichen Weg. Sie leisten bei den Blockaden keinerlei Widerstand, lassen sich weh tun, anschreien und reagieren bemerkenswert ruhig. Das ist ihre Seite!
Die andere Seite wird teilweise von einem hasserfüllten oder wenigstens wütenden Mob gestellt, der Teil der gelenkten Massengesellschaft ist. Ebenfalls zugehörig sind Volksvertreter, denen per demokratischer Wahl die Macht zuteilwurde und in insofern über Machtmittel verfügen. Angewendet werden diese auftragsgemäß von der Polizei. Die betreibt etwas, was auch intern bei der Polizei als Sofortbestrafung vor Ort bezeichnet wird.

Die Haltung dazu ist recht simpel: Die einzige Bestrafung die der oder die Täter*in bekommt, ist die von der Polizei, weil die realitätsfremde Justiz nicht passend reagiert.

Ich machte nie einen Hehl daraus, dass ich Handlungen verstehen und nachvollziehen kann, was aber keinesfalls einer Billigung gleichkommt oder ein richtig so bedeutet. Wenn Polizisten auf Personen treffen, die eine besonders verstörende Tat begingen oder sich in dieser Richtung verhalten, können bei einem Menschen die Sicherungen durchbrennen. So ist das nun einmal, wenn ich keine Maschine vor mir habe.
Bei der Auflösung der Sitzblockaden geschieht etwas anderes. Die dort aktiven Personen unternehmen nichts Verstörendes, sind nicht brutal oder machen sonst etwas Passendes. Wenn Vollstreckungsbeamte*innen Schmerzgriffe anwenden, völlig unnötige Verletzungen verursachen, steckt da Ratio dahinter. Sie sind frustriert und erwarten eine Gerichtsentscheidung, mit der die Personen in ein Gewahrsam genommen werden können, womit ein erneutes Hinsetzen verhindert werden könnte. Aus diesem einzigen Grund wählen sie eine andere, absolut unzulässige Taktik. Aber sie ist nicht nur unzulässig, sondern sie wird nicht ohne Folgen bleiben. Niemand darf sich wundern, wenn wir in nächster Zeit wieder Straßenkämpfe wie in den 80ern erleben. Machtlos ausgeliefert zu sein, erzeugt Ohnmacht, die wiederum ein gefährlicher Nährboden ist.
Jeder sollte sich bewusst sein, dass da die Töchter und Söhne von jemanden sitzen. Menschen wie ich, die ihre Kinder dazu aufforderten sich der Ungerechtigkeit entgegenzustellen, nicht mit der Masse mitzulaufen – weil wir exakt dieses schon einmal hatten. Ein Mensch lebt nicht für sich alleine. Und jede/r Polizist*in, mit der Intention einer selbst beschlossenen Sofortbestrafung, sollte sich bewusst sein, dass das Handeln weit über den Moment hinaus geht.

Zeitenwandel, die Prohibition als Reagenz

top view photo of people near wooden table Lesedauer 19 Minuten

Das Aufheben des Verbots Hanf anzubauen oder als Genussmittel zu konsumieren (Prohibition) ist mit Sicherheit nicht das drückendste Thema der Zeit. Aber wie bei der Pandemie erweist sich das Thema als Reagenz für den Status Quo der politisch Aktiven und der Gesellschaft. Welcher dann meiner Auffassung nach bei dringlichen Themen herangezogen werden kann.

»Die bewusste und zielgerichtete Manipulation der Verhaltensweisen und
Einstellungen der Massen sind ein wesentlicher Bestandteil demokratischer
Gesellschaften. Organisationen, die im Verborgenen arbeiten, lenken die
gesellschaftlichen Abläufe. Sie sind die eigentlichen Regierungen in
unserem Land. Wir werden von Personen regiert, deren Namen wir noch nie
gehört haben.«

Edward Bernays, Propaganda

Kaum zeichnete sich am fernen Horizont die Umsetzung des Wahlversprechens an, stellten die PR-Berater die Lehnen ihrer Drehstühle auf, trafen sich bei Mineralwasser und Keksen mit Auftraggebern und machten sich an die Arbeit. Zu einer modernen PR Kampagne gehört eine orchestrierte Pressearbeit, bei der die Journalisten entweder unbewusst benutzt werden oder unmittelbar im Auftrag handeln. Plötzlich tauchte eine umfassende UN – Studie auf, die an sich schon tendenziös ist, aber nochmals mittels verfremdenden Herauslösen aus dem Kontext, frech falsch aus dem Englischen übersetzt oder mit rhetorischen Mitteln garniert wurde. Erschreckend war dabei, wer sich da alles beteiligte. Denn eins ist klar, wenn die bei dem Thema eingegliedert werden, sind sie bei allen anderen auch dabei und werden zum verlängerten Arm der Kampagnenbetreiber. Besonders fielen mir dabei die ZEIT, die Süddeutsche Zeitung, die Neue Zürcher Zeitung, WELT und der Rest des SPRINGER Universums auf. Wobei die Süddeutsche sich auf einige merkwürdige Artikel beschränkte und sich daneben bemühte unaufgeregt objektiv zu berichten.
Doch spätestens, wenn bei Straftaten mit reißerischen Überschriften der Nebenaspekt Cannabis in den Vordergrund gestellt wird, geht es in die andere Richtung. Die Nummer ist alt und stammt aus den Kampagnen von Harry J. Anslinger in den 30ern.[1]Victor Licata (ca. 1912 – 4. Dezember 1950) war ein amerikanischer Massenmörder, der am 16. Oktober 1933 seine Familie in Ybor City, Tampa, Florida, mit einer Axt tötete. Die Morde, … Continue reading

Ein Psychotiker tötet irgendjemanden und der Tenor lautet: Das Cannabis machte aus ihm einen Psychotiker, der tötete. Ergo, ist das Cannabis ursächlich.
Was wäre, wenn es ein Psychotiker gewesen wäre, der Cannabis, Alkohol, Psychopharmaka einnahm? Durchaus ein lebensnaher Sachverhalt, aber propagandistisch völlig unbrauchbar. Wie gesagt, Anslinger brachte dies schon in den 30ern in die Presse und seither hält sich das Muster, wie der auf dem See eingefrorene Schwan.

Kiffer als Bürgerschreck

Wie man selbst zu PR-Kampagnen, Propaganda steht, ist sehr vom eigenen Standort abhängig. Wird sie für etwas eingesetzt, was man selbst favorisiert oder sogar Nutznießer ist, erfreut sie. Setzt sie etwas in Gang, was man nicht für gut befindet, wird man eher abgestoßen. Fraglich ist auch, ob man es immer merkt, dass da im Hintergrund an den Schrauben gedreht wird. Natürlich kann man sich auch vollkommen gegen diese Werkzeuge der Steuerung von Massengesellschaften wenden. Es wird aber nichts nützen. Am Ende ist es eine individuelle Entscheidung, ob man sich von ihr lenken lässt oder nicht. Doch wer sich dazu entscheidet, muss sich klar sein, dass dies ein einsamer Weg wird. Propaganda bedient sich der psychologischen Effekte des Gruppendenkens (engl. Group-Thinking). Hierzu gehört die Aufgabe der eigenen moralischen Erwägungen zugunsten einer Gruppenmoral. Weitere Aspekte sind die Entstehung einer inneren Einigkeit durch einen gemeinsamen Außenfeind, die Tendenz Fehler nicht mehr zu benennen und die Entwicklung eines seitens aller Gruppenmitglieder akzeptierten Verhaltens. Mit alledem kann gearbeitet und für eigene Zwecke bzw. die des Auftraggebers verwendet werden. Immer geht es darum, das individuelle Nachdenken auszuschalten, was am ehesten mit all den menschlichen Voraussetzungen funktioniert, die sich jenseits der Ratio befinden. Hierfür bedarf es Untersuchungen, wie die Leute ticken, womit ich sie kriege. Mit der Digitalisierung sind hierfür Möglichkeiten entstanden, die sich der Godfather der Public Relation, Edward Bernays nicht ansatzweise hätte vorstellen können. Oftmals ist es aber gar nicht notwendig, mit ausgefeilten Programmen die Social Media und Datensammlungen zu durchforsten. Die kommen dann während der Kampagne zur Geltung, weil mit ihnen zuverlässig die Wirkung überprüft werden kann und im Bedarfsfall Nachjustierungen möglich sind. OK, alles ziemlich banal. Ist wie mit den Binomischen Formeln. Man lernt sie auswendig und dann steht einer da und meint: “Sehen Sie den Binomi nicht?” “Öh, Nein! Wo?”


Ebenfalls zu einer modernen PR Kampagne gehören Stereotype, welche sich entweder für ein Feindbild (Außenfeind) nutzen lässt oder wenigstens zum lächerlich machen, taugt. Im Falle von Cannabis ist das einfach. Seit Jahrzehnten wird das Bild des antriebslosen, desorientierten, langhaarigen Kiffers kolportiert, der unsinniges Zeug von sich gibt. Meistens ist er arbeitslos, hört Reggae und qualmt eine Bong nach der anderen. Solche Leute gibt es. Doch sie sind nur ein Typus unter sehr vielen. Aber der distinguierte Chirurg, der sein Gras aus dem privaten Anbau im Gartenhaus raucht, taugt nichts für die Propaganda. Im Gegenzuge käme auch keine Werbeagentur auf die Idee, eine Wodka-Marke mit einem vollgekotzten Typen auf einem Kneipenklo zu bewerben.
Unstrittig hat sich unter anderen durch die Prohibition, aber auch durch die Wirkung des Cannabis, eine Art Gegenkultur zum Klischee der bürgerlichen Kultur entwickelt. Der Jazz-Musiker Louis Armstrong, der leidenschaftlich Gras rauchte, beschrieb es für sich als eine wohltuende Verlangsamung, bei der jede Note einen Tick länger in der Wahrnehmung blieb.[2]https://greencamp.com/louis-armstrong-marijuana/
Dabei spielt auch der Umstand eine Rolle, dass die Aufmerksamkeit u.U. auf Dinge fokussiert wird, die einem sonst gar nicht auffallen und anderes, was eben noch wichtig wahr, in den Hintergrund tritt. In einer Gesellschaft, bei der die dominierende bürgerliche Ausrichtung Wert darauf legt, eindeutig vorzubestimmen, was wichtig und unwichtig im Leben ist, kann das problematisch werden. Der bisweilen eintretende berühmt-berüchtigte Lachflash, tritt oft deshalb ein, weil der unter dem Einfluss von THC stehende Konsument erkennt, wie lächerlich manches eigentlich ist, aber aus verschiedensten Gründen künstlich zu etwas wichtigen deklariert wird. Egal, das darf jeder für sich alleine herausfinden. Jedenfalls wird in den Kampagnen der Feind Nummer 1 des Bürgertums, nämlich der Hippie, skizziert.
Ich ersehe dies als einen wichtigen Punkt. Aktuell steht das etablierte Bürgertum mit dem Rücken an der Wand. Das Auto, seit den 50ern Kleinod jeder bürgerlichen Familie, gehegt, gepflegt, Design-Objekt, Statussymbol, Hobby, Entspannung und Fluchtmittel aus dem drögen Arbeitsalltag, ausgebaut mit allem Schnickschnack inklusive Dolby-Surround Anlage, wird von den Angreifern madig gemacht. Gleichsam sieht es mit dem alten schwäbischen Motto: „Schaffe, raffe, Häusle baue!“ aus. Richtig schlimm wird es, wenn die kognitive Dissonanz des Bürgertums demontiert wird. Ich habe da manchmal das Bild einer schluchzenden 60-Jährigen in einem Badenser Dorf vor Augen: „Aber, aber, wir sind doch die Guten! Jedes Jahr zu Weihnachten haben wir für die armen Neger-Kinder gespendet.“ Und jetzt soll auch noch diesen langhaarigen arbeitsscheuen Gammlern Vorschub geleistet werden? Was ist mit all den netten heterosexuellen potenziellen Schwiegertöchtern und Schwiegersöhnen geworden, die sich ordentlich anziehen, am Wochenende in der Großraumdiskothek einen drauf machen, aber am Montag ordentlich verkatert schaffen? Wo soll das alles enden?

Quellen/Fußnoten

Quellen/Fußnoten
1 Victor Licata (ca. 1912 – 4. Dezember 1950) war ein amerikanischer Massenmörder, der am 16. Oktober 1933 seine Familie in Ybor City, Tampa, Florida, mit einer Axt tötete. Die Morde, die von den Medien als das Werk eines “axtmordenden Marihuana-Süchtigen” bezeichnet wurden, wurden als Anscheinsbeweis dafür missbraucht, dass ein Zusammenhang zwischen Freizeitdrogen wie Cannabis und Kriminalität besteht. Dies führte dazu, dass die Morde in den 1930er Jahren in Anti-Drogen-Kampagnen gegen Marihuana missbraucht wurden.Quelle:Victor Licata, https://en.wikipedia.org/w/index.php?title=Victor_Licata&oldid=1088808190 (last visited Aug. 18, 2022)
2 https://greencamp.com/louis-armstrong-marijuana/