21 August 2022

Jugend als Staatsfeind

Lesedauer 8 Minuten

In der Regel sagte ich bei mir dann doch sehr merkwürdig vorkommenden Schilderungen über Polizeieinsätze: „Na ja, jeder hat seine eigene Geschichte. Vielleicht war es dann doch ein wenig anders.“ Immer häufiger nagt ein banger Zweifel an mir. Schloss ich allzu oft von mir selbst auf andere? Verlor ich aufgrund der speziellen Bereiche, in denen ich unterwegs war, ein wenig den Blick für eine Entwicklung?

Gemäß diverser zuverlässiger Quellen[1]u.a. hier https://www.br.de/nachrichten/bayern/wenn-der-augsburger-staatsschutz-im-kinderzimmer-steht,T6NGbJ1 ist es zu folgenden, im Wesentlichen nicht einmal seitens der involvierten Dienststellen bestrittenen Sachverhalt gekommen:
Am 29. November 2019, also in der Nacht vor dem Shopping-Event „Black Friday“ sprühten Greenpeace die Slogans „Brauchst Du das?” und “Buy not!” mit Kreidespray an die Hauswände/Schaufenster von Augsburger Geschäften, die sie sich an dieser Aktion beteiligen. Greenpeace macht daraus auch kein Geheimnis und bekennt sich dazu.
Am folgenden Tag wird im Zusammenhang mit einer Klima-Demo eine 15-jährige Demonstrantin von Beamten in Zivil angesprochen und danach gefragt, ob sie etwas mit den Ereignissen zu tun hätte. In mehreren Publikationen steht dies so beschrieben. Sie verneint die Frage. Trotzdem werden umgangssprachlich ihre Personalien aufgenommen und ein Foto von ihr gemacht. Also wird von zwei Beamten ihre Identität festgestellt und sie wird mit ihrer Kleidung fotografiert. In der Regel wird dieses unternommen um bei gewalttätigen Auseinandersetzungen den Nachweis bringen zu können, dass dieser oder jene Demonstrationsteilnehmer*in eine Straftat, meistens Landfriedensbruch verwickelt war. Die 15-Jährige misst dem Vorfall keine besondere Bedeutung bei. Bis fünf Monate später mehrere Beamte des Polizeilichen Staatsschutzes (nach Aussagen der Mutter 7, was unerheblich ist, weil alles über 2 eine Unverschämtheit ist) mit einem Durchsuchungsbeschluss des Amtsgerichts Augsburg vor der Tür stehen und ihr Zimmer nach Beweismitteln für die Sachbeschädigung, für die sich Greenpeace bekannte, suchen. Gesucht wird nach Spraydosen und einer Jacke, die schemenhaft auf einem Überwachungsvideo erkennbar ist.
Gut, ein/e Sachbearbeiterin bekommt einen Vorgang zugewiesen. Es besteht der Tatverdacht einer Sachbeschädigung, wobei fraglich ist, ob der Tatbestand bei einem leicht entfernbaren Kreidespray erfüllt ist. Denn sie ist nicht gegeben, wenn die Veränderung der fremden Sache nur vorübergehend ist und mit leichtem Aufwand wieder rückgängig gemacht werden kann. Anders: Die Leute bei Greenpeace sind auch nicht auf den Kopf gefallen! Es erfolgt die Auswertung der Aufzeichnungen einer Überwachungskamera. Ab hier wird es ein wenig nebulös. Wie hat das Bild von der Zivilstreife, welches im Zusammenhang mit einer Demo, die am Ende friedlich verlief, unter bedenkenswerten Umständen entstand, zur Sachbearbeitung gefunden? Dies dürfte nur mit einer Kartei funktionieren. Und dort liegen 15-jährige Aktivisten*innen ein?
Ich erinnere mich dunkel daran, dass wir separate Bildkarteien nur mit besonderen Genehmigungen pflegen durften. Und ich befand mich zu dieser Zeit im Bereich Schwerstkriminalität, ausgehend von Täter*innen mit Bezug zur Organisierten Kriminalität vom Balkan. Ähnliches gab es im Bereich Jugendgruppen Kriminalität. Doch auch die waren mit Messern, Schusswaffen und ähnlichen schweren Gerät unterwegs. Bilderkarteien mit Bildern, die mal eben am Rande von Klima-Demos entstehen, an denen sich Aktivisten*innen von Fridays for Future beteiligen? Zumindest liegt der Verdacht nahe.

Weiter! Von der Sachbearbeitung aus wird der Vorgang an die Staatsanwaltschaft ab verfügt (ganz bewusst Amtsdeutsch). Entweder mit der Bitte um die Beantragung eines richterlichen Durchsuchungsbeschlusses oder eine Stufe darunter mit dem Standardsatz: „Wird der StA m.d.B. um weitere Entscheidung und Veranlassung übersandt.“ Es folgen also zwei weitere Instanzen. Eine Staatsanwaltschaft, die das Verfahren nicht aus mangelnden öffentlichen Interesse einstellt und ein/e Richter*in, der/die es für geeignet hält, das Recht auf Unversehrtheit der Wohnung zum Zweck der Beweismittelauffindung bei einer 15-Jährigen aufzuheben. Hierzu ein kleiner Exkurs für Leute, die sich mit solchen Dingen nicht auskennen. In der Praxis kann es passieren, dass ein leitender Beamter die Anordnung einer Durchsuchung selbst treffen muss, weil eine Gefahr im Verzuge vorliegt. Dabei gibt es durchaus Abwägungen und bei unterschwelligen Delikten, kann darauf verzichtet werden, vor allem wenn die Auffindung von Beweismitteln sehr unwahrscheinlich ist. Was will ich denn finden? Spraydosen mit Kreidespray? Die sind handelsüblich und für forensische Untersuchungen ungeeignet. Die Jacke, die nicht einmal gut zu erkennen ist? Bei einem Verbrechen könnte man ein paar Spezialisten in die Spur schicken, die ein Gutachten bezüglich der Physiognomie der aufgenommenen Person erstellen – Verbrechen! Bleibt: Man kann ja mal nachschauen, was man sonst noch so findet. Bin ich dabei! Wenn ich gegen Mitglieder einer Kriminellen Vereinigung ermittle, greife ich nach jedem Strohhalm und nach jeder Eintrittskarte. Aber zur Erinnerung: 15-jährige Aktivistin bei FFF.

Kriminelle leben in dem Lebensgefühl, dass jederzeit mal die Polizei vorbeikommen kann. Denen ist es überwiegend egal, wenn ihre Behausungen durchsucht werden. Teenager bekommen bereits eine Krise, wenn Mutter oder Vater das Zimmer betreten um „biologische Experimente“ zu entfernen. Das Recht auf Unversehrtheit der Wohnung existiert nicht ohne Grund. Es ist ein folgenreicher, tiefgreifender Eingriff in die Privatsphäre, wenn wildfremde Menschen meine Sachen durchstöbern und unter Umständen Sachen aufdecken, die ich nicht preisgeben will. Ein Einbruch oder eine Durchsuchung können das gesamte weitere Leben verändern. Es geht nämlich etwas verloren. Das Vertrauen, die Sicherheit, dass es einen Platz gibt, an dem ich den Blicken vom Rest der Welt entzogen bin.

Nach der Durchsuchung, vor allem wenn sie aus einem nichtigen Anlass heraus passiert, die Gründe eher wacklig sind oder ich schlicht unschuldig bin, habe ich eine Lektion gelernt. Zu jeder Zeit kann die Staatsmacht bei mir eindringen. Auch wegen einer popeligen -eventuell- Sachbeschädigung. Wenn ich eine echte Privatsphäre möchte, bedarf es eines erheblichen Aufwands. Mobiltelefon verschlüsseln, Rechner mit Kryptografie absichern, wirklich private Sachen nicht zu Hause aufbewahren – die komplette Paranoia. Was hat die 15-Jährige noch vor ihrer Volljährigkeit gelernt? Lass Dich nicht einfach von Zivis ansprechen, erst recht nicht fotografieren, ziehe Dir uniformierte Kleidung an, sei vorsichtig, wenn Du auf eine Demo gehst, Basecap, Sonnenbrille. Oder lasse es lieber gleich sein, weil sie Dich schnell einsortieren. Und: Es gibt keinen sicheren Platz!

Ich mache aus meiner Biografie kein Geheimnis. Über zwei Jahrzehnte hinweg observierte ich Straftäter*innen in unterschiedlichen Deliktbereichen. Unter anderen auch politische und religiöse Extremisten. Wer in diesem Bereich arbeitet, muss besonders abwägen, wo die Grenzen sind und ob das Verhalten der Personen die Maßnahmen rechtfertigen. Dabei gab es immer mal wieder Konflikte mit Sachbearbeitern*innen, die gerne alles und jeden beobachten lassen wollten. Ermittlern*innen müssen immer mal wieder Grenzen gesetzt werden, weil sie irgendwann den Bodenkontakt verlieren und nur noch in ihrer Aktenwelt leben. Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass man sich irgendwann nicht mehr der Außenwirkung bewusst ist, weil man nur noch seine Verfahren wahrnimmt. Nicht umsonst ist die Bezeichnung Sachbearbeiter*in! Es wird ein Sachverhalt aufgeklärt. Das klingt abstrakt und neutral. Ohne Ansehen der Person soll nüchtern und objektiv festgestellt werden, was passiert ist und welche Handlungen von wem ursächlich waren. Klingt gut, funktioniert aber nicht. Wenn ich als Ermittler den Menschen und die Gesellschaft aus den Augen verliere, mutiere ich zum Technokraten.

Ich komme nicht umhin, immer mal wieder zu schauen, was ich da als Mensch und Mitglied einer Gesellschaft veranstalte. Mein Handeln ist in ein größeres Konzept eingebunden. Viele einzelne Handlungen ergeben einen Prozess mit einem Ergebnis. Meiner Auffassung kann sich kein Deutscher Beamter aus der Verantwortung stehlen, weil wir die historische Lektion erhielten, dass viele einzelne Unterschriften eine Katastrophe ergeben können. „Ich bin heraus, weil ich nur in einem Sachverhalt ermittelte, der Staatsanwalt hat den Hut auf und immerhin hat ein Richter entschieden!“, ist das Ergebnis einer Hierarchie und gleichsam die Feigheit, eigene Verantwortung zu übernehmen. Mein Job war es häufig, für den/die Sachbearbeiter*in das Auge auf der Straße zu sein. Deshalb weiß ich: Was auf dem Papier geschrieben steht, erweckt oftmals ein falsches Bild vom tatsächlichen Geschehen. Dafür gibt es unterschiedliche Gründe. Manche sind nicht wirklich talentiert beim Schreiben, andere übertreiben, weil sie sich selbst in ein gutes Licht rücken wollen oder sie „trimmen“ den Bericht darauf, dass alles seine Richtigkeit hatte. Bei einer 15-Jährigen sollten die Alarmglocken läuten und mit ganz besonderer Sorgfalt vorgegangen werden. Insbesondere dann, wenn es nicht um eine schwerwiegende Straftat geht.

Ist das der Haken?

Verfassungsschützer, Angehörige des polizeilichen Staatsschutzes, Vertreter von Polizeigewerkschaften, eine ganze Horde Journalisten und Kolumnisten ergehen sich in Statements, bei denen sie von Extremisten und Radikalen sprechen. Wenn ich zurückschaue, assoziiere ich mit diesen Begriffen, islamistische Terroristen, rechte Terrorvereinigungen und Netzwerke, Mitglieder der AiZ, Klasse gegen Klasse, Bewegung 2. Juni, RAF, Baader-Meinhof, alle Vertreter der anarchistischen Vertreter der Propaganda der Tat, Attentäter. Ich denke auch an die Straßenschlachten der autonomen Bewegung in den 80ern, Startbahn-West, Wackersdorf, Brockdorf (wobei hier zum Teil ganz biedere Leute zum Opfer wurden), Verteidigung der Bannmeile um das Rathaus Schöneberg. Mit Sicherheit denke ich nicht an FFF, Ende Gelände, Extinction Rebellion oder Letzte Generation.
Worin besteht denn ihre Radikalität?
Sie behaupten, dass die Zeit dessen, was offensichtlich als gemäßigt gilt, vorbei ist. Faule Kompromisse mit Wirtschaftszweigen, Klientel-Politik, Befriedigung von Lobbyisten, die die Auszahlungen von Renditen sichern sollen, Wirtschaftswachstum vor echter Lebensqualität, ein bemerkenswert in die Schieflage geratenes Verhältnis zu den Lebensressourcen, und eine Gesellschaft, die mittlerweile zu 100 % auf Haben ausgerichtet ist, während das Lebendige in den Hintergrund tritt. Ja, sie rütteln an den Grundfesten der Ergebnisse dessen, was aus dem 20. Jahrhundert hervorgegangen ist und der Welt des 21. Jahrhunderts massive Probleme beschert. Dies taten auch schon Leute im 20. Jahrhundert. Nur entführten die Politiker, zündeten Bomben und erschossen Frauen und Männer. Davon sind die Genannten weit entfernt. Es lohnt sich aber, mal auf die ausgehenden 60er und die 70er zu schauen. Alles begann mal mit Kritik, Forderungen, einem Krieg in Vietnam und einer Staatsgewalt, getragen von einem konservativen Bürgertum, welches nur die Repression, Statik und Verweigerung der Kommunikation kannte. Es mündete in dem Irrweg, dass mit Gewalt gegen Personen eine Änderung herbeigeführt werden könne. Solche Entwicklungen dauern!
Nein, wir leben nicht mehr im 20. Jahrhundert und ich kann nicht 1:1 die Prozesse übertragen. Die damaligen Ereignisse und Terror ausgehend von verschiedenen Gruppierungen, zogen eine veränderte Sicherheitsstruktur nach sich. Heute sind wir an dem Punkt angekommen, wo wir sehr kritisch die Frage stellen und beantworten müssen, wie das Verhältnis zwischen Sicherheit, Kontrolle und Freiheit ausgestaltet werden soll. Veränderungen bedeuten Weiterentwicklung und beides ist ohne Freiheit nicht möglich. Sicherheit, die durch exzessive Kontrolle und Verfolgung erreicht wird, steht der Freiheit entgegen. Außerdem verändern sich die Menschen unmerklich, aber es passiert.

Ich spiele das mal hypothetisch durch. Indem die erwähnten Propagandisten vom Foodsharer, Klimaaktivisten, Demonstranten, die Veränderungen fordern, Blockierern bis zum provokant auftretenden Accountinhaber (wahlweise das passende Geschlecht einsetzen), jeden zum linken Extremisten deklarieren, bereiten sie die Basis für staatliche Repression, unmittelbar oder durch die Kontrolle vor. Das Ergebnis ist dann die Hausdurchsuchung bei einer harmlosen 15-Jährigen, deren Fehler darin bestand, sich öffentlich-wirksam zu engagiern, Gesicht und Haltung zu zeigen. Was danach folgte, ist eine Botschaft an alle anderen. Die „Szene“ beobachtet sehr genau, was in diesem Bereich passiert. Gesetzt den Fall, die liegen mit all ihren Befürchtungen richtig. Ein Umstand, der zumindest mit den weltweiten wissenschaftlichen Erkenntnissen und globalen Geschehnissen, nicht unwahrscheinlich ist. Dann werden die Ereignisse inklusive der negativen gesellschaftlichen Entwicklungen Fahrt aufnehmen. Es scheint, dass die Aktivisten*innen mundtot gemacht werden sollen. Dies hätte eine minimale Chance, wenn es um schnöden Besitz, eine Karriere, Erfolg, ginge. Tatsächlich geht es allerdings um begründete Existenzängste, die unter Umständen von realen Geschehnissen begleitet werden. Dann haben wir es in 10 Jahren mit 25-30-Jährigen zu tun, die gelernt haben, dass das Establishment, welches sich passende Schutzmaßnahmen leisten kann, von einem repressiven Staatsapparat getragen wird. Dann sehe ich mich einer Generation gegenüber, die mit Rechnern tolle Sachen anstellen können. Nach und nach wird sich wahrscheinlich alles in den Cyberspace verschieben und da sie wissen, dass sie es mit Leuten zu tun haben, die nicht gerade die Top-Spezialisten auf diesem Gebiet sind, werden sie für ihre Anonymität zu sorgen wissen.

Fazit: Wer heute von Extremisten oder Ökoterroristen spricht, dem fehlt es an Fantasie, was da noch alles passieren kann. Und wer halben Kindern wegen einer Spray-Aktion die Buchte einrennt, ist ein Depp der Geschichte. Nicht die Heranwachsenden gefährden unseren Staat und die Freiheit, sondern das Gebaren des politischen Establishments in Zusammenarbeit mit willfährigen Publikationen ohne Urteilsvermögen bezüglich der Folgen ihres Populismus und einhergehender Propaganda. Was nicht bedeutet, dass es nicht andere gibt. Doch die erreichen nicht die dominierenden Gesellschaftsschichten, welche derzeit die Entwicklungen bestimmen. Ein ehemaliger Lehrer sagte mal zu mir: “Ich wusste immer, dass es eine gute Idee ist, Euch fair zu behandeln. Denn eines Tages stehen Erwachsene der Gegenwart vor Dir, während Du die Vergangenheit bist.” Und ich weiß, wo ich herkomme. Wenn ich mit meiner Vergangenheit die Augenbrauen hebe, bedeutet dies: Ich hege den Verdacht, dass in der Polizei Haltungen, die es schon immer gab, langsam wieder die Oberhand gewinnen. Keine Sorge, ich meine damit nicht rechte Strömungen oder was im Allgemeinen darunter verstanden wird. Es ist die autoritäre Law & Order – Fraktion, die sich aus Technokraten und Freunden der Hierarchie zusammensetzt, weil sie in ihr andere für sich denken lassen können. Damit werden Wege geebnet. Wer links mit progressiv, notwendigen Veränderungen, Innovation, verwechselt, wird eines Tages feststellen müssen, dass dieses links allgemein akzeptiertes Gemeingut ist und man selbst ein unliebsames Relikt aus alten Zeiten geworden ist. Kurzum: 15-Jährige maß nehmen? Geht’s noch!? Der restliche Text ist lediglich eine Erklärung, warum ich dies empört ausrufe.


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Verfasst 21. August 2022 von Troelle in category "Gesellschaft", "Kaöitalismuskritik", "Kapitalismus", "Politik", "Politik u. Gesellschaft", "Polizei", "Presse", "Terrorismus

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