Beobachtungen am Rande
Wieder einmal mache ich mich auf den Weg nach Hannover. Im Bus zum Bahnhof steigt in Höhe des in der Nähe gelegenen Freigängerheims ein Mann mit fünf prall gefüllten Plastiktüten ein. Seine Jacke hat schon bessere Tage gesehen. Bestimmt war die nicht günstig, aber der Schmutz lässt sie zerschlissen wirken. Gleiches gilt für seine Jeans. Die Schuhe, teure Wanderschuhe, sind in Ordnung. Er setzt sich neben mich. In den Tüten befinden sich alte Zeitungen, undefinierbare kleinere Objekte. Außerdem drei Birnen, die er sorgsam auspackt. Ich sah dies schon einige Male im Leben. Der Mann befindet sich auf der Spirale nach unten. Warum auch immer sie ihm eine Strafe aufgebrummt haben, draußen hat er nicht viel zu erwarten. In den Tüten sammelt er verzweifelt, was im noch wichtig scheint. Der letzte Besitz, der gar keiner mehr ist. Die Kleidung wird nach und nach zerfallen. Und der Winter steht vor der Tür. Wahrscheinlich wird es sein erster auf der Straße werden.
Am Bahnhof herrscht reges Treiben. An einem Stand mit überteuerten Backwaren und Kaffee bildet sich eine Schlange. Hinter dem Tresen geben ein Pole, eine Türkin und eine junge Russin ihr Bestes. Ob sie nun Deutsche sind oder nicht, weiß ich natürlich nicht, aber die Akzente verraten die Herkunft. Eine alte Frau, die nicht so recht einschätzen kann, wer, wann, warum, dran ist, schiebt sich vor mich. Ich lasse sie gewähren und zwinker der Russin zu. Sie versteht, dass ich nicht protestieren werde. Ich habe für die Überforderung jedes Verständnis.
Draußen sammeln sich diejenigen, welche längst unten sind. Neben ihnen stehen die auf den nächsten Zug wartenden Leute mit dem überteuerten Kaffee und rauchen noch eine Zigarette, bevor sie nach irgendwo fahren. Oben auf dem Bahnsteig steht Max Giermann. Wie es sich für Berliner gehört, nimmt niemand Notiz von ihm. Mein, unser Zug, hat ausnahmsweise nur 6 Minuten Verspätung. Im Zug hat sich im Bistro-Abteil ein Outdoor-Hipster-Paar ausgebreitet. Teure Rucksäcke, eine sündhaft teure Iso-Matte und Jacken, die für einen Patagonien-Trip konzipiert wurden. Aber die Jeans sind zerrissen, man will schließlich locker wirken. Sie hockt auf der Bank und er streckt sich aus. Es geht in ihrem Geschwätz um teure Sofa von Ligne Roset, die unangenehme Situation, wenn man in einem Hostel mit 50-Jährigen auf dem Boden schläft und den nächsten Trip nach New York. Wenigstens ihre Welt ist noch heil. Aber ihre Kreditkarten werden nicht akzeptiert. Tja, ein wenig Bargeld wird auch in der Welt abgehobener Hipster benötigt.
In den Nachrichten wird von einer kommenden Wirtschaftskrise berichtet. Ein Atomkrieg mit Russland ist nach Meinung der Journalisten*innen und Experten möglich, aber unwahrscheinlich, weil er Putin keine Vorteile brächte. Putin ist ein Psychopath. Auf seine Art charmant, gefühlskalt, empathielos, süchtig nach sozialer Dominanz und manipulativ. Ich weiß nicht, ob man da mit der Ratio eines studierten Politologen herangehen kann. Überall ist zu lesen, dass Putin am Ende sei. Wunsch? Propaganda? Hoffnung? Egal, ich kann’s nicht ändern.
In Hannover verpasse ich meinen Anschlusszug aufs Land. Also rauche ich noch eine Zigarette. Dort, wo ich stehe, ist auch die Bahnhofsmission. Drei Rentner verschenken dort heißen Kaffee. Mir bieten sie auch einen an. Ich verzichte, dennoch spende ich 3 EUR. Ein Obdachloser ohne Beine beschwert sich lautstark, dass die Rentner ihn vergaßen. Der Bahnhof in Hannover fasziniert mich immer wieder. Ich kenne keinen anderen Bahnhof, in dem es so schwer ist, von einer Seite zur anderen zu kommen, ohne dabei mindestens mit zwei anderen in Kollision zu geraten. Oben auf dem Gleis sind viele Soldaten und Soldatinnen unterwegs. Ansonsten wartet dort Volk aus allen Schichten. Ich gebe mal wieder den Rebellen. Rauchen ist nur innerhalb eines auf den Boden gezeichneten gelben Quadrats erlaubt. Für mich entspricht dies einem, mit einer Schwimmkette abgeteilten Bereich für Harninkontinente im Schwimmbad. Zweckfrei! Beidbeinig einen halben Meter neben der Linie zu stehen, ist beinahe kriminell.
Ich denke noch einmal an den Mann im Bus zurück. Mit dem Geld, welches mir zur Verfügung steht, gehöre ich zum 1 % der Reichen auf diesem Planeten. Klingt gut. Man braucht dafür aber auch nur knappe 20.000 EUR p.a. Innerhalb dieses Prozents ist viel Platz nach oben. Auf jeden Fall ist an der Stelle des Planeten, wo ich mich befinde, weder etwas von Klimawandel, Hungersnöten, noch Krieg, zu spüren. Wie es anders aussehen kann, hab ich erfahren. Ich vermute, einige werden sich in nächster Zeit noch ganz schön umschauen. Der Mann mit der Jacke und Tüten ist schon mal vorgegangen. Zumindest, wenn meine mies gelaunte Prognose richtig ist und die Journalisten irren. Jetzt sitze ich am Ende eines langen Tages auf dem Land. Sonntag sind Wahlen und ich werde meiner Bürgerpflicht nachkommen. Doch ich gebe zu, dass ich keinerlei Vorstellungen davon habe, wen ich wählen soll. Nun, ich werde versuchen mich nicht an der Bundesregierung zu orientieren, sondern die Belange des Bundeslandes in Betracht zu ziehen. Aber wirklich einfacher wird es damit nicht.