Man denkt Deutsch

Vor einigen Wochen traf ich abends in einem Lokal mit einer in Deutschland lebenden iranischen Autorin zusammen. Im Zuge unseres Gesprächs fragte sie ich, was ich als typisch deutsch empfände. Neben einigen anderen Aspekten antwortete ich: “Bei uns wird für alles auf eine sehr eigene Art und Weise immer ein Verantwortlicher gesucht. Verkehrsunfall, umfallende Bäume, Straßenglätte, Brände, Blitzschlag, Schäden durch Starkregen, Verbrechen, Terror – egal! Wenn es zu einem Unfall kommt, muss de facto ein Fehler vorangegangen sein, sonst wäre er nicht passiert. Und wenn der nicht unmittelbar bei den Beteiligten zu finden ist, liegt der Schwarze Peter bei einer Behörde, die nicht die richtigen Schilder aufgestellt hat. Oder noch besser wird es auf Landstraßen. Gurkt dort einer gegen einen Baum, ist der Baum Schuld und im Nachgang wird die Allee abgeholzt. Schlägt der Blitz ein und alles verschmort, muss es am Installateur gelegen haben. Wir bezichtigen auch nicht all diejenigen, inklusive uns selbst, die mit ihrem Way of Life das Klima negativ beeinflussen, sondern den dummen Architekten, der dies nicht berücksichtigte. Fällt ein Einbrecher im Garten in eine unbedeckte Grube, ist der Hausbesitzer schuld, weil er sie nicht gesichert hat. Nicht der Verbrecher ist der alleinige Übeltäter, sondern gleichsam die Polizei, welche ihn nicht stoppte. Kommt es zu einem Terroranschlag und der Terrorist stirbt, müssen Mitglieder einer Behörde für die Tat herhalten.”
Im Grunde genommen bewegen wir Deutsche uns in der Weltgeschichte wie kleine Kinder, die im Gegensatz zu einem Erwachsenen nicht umsichtig auf sich selbst Acht geben können. Gleichsam sind wir nicht dazu in der Lage, das Leben mit all seinen Tücken, Gefahren, Widrigkeiten, hinzunehmen. Es kann nicht sein, was nicht sein darf. In die gleiche Kategorie fallen Eltern, die sich an einem Waldrand ein Haus kaufen und sich darüber mokieren, dass sich dort Waldtiere herumtreiben, die die eigenen Ableger gefährden könnten. Also muss der Jäger kommen und alles über den Haufen knallen, was größer als ein Kaninchen ist.
Am Morgen des 31. Oktober 2022 ereigneten sich in Berlin mehrere Geschichten. In der einen geht es um einen tragischen Verkehrsunfall. Eine Frau geriet mit ihrem Fahrrad unter die Räder eines Betonmischers. Wie es dazu kam, ist öffentlich nicht bekannt. Vielleicht lag es an einem Fahrfehler des Fahrers. Möglich ist auch eine Unaufmerksamkeit der Radfahrerin. Oder beide haben dazu beigetragen. An der Stelle schreien bereits die ersten Deutschen auf. Stichwort: Opferumkehr! Es besteht eine große Diskrepanz zwischen einer rechtlichen Betrachtung und dem echten Leben. Will ich in einer Großstadt leben oder besser ausgedrückt, überleben, kann ich weder ständig auf mein Recht pochen, noch davon ausgehen, dass alle anderen alles korrekt machen und ihre Hausaufgaben machten. Ich muss meine Augen aufhalten und wachsam bleiben. Mich wundert dabei, dass in einer Zeit von Kopfhörern und Smartphones nicht deutlich mehr passiert. Gute Kraft- und Radfahrer haben stets im Kopf, dass die anderen Fehler machen und versucht sie vorauszusehen. Im Nachgang kann ich den oder die andere/n immer noch vor den Kadi ziehen. Aber erstmal habe ich mich selbst gerettet. Jedenfalls lag diese Frau nun lebensgefährlich verletzt unter dem Betonmischer. Berlin befindet sich in der luxuriösen Lage, für derartige Fälle über ein Spezialeinsatzfahrzeug der Feuerwehr zu verfügen. In diversen ländlichen Gebieten unvorstellbar. Vollkommen ausgeschlossen in 90 % der restlichen Regionen dieses Planeten. Jetzt steht die Behauptung im Raum, dass die Feuerwehr kausal und den Aktivisten vorwerfbar verspätet eintraf. Es dürfte sich interessant gestalten, wie der Nachweis zu erbringen ist, dass sie sonst mit absoluter Sicherheit früher eingetroffen wäre. Nach meinem Verständnis ist dies unmöglich. Es kann nicht einmal bewiesen werden, dass ohne die Aktivisten kein Stau aus anderen Gründen zustande gekommen wäre.
Nach dem Unfall passierte eine zunächst separat zu sehende Geschichte. Ein Unbekannter nahm den Unfall zum Anlass, den Fahrer des Betonmischers mit einem Messer zu attackieren. Mehr ist dazu öffentlich nicht bekannt. War es ein anderer Radfahrer, der sich über das Geschehen so sehr aufregte, dass bei ihm die Sicherungen durchbrannten? Ein durch die schon seit längerer Zeit vergiftet geführte Debatte bezüglich des Berliner Straßenverkehrs aufgestachelter Mann? Oder ein Passant? All dies werden Ermittlerinnen und Ermittler zu klären haben. Vielleicht gibt es auch gar keine Kausalität?
Auf einer der möglichen Anfahrtsstrecken, die der Fahrer oder Fahrerin der Feuerwehr nehmen konnte, herrschte ein Stau auf der BAB100. An diesem Tag verursacht von Aktivisten, die das Unterlassen von schädlichen Eingriffen ins Klimageschehen einfordern und mit ihren Aktionen die Politik zum Handeln zwingen wollen. In Berlin ist auf dieser Autobahn mit Einsetzen des Berufsverkehrs quasi immer Stau. Und da die wenigsten Autofahrer und Fahrerinnen in der Fahrschule aufpassten, sind Rettungsgassen ein seltenes Ereignis. Mit anderen Worten: Für einen Stau braucht es nicht die Aktivisten. Was die Besatzung des Spezialfahrzeugs veranlasste, sich trotzdem für die Bahn zu entscheiden, weiß ich nicht. Auf der Bahn benötigt ein Fahrzeug ohne Sonder – und Wegerechte vom Bereitstellungsort Hauptfeuerwache (wenn das Fahrzeug dort stand!) normalerweise 11 Minuten und bei einer Fahrt abseits der Bahn 16 Minuten. Mit Blaulicht und Martinshorn verändern sich die Zeiten natürlich. Ich weiß nicht, wie viele Fahrzeuge dieser Art die BFW hat, aber bei der Finanzlage Berlins vermute ich ein einziges oder maximal zwei. Ergo, hätte es auch überall woanders stehen können oder schlimmsten Falls an einem anderen Ort eingesetzt sein können. Jedenfalls kommen da einige mögliche Parameter zusammen. Im Prinzip läuft es auf “Hätte, hätte, Fahrradkette!” und auf an anderen Orten des Planeten geltendes “Kismet!” hinaus.
Doch alle drei Ereignisse fanden in Deutschland statt. Menschen an sich sind ohnehin Opfer eines evolutionär bedingten Denkfehlers. Sie verknüpfen stets Ereignisse zu einer einzigen Erzählung. Es erscheint uns vollkommen logisch, dass das eine anderes nach sich zieht. Wenn das so wäre, würde sich das Chaos ordnen lassen und mittels eines noch zu konstruierenden Computers zuverlässige Aussagen über die Zukunft treffen lassen. Ich treibe es mal auf die Spitze: Wie viele Menschen kamen durch den Stau nicht dazu, etwas zu tun, was unter Umständen schlimme Folgen nach sich gezogen hätte? Wir wissen es nicht, die wissen es nicht und niemand wird es jemals erfahren. Doch im deutschen Denken ist dies alles nicht vorgesehen. Ordnung fabriziert Sicherheit und wer sie stört, ist eine Gefahr. Ein Mensch ist unter Millionen anderer zu Schaden gekommen. Wenn alles seinen ordentlichen deutschen Verlauf genommen hätte, wäre dies nicht passiert. Somit muss an irgendeiner Stelle die Ordnung durcheinander gebracht worden sein. Moment! Richtig, da gibt es doch noch diese nervigen Aktivisten, denen man praktischerweise endlich etwas unter wuchten kann.
Ich schrieb bereits einige Male über eine Begebenheit, die mich nachhaltig zum Nachdenken brachte. Am Strand einer malaiischen Insel stürzte vor 2 Jahren eine Palme auf zwei Chinesinnen und einen jungen Malaien. Die beiden Frauen wurden verletzt und der Mann erschlagen. Die Feuerwehr hätte viel zu lange gebraucht, also wurden die Frauen mit einem Taxi ins Krankenhaus gefahren. Um die 30 Minuten später rückten zwei Polizisten an. Sie schauten sich alles an und mit vereinten Kräften einiger Beschäftigten aus umliegenden Bars, zogen sie den Leichnam unter der Palme hervor. Ich selbst wurde Zeuge vom ganzen Geschehen. Nicht nur das. Dort wo die gesessen hatten, saß ich häufiger selbst. Deshalb ging mir einiges durch den Kopf. “Hätte, hätte, hätte!” An diesem Abend saß ich in unmittelbarer Nähe am Tresen und bestellte mir einen Schnaps. Der Besitzer der Bar fragte mich, was mit mir los sei. Etwas irritiert fragte ich, ob ihm die ganze Aktion nicht zu denken gäbe. Dabei zeigte ich auf die von uns 10 Meter entfernt liegende Leiche. Seine Antwort: “Weder Du noch ich hatten eine Verabredung mit der Palme. Der Junge da schon. Wir leben weiter, bis unsere Verabredung ansteht.”
Am Vormittag des nächsten Tages waren alle Spuren der Tragödie beseitigt. Niemand prüfte das Wurzelwerk der Palme und ob sie von der beauftragten Firma ordnungsgemäß eingesetzt wurde. Keine Ermittler kamen, um mittels Zeugen zu klären, ob vielleicht jemand gegen gefahren war oder ob es überhaupt zulässig ist, dass sich Leute im Fallbereich von Palmen aufhalten. Mit Sicherheit wird auch keiner auf die Idee gekommen sein, die Standsicherheit des Baumes zu prüfen. Niemand muss dies toll finden. Doch es ist der unumstößliche Beweis, dass man alles auch ganz anders angehen kann.
Selbstverständlich ändert sich alles, wenn jemand vorsätzlich einen Erfolg herbeiführt oder mit halbwegs verständigen Überlegungen darauf kommen kann, dass ein konkreter Schaden bei einem bestimmbaren Objekt oder Person eintreten wird. Auf den Betonmischer und die Aktivisten angewendet, bedeutete dies eine konkrete gezielte Blockade der Zufahrtsstraße. Aber eine Verantwortlichkeit für alles, was in dieser Stadt passiert, weil jemand aufgrund eines Staus nicht plangemäß an Ort und Stelle ankam, ist absoluter Blödsinn. Erst recht, wenn mit der Bildung einer Rettungsgasse alles ganz anders gelaufen wäre. Ich will gar nicht damit anfangen, dass in dieser Stadt im 21. Jahrhundert etwas schiefläuft, wenn sich im Berufsverkehr jeden Tag eine Blechlawine hindurch wälzt. Daran sollten vielleicht mal einige nachdenken, die von einer kritischen Infrastruktur reden. Natürlich könnte die Antwort aus noch mehr, breiteren, größeren, Straßen bestehen. Mir kommt dabei allerdings der Gedanke, dass Fahrzeuge immer noch tote seelenlose Maschinen sind. Ich persönlich bin nicht bereit, Leblosem den Vorzug vor dem Lebendigen einzuräumen. Bemerkenswert ist dabei, dass lediglich knappe 90 Jahre deutsche Auto-Kultur (Ich nehme als Eckpunkt den ersten Volkswagen) einer viel größeren Zeitspanne der Stadtentwicklung gegenüber stehen. Spannend sind auch Formulierungen wie “Auto-Liebhaber” oder “Auto-Hasser”. Lieben und Hassen liegen eng beieinander, sollten aber Emotionen sein, die sich auf Lebendiges beziehen. Jeder kann sein Sexualleben ausleben (Einvernehmlichkeit vorausgesetzt), aber die Liebe zu toten Gegenständen ist schon ein wenig speziell.
Gebildet wird die Lawine von Fahrzeugen, in denen völlig überforderte Leute sitzen. So ziemlich jede schlechte Charaktereigenschaft und Großstadtneurose erfährt durch eine Tonne und mehr Metall nach außen hin sichtbare Verstärkung. Das ist eine der schönen Seiten des Kapitalismus. Eine ganze Menge Mitmenschen offenbaren uns über ihr Auto, Fabrikat, Form, Ausstattung, eine Menge über sich selbst. Die Designer und die Industrie bedienen nahezu alle Bedürfnisse.
Käme jemals jemand auf die Idee, die rechtlich mögliche Entziehung einer Fahrerlaubnis wegen charakterlicher und wesensbedingter Unfähigkeit konsequent umzusetzen, müssten dreiviertel der Verkehrsteilnehmer aufs Fahrrad umsatteln. Und selbst beim Fahrrad hege ich noch Zweifel.
Das System wehrt sich und mich erschreckt ein wenig, dass die Presse durchgehend beteiligt ist. Die Aktivisten zu beschuldigen, ist eine fadenscheinige Rhetorik. Klima? Ja, Ja, alles ganz schlimm, aber man darf es auch nicht übertreiben. Immerhin hat es für viele Lebewesen auch Vorteile. Man nehme zum Beispiel die Kraniche. Früher mussten die armen Tiere über lange Strecken in den Süden fliegen. Jetzt bleiben viele hier, weil es bei uns warm genug wird. Wer weiß, vielleicht bleiben dann die Deutschen auch hier. (Muss derjenige sagen, der sich irgendwann wieder auf asiatischen Inseln herumtreibt!) Ich nehme die Kritik an. Angebot meinerseits: Alle, Politik, Industrie, arm, reich, ziehen alle an einem Strang. Dann steige ich nicht in den Flieger. Doch solange es darauf hinausläuft, dass auf Sicht alles an die Wand gefahren wird und zu viele Zeitgenossen den Hals nicht voll genug bekommen, verziehe ich mich ab und zu dahin, wo mehr Hippies unterwegs sind. Mit Blockaden sind die jedenfalls nicht aus der Ruhe zu bringen. Die Meldungen im Berliner Pressewald haben mir schon wieder gereicht. Die Aktivisten sollten mehr Mahnung sein und ein schlechtes Gewissen erzeugen, denn Empörung hervorrufen. Ob sie nun etwas erreichen oder nicht: Sie tun etwas! Die Sache mit dem Spiegeln! Schon doof, wenn man in Ruhe im Falschen sein Ding machen will und die einem auf die Nerven gehen. Wir haben doch jetzt lange genug über dieses Klimathema geredet. Reicht jetzt!
Ihr habt doch den Knall verpasst.