Nachts an der Haltestelle
Letztens stand ich nachts an einer Haltestelle und wartete auf meinen Bus. Hinter mir lag ein langer Tag mit vielen Zwischenhalten von Hannover über Hamburg nach Berlin. Am Rathaus-Spandau, Berlins größter Bushaltestellenanlage, schniefte ein Typ auf ziemlich unangenehme Art seinen Rotz auf den Boden. Ein alter Mann mit Rollator und einigen Plastiktüten, in denen er seine Habseligkeiten aufbewahrte. Obdachlos, am Ende seines Lebens, einer, der gescheitert ist. Schlurfend pendelte er zwischen den Mülleimern hin – und her. Er suchte Pfandflaschen oder etwas, was andere wegwarfen und andere nicht mehr brauchten. Ich selbst saß auf einer Böschung. Er machte mich aggressiv. „Alter, warum rotzt Du da hin? Und wie oft willst Du Dir die Mülleimer noch ansehen?“
Ich musste auf meinen Bus noch warten. Also kam ich ins Nachdenken! Was machte mich eigentlich aggressiv? Der arme Kerl war völlig harmlos. OK, unter dem Gesichtspunkt Hygiene, war er für einiges gut. Aber das konnte es nicht sein. Jeder erlebnisorientierte Jugendliche rotzt heutzutage auf die Straße. Hielt er mir einen Spiegel vor die Nase? Ich hatte viel Glück im Leben. Da war einiges, was hätte schiefgehen können. Ich musste an die Worte eines buddhistischen Mönches denken. Wenn Du einen alten Mann siehst, solltest Du immer daran denken, dass das Deine Zukunft sein könnte. Wie gesagt, ich hatte einen langen Tag hinter mir und mit Sicherheit mehr Geld ausgegeben, als er in einem halben Jahr schnorren konnte. Der Typ konnte alles sein. Vom entlassenen Pädophilen, der nach 20 Jahren Knast nichts mehr auf die Reihe bekam bis hin zu einem Mann, der im Leben einfach kein Glück hatte. Beim Nachdenken dämmerte mir, dass es dabei nicht um ihn ging. Sein Leben war sein Leben und meins halt das meinige. Gerade in meinem Bezirk suchen immer mehr am oder im System Gescheiterte ihre Platte. Ich glaube beinahe, Spandau hat unter Obdachlosen einen guten Ruf. Ich bin ein Musik-Mensch. „Waltzing Mathilda“ oder auch „Tom Taubert’s Blues“ fiel mir spontan ein. Die wenigsten wissen, worum es in dem Song geht. Einsam geht jemand seinen Weg und sucht einen Schlafplatz “Waltzing Mathilda“, auf Deutsch, Platte machen. Meine Ex-Frau schrieb mal einen Artikel über die Berliner Bettel-Linie U7 und die Nöte der Menschen, die es geschafft haben und sich fragen, wie sie mit all dem Elend umgehen. Geben oder nicht? Wie oft hab ich in meinem Leben ohne Folgen mit einigen Promille auf einer Bank gesessen und kämpfte mich durch die Nacht? Nach und nach kam ein anderer Zorn in mir hoch. Zorn auf all die vermeintlichen Gewinner, welche anderen Menschen die Welt erklären wollen. Nein, ich musste dem mit seinem Rollator nichts erklären und vor allem nicht sauer auf ihn sein. Der hatte und hat mehr Probleme als ich.
Ich griff in die Tasche und zog meinen letzten Zehner aus der Tasche. Der Kerl schaute mich verwundert an. Mit einem Zehner hatte er um die Uhrzeit nicht gerechnet. Ich kaufte mich frei. Damit war ich wieder auf der Seite der Guten und konnte beruhigt in meinem Bett schlafen. Für zehn EURO, umgerechnet zwei Bier oder eine Schachtel Zigaretten, befand ich mich wieder auf der sicheren Seite. Eine armselige Beruhigung des Gewissens und keine Abkühlung des Zorns. Doch auch dabei muss ich mir immer sagen: Dein Leben, Dein Spiegel, Deine Gedanken! Hab ich etwas dagegen getan? Nein! Geht es auch auf mein Konto, dass Typen aus der FDP, CSU, CDU. AfD, sagen können, was sie halt von sich geben? Ja! Wahrscheinlich ist dies der Grund für die Aggression. Dieses Gefühl, nicht genug getan zu haben. In solchen Momenten des Lebens hadere ich damit, wider besseres Wissen nicht genug Widerstand und Kraft aufgebracht zu haben. Tief im Innern spüre ich, dass der Kampf vorbei ist. Die haben gewonnen! Die Hybris, die Arroganz, die Gier, alles was ich ablehne. Für mich bleibt nur noch zu nehmen, was ich erreicht habe und bekommen kann. Da unterscheiden sich der alte Mann, mit dem Rollator und ich, in keinem Punkt. Wir spielen keine Rolle mehr. Und dennoch gibt es unübersehbare Unterschiede! Ich gehe in einem weichen Bett schlafen und koche mir morgens einen Kaffee. Wenigstens den Luxus der Demut kann ich mir erhalten. Wahrscheinlich läuft es darauf hinaus. Sein Ding machen zu können, als Mensch, ohne am Ende ein Arschloch gewesen zu sein.