Lesedauer 12 Minuten
Vorab: Immer mal wieder bemängeln Leute, die ab und wann meinen BLOG lesen, dass die Beiträge zu lang sind. Ich antworte an dieser Stelle: Für sie persönlich und das ist auch völlig OK und nachvollziehbar. Ich hab selbst Schwierigkeiten, längere Texte zu lesen. Besonders, wenn es keine unterhaltsame, spannende Geschichte ist. Ich schreibe hier nicht, um zu unterhalten. Mich treibt nicht einmal ein Sendungsbewusstsein an. Ich stelle klar, wo ich nicht gedenke mitzumachen und welche Schlüsse ich aus meinen Beobachtungen ziehe. Wenn ich damit jemanden zum Nachdenken anrege – gut! Wenn nicht – auch gut. Ist jemand neugierig, wie ein “gelernter” ehemaliger Kriminalbeamter die Welt sieht – prima, dann ist hier jede Menge Stoff. Aus dem nachfolgenden Text wird deutlich werden, für wie wichtig es halte, sich dem WIR zu entziehen und eine ICH – Position zu beziehen. Und auch, wenn es etwas morbide klingt, ich schaffe mir hier meinen eigenen Nachruf. Wie ich das meine, wird im Text ebenfalls erkennbar. Mit dem, was ich hier schreibe, werde ich greifbar und niemand kann sagen, dass ich widerspruchslos mitgemacht habe. Und das funktioniert oftmals nicht in wenigen schnell geschriebenen Worten – und Hey, andere schreiben Bücher mit 600 und mehr Seiten.
Allgemein heißt es, dass Deutschland am 8. Mai 1945 von den Nazis befreit wurde. Für mich klingt dies, als wenn sich jemand einen Parasiten einfing und damit zum Arzt ging. Es wird nicht besser, wenn es heißt, dass die Deutschen befreit wurden. Immerhin waren die Nationalsozialisten Deutsche. So wie auch viele, die sie einsperrten, in Lager deportierten, quälten, töteten, deutsche Staatsbürger waren.
Nur eben mit der ihrer Auffassung nach falschen Haltung, spirituellen Ausrichtung oder Lebensart. Manche sagen auch, dass Europa von der Barbarei befreit wurde. Barbaren waren für die Griechen ursprünglich alle Völker, die nicht ihre Sprache sprachen. Später bezogen sie die Bezeichnung zusammen mit den Römern auf alle Völker, bei denen sie der Meinung machen, dass sie kulturell niedriger entwickelt waren. Im gewissen Sinne erscheint mir in diesem Kontext die Bezeichnung korrekt. Allerdings besaß Deutschland vor den Nationalsozialisten eine Kultur. Die passte nicht ins Konzept. Alles Intellektuelle, Empfindsame, Gefühlvolle, musste der kalten Maschinerie weichen.
Brutalität, furchtbare Taten, Massaker, Schändungen, ganze Landstriche entvölkern, taten auch schon andere zuvor. Allein der 30-jährige Krieg, die Eiserne Zeit, brachte einiges mit sich. Aber vieles war bei den Nationalsozialisten neu. Krieg zu führen, andere Länder zu überfallen, den Versuch zu unternehmen ein Imperium aufzubauen, ist kein historisches Alleinstellungsmerkmal. Alle anderen als Minderwertig zu betrachten, eine frei erfundene Rasse und einen kompletten Überbau zu erschaffen, war dann doch eine Innovation. Selbst Cäsar zollte den Galliern und anderen unterworfenen Stämmen in seinem Werk “De bello Gallico“, seinen Respekt.
Doch diese Rassenideologie funktionierte nicht einfach mit der Machtübernahme. Hierzu gab es eine Vorgeschichte, eine Entwicklung, die vor den Nationalsozialisten begann. Erst wähnte sich ganz Europa anderen überlegen, kolonialisierte, missionierte, beutete aus und versklavte andere Menschen, weil sie die für minderwertige Rassen hielten. Die Nationalsozialisten setzten eins obendrauf und behaupteten, dass es eine einzige Herrenrasse gäbe, die allen anderen überlegen wäre.
Die Neuen Rechten beziehen sich auf die Konservativen der Weimarer Republik, die am Ende selbst Opfer der Nazis wurden. Was sie meiner Meinung nach noch nicht verstanden haben, ist die Tatsache, dass sie mit ihrem Weltbild die Grundlagen schufen, die die Nationalsozialisten konsequent umsetzten. Ein Effekt, den einige nie verstehen werden. Wer etwas fordert, ein Gebilde entwickelt, Wünsche äußert, sollte sich der Folgen bewusst sein, denn es könnte eine Umsetzung erfolgen.
Heute sehen wir dies in der Flüchtlingspolitik. Konservative reden von geschlossenen Grenzen, kontrollierte Einreise, Zurückweisung von Menschengruppen, denen nach aktueller Gesetzgebung die Einreise nicht erlaubt ist. Was sie allerdings offen lassen, sind die eintretenden Folgen, wenn jemand konsequent durchzieht, was sie da in die Mikrofone sprechen. Sie wollen gewählt werden und reden den Leuten zu Munde, aber die Verantwortung wollen sie nicht übernehmen. Faktisch setzen sie Entwicklungen in Gang, deren Verlauf sie nicht kontrolliert bekommen.
Und sie tun noch etwas anderes, was vielleicht noch schlimmer ist. Stellvertretend für andere Konservative sagte der CDU Politiker Jens Spahn in einer Talkshow, dass es an der Zeit wäre, die Regelungen für Asyl und Flüchtlingsaufnahme zu überdenken. Deutschland ist als Mittelstaat geografisch von sicheren Ländern umgeben. Aufgrund der Drittstaatenregel, demnach kein Anspruch auf einen Aufenthalt besteht, wenn der/die Geflüchtete oder Asyl beantragt, über eben eins dieser sicheren Länder kommt. Der deutsche Staat zahlt an andere Länder, damit die Flüchtlinge aufnehmen und Asyl gewähren. Weitere Gelder fließen in die Überwachung des Mittelmeers und vorgeschaltete Lager in Nordafrika. Wegen meiner könnte man dies noch als eine Art von Kostenbeteiligung sehen. Wie auch immer man es nennt, es geht um Geld und um die Angst einiger deutscher Mitbürger, Wohlstand und Sicherheit zu verlieren. Flüchtlinge mit einem Namen und einer Identität werden zum Kostenfaktor. So ist das eben auf dieser Welt. Wirst Du am falschen Platz geboren, hängt an Deinem Zeh gleichzeitig ein Preisschild.
Du bist ein Gegenstand, der Lager-, Transport- und Unterhaltskosten verursacht. Nicht mehr Amos Achebe, aus Nigeria, sondern der Flüchtling, der in einem nordafrikanischen Sammellager die industrialisierten Staaten in Europa pro Tag 3 US-Dollar kostet. Dein Preis steigt, wenn Du es lebend bis nach Europa schaffst. Zum lukrativen Geschäft wirst Du, wenn Du in Süden Europas quasi als Sklave auf einer der Obstplantagen arbeitest. Kurzum: Die Entmenschlichung, die Wegnahme der Würde, findet wieder statt. Und wie mit Menschen umgegangen wird, die zur Sache, zum Kostenfaktor, werden, zeigten uns die Nationalsozialisten.
Niemand wird Herrn Spahn in etwas fernerer Zukunft mit grauenerregenden Bildern in Verbindung bringen, die sich an geschlossenen Grenzen zu Europa abspielen. Wobei in Moria längst die Zukunft begonnen hat. Außerdem blicken wir längst auf eine Generation, die in Lagern geboren wurden und nichts anderes kennen. Es wird heißen, WIR, die Europäer, beschlossen und handelten. Ich nicht, meine Freunde nicht und auch sonst niemand, den ich zu meinem näheren Umfeld zähle. Alle anderen habe ich nach und nach erfolgreich aus meinem Sichtfeld entfernt. Sie, die verbliebenen Freunde, und ich werden mit eingegliedert, während die wirklich verantwortlichen Personen im WIR aufgehen.
Haben alle Deutschen aus der NS-Zeit ihre Lehren gezogen?
Die Sozialisation, die ein in Deutschland geborener Mensch erfährt, birgt ein hohes Risiko, dass am Ende ein/e Technokrat/in herauskommt, die/der alles konsequent, bis ins letzte Detail, buchstäblich und präzise den Vorgaben, Regeln, Gesetzen, folgend, umsetzt. Die Buchstaben des Gesetzes, der Order, der Regel, stehen für diese Leute über dem Menschen. “Ich befolgte nur die Vorgaben und da stand eindeutig, so effizient wie möglich, die größte mögliche Anzahl nummerierter KZ-Insassen zu töten.”
Das Problem bei der Auseinandersetzung mit den Ursachen besteht im Horror des Geschehenen. Es ist schwierig darauf hinzuweisen, wo einiges hinführen kann, weil jeder sofort sagen wird: “Das wollen Sie doch wohl nicht mit den Nationalsozialisten vergleichen!”
Ein Beispiel: Wenn ich einem gut ausgebildeten deutschen Schutzpolizisten den Befehl erteile, er soll an einer Stelle Posten beziehen und bis zur Ablösung dort ausharren, wird er es tun. Selbst wenn er bei halbwegs vorhandenen Verstand erkennt, dass etwas nicht stimmen kann. Ich erlebte, dass einer den Auftrag bekam, eine aufgefundene, aber nicht brisante Mine zu bewachen. Irgendwie ging dies in den Wirren des gesamten Einsatzgeschehens unter. Am Ende stand der 9 Stunden später immer noch da. Diese Form von Gehorsam kann bei falschen Voraussetzungen böse in die Hose gehen.
Gleichfalls einfach ist es, Menschen und Lebewesen, zum Gegenstand einer Regelung werden zu lassen. Heute, mehr denn je, weil alles zu abstrakten Datensätzen mutiert. In deutschen Behörden dienen Beamte unter der Bezeichnung Sachbearbeiter.
Ich habe über die Herkunft dieser Bezeichnung lange nachgedacht. Positiv gesehen, könnte man von der Notwendigkeit einer Neutralität ausgehen. Die/der Beamte bearbeitet eine Akte, somit tatsächlich eine Sache. In ihr befinden sich Berichte, Vermerke, Zeugenaussagen, Gutachten, Anträge, zu einem Geschehnis bei dem Menschen, Lebewesen, involviert sind. Kriminalbeamte sollten nicht gegen einen Menschen ermitteln, sondern ein Geschehnis betrachten und die Rolle der einzelnen handelnden Personen skizzieren. Konjunktiv! Wie auch immer, am Ende liegen auf dem Schreibtisch Akten, da ist es schwierig jeden Tag neu zu realisieren, dass in jeder dieser Akten lebende Wesen eine Rolle spielen.
Einige deutsche Mitbürger haben in den letzten Jahren eine interessante Gesetzestreue entwickelt. Plötzlich sind bereits geringe Regelverstöße kriminelle Handlungen. Mit einem Mal werden die Buchstaben des Gesetzes exzessiv ausgelegt. Wenn jemand eine Straße blockiert, wird er gleichsam zum Killer, weil ein Rettungsfahrzeug nicht durchkommt. Natürlich gilt dies nicht, für die notorisch in der zweiten Spur haltenden, Falschparker, die Straßen so eng werden lassen, dass die Feuerwehr nicht mehr hindurchkommt. Auch nicht für diejenigen, welche im Berufsverkehr mit einem Blechschaden mittig stehen bleiben und lange Staus verursachen. Nein, es gilt nur für die Leute, die mit der Blockade ihrem Gewissen folgen. Selbst die schon seit Jahrzehnten auf deutschen Straßen vorherrschende Aggressivität wird nun zur gerechtfertigten Notwehr. Es ist eine irrige Annahme, dass die Verkehrsteilnehmer/innen erst durch die Blockaden aggressiv wurden. Die empörten Verkehrserzieher, verkappten Schläger, Wichtigtuer, gab es schon zuvor. Jetzt haben sie ein Ventil! Neu ist: Ihnen wird seitens größerer Teile der Bevölkerung und Medien Beifall geklatscht. “Die müssen mal richtig vor den Kopf bekommen. Einfach mal mit dem Auto drüber fahren. Das ist die Notwehr eines ordentlichen Deutschen. Das sind Sektenmitglieder, die müssen eingewiesen werden.” Selbst eine SPD Politikerin, Frau Spranger, teilt der Öffentlichkeit mit, dass endlich das Gewahrsam auf 5 Tage verlängert werden muss, damit die endlich mal abgeschreckt werden. Niemand wird sie namentlich benennen, wenn eines Tages andere, die sich ihrem Gewissen verpflichtet fühlen, für 5 Tage zur Abschreckung weggesperrt werden. Im Unterschied zur nationalsozialistischen Schutzhaft kommt immerhin ein/e Richterin ins Spiel. Wo in Teilen unsere Justiz aktuell steht, ist nicht mehr sicher. Dafür sind zu viele seltsame Gestalten in der Hierarchie aufgestiegen. Diejenigen, welche über die AfD öffentlich bekannt wurden, signalisieren ein Dunkelfeld, sonst wäre der Aufstieg nicht möglich gewesen.
Fazit: Wenn es gegen die “Richtigen” geht, jene welche die deutsche Ordnung gefährden, ist der deutsche Mob schnell mobilisiert und Sozialdemokraten vergessen schon mal ihre Herkunft.
“WIR” nehmen dies tagtäglich hin. Obwohl wir wissen könnten, dass ohne diese Konzeptionen, ein Drittes Reich niemals möglich gewesen wäre. Oder was ist mit dem Holocaust? Er wurde bis ins letzte Detail dokumentiert. Sachbearbeiter führten Listen mit Namen, den geraubten Habseligkeiten, den Vermögenswerten. Die Konzentrationslager wurden ordentlich geplant, Mittel genehmigt, nach Dienstanweisungen konstruiert und ebenfalls mittels Anweisungen bewacht. Deutsche Sachbearbeiter dokumentierten ohne Skrupel, schlechtes Gewissen, technokratisch, den blanken Horror, welchen sie nicht als solchen empfanden. Denn es handelte sich um die gute deutsche Ordnung.
Das Versteckspiel der Täter in Sachen ökologischer Kollaps und Klimakatastrophe
Künftige Generationen werden nicht sagen, Herr Wissing sah Autobahnen für wichtiger an, als ökologische Strukturen, Herr Lindner, hielt an einer längst überkommenen und sich als negativ erwiesenen Haltung fest und versuchte rhetorisch das Recht auf Gier herzuleiten, wobei er gleichzeitig völligen Unfug daher redete. Vielleicht wird er in der einen oder anderen Erzählung als Lachnummer auftreten, wie man es im Nachgang mit einem Lübke tat. Merz, Dobrindt, Bär, werden in der Menge all derjenigen untergehen, die am Anfang des 21. Jahrhunderts die neuen Mittel der Digitalisierung für die Macht erhaltende Propaganda exzessiv nutzten.
Doch einzeln werden sie, schon deshalb, weil sie keine Alleinstellungsmerkmale aufweisen, im Schatten von Trump, Johnson, Putin, u.a., in der Menge untergehen. Keiner wird all die Wirtschaftsstrategen namentlich benennen, die bis zum letzten möglichen Zeitpunkt darauf setzten, dass sie die Folgen der kommenden Klimakatastrophe von den wenigen Vermögenden fern halten. Wenn die Jünger/innen des Neoliberalismus auch die letzte Gesellschaft durch Spaltung und gegenseitige Kämpfe zerstört haben, werden die Leute zurückschauen. Aber werden sie auch Namen benennen? Oder allgemein von den Neoliberalen, Republikanern, sprechen?
Sie werden von den Europäern, den Deutschen, den Bewohnern der nördlichen Hemisphäre oder westlichen Industriestaaten sprechen. Nicht einmal aktuell sind die Leute im Allgemeinen fähig, konkrete Personen zu benennen. Von den Politikern, der Politik, dem Establishment, der Wirtschaft, dem Bürgertum, den Boomern, ist die Rede.
Denen, die sich dagegen stellen, mit allem nicht einverstanden sind, wird damit nicht der nötige Respekt erwiesen und diejenigen, welche sich an ihrer Macht berauschen, sich als Menschen im Mittelpunkt des Geschehens sehen und alles andere ihnen zur Verfügung zu stehen hat, wird damit die Verantwortung genommen. Zu Lebzeiten wird sie niemand zur Rechenschaft ziehen können und nach ihrem Tod sind ihre Namen vergessen oder irrelevant.
Nun behaupten Leute, die im Dritten Reich lebten, dass sie nichts wussten. Unter sozialen Druck traten sie der NSDAP bei, weil es halt nicht anders ging. Bei vielen anderen Dingen sagen sie: “Das war die Zeit und wir wussten es nicht besser.” Oder sie reden vom einfachen Wehrmachtssoldaten, der seinen Befehlen gehorchte und tat, was Soldaten so tun, wenn sie in den Krieg ziehen.
Ich bin 1966 geboren und mit diesen Erzählungen aufgewachsen. Ich lernte Männer kennen, die ihre Ausbildung auf einer Eliteschule (NAPOLA) bekamen, sprach mit Frauen, die beim BDM (Bund Deutscher Mädel) Karriere machten, sah die Auswirkungen russischer Kriegsgefangenschaft, hörte, wie sich einige in die eigene Tasche logen. Aber ich hatte auch Kontakt zu Frauen und Männern, die sich in unterschiedlicher Art und Weise dagegen stellten. Dies ist entscheidend. Erstens, konnte man sich offensichtlich entziehen und eine andere Entscheidung treffen und zweitens, gab es unter den Deutschen nachweislich solche und solche. Womit fest steht: Einige wurden befreit und andere erlitten eine Niederlage. Außerdem gibt es kein “WIR“, sondern jeder musste und konnte seine eigene Wahl treffen. Philosophisch gesehen, ein alter Hut.
Dieses “WIR“, die Deutschen, den Vorgaben eines Staates folgen, Befehlen zu gehorchen, ist eine Tarnkappe. Die gleiche Tarnkappe, die in anderen Zusammenhängen die Aufschrift “Menschheit”, oder “Wirtschaftliche Konkurrenzfähigkeit” trägt. Entweder ich konnte nicht anders, weil ich Opfer der Gruppendynamik wurde, die sich u.a. in Gruppenmoral, sozialen Druck und Sozialisation äußerte, ich wurde manipuliert, ich war ein kleines Licht oder der Mensch ist halt so, wie er nun einmal ist. Im Falle der Nationalsozialisten war es am Ende ein Mann: der Führer! WIR … wir, das gemeine Volk konnten nichts dafür.
Das “Wir” beraubt uns der Bezeichnung “Mensch”
Aber was macht den existenziellen Unterschied zwischen einem Tier und einem Menschen aus? Meiner Auffassung nach: Das ICH! Die Fähigkeit, sich selbst als Individuum zu erkennen und eigene Entscheidungen treffen zu können. Selbst mich in eine Gruppe einzuordnen, ist eine eigene Entscheidung. Gern wird dies als passiver Akt gesehen. Ich wurde der Gruppe zugeordnet.
Nein! Du hast es geschehen lassen und bist geblieben. Ja, diese oder eine andere Entscheidung, werden Folgen nach sich ziehen. Bei der einen wirst Du unter Umständen getötet, landest selbst im Lager oder fristest das Dasein eines Ausgestoßenen. Die andere führt zu einer Karriere, Anerkennung durch andere, ein bequemes Leben oder einfach nur zum nackten Überleben.
Wie auch immer, es bleibt eine individuelle Entscheidung, für die man möglicherweise zur Verantwortung gezogen wird. Selbst Tote, auch wenn es sie nicht mehr interessiert, sind davon nicht ausgenommen. Einige werden nachträglich zum Helden, anderen zu Monstern. Allerdings in sehr seltenen Fällen für die breite Masse erinnerlich. Ich gehe in fremden Städten und Kulturen häufiger über Friedhöfe. Das ist keine morbide Ader in mir, sondern ich denke dabei über die Lebenden nach. Stets frage ich mich beim Anblick der alten prunkvollen, übelst verwitterten, Grabstätten, was die Leute sich dabei zu Lebzeiten dachten.
Wie man es selbst mit dem eigenen Ruf nach dem Tod hält, ist ebenfalls individuell. Was schert es den Toten, wenn auf einem Stein die Gravur zu lesen ist: “Hier wurden die Überreste des KZ-Kommandanten Egon Müller vergraben.” Oder im Gegenzuge: “Hier ruht der einfache Soldat Peter Müller, der beim Versuch zu desertieren, erschossen wurde.”
Vor dem Tod kommt das Leben. Es macht viel aus, wofür man sich entscheidet, wenn man sich die Frage stellt: “Was mache ich aus diesem mir gegebenen Leben?” Will man als Individuum ein einzigartiges Leben führen, einen Namen tragen, oder zum Teil einer Gruppe werden und damit eine Sammelbezeichnung akzeptieren? Viele wählen den zweiten Teil, sie erkennen es nur nicht.
Ich denke, dies hängt damit zusammen, dass die Gruppenzugehörigkeit Teil der menschlichen Grundprogrammierung ist. Ein Freispruch ist das für mich nicht. Denn neben dieser Grundprogrammierung verfügen wir über etwas, was nicht nur in der Lage ist, sie zu erkennen, sondern auch dagegen wirken kann: das Großhirn! Womit ich wieder da bin, was einen Menschen vom Tier unterscheidet.
Will ich ein menschliches Leben führen, muss ich das Großhirn, mit all seinen Fähigkeiten zum Einsatz bringen. Ansonsten bin ich biologisch betrachtet ein Mensch, aber in Bezug auf die Lebensführung, ein Tier. Immerhin noch ein Lebewesen und keine Sache. Einigen Zeitgenossen mag selbst dies egal sein. Damit wir uns nicht falsch verstehen, für mich ist nicht das Kriterium entscheidend, was einer oder eine tut, ob ich dies positiv oder negativ bewerte, sondern mein Punkt ist die individuelle Entscheidung, die Vorwerfbarkeit bzw. Zurechnung der daraus resultierenden Folgen. Die Verantwortung lässt jemanden zum Menschen werden.
In einem Chat, innerhalb dessen ich mit jemanden aus einer Polizeigewerkschaft über die Klima-Aktivisten diskutierte, führte ich an, dass diese ihrem Gewissen folgen. Die Gegenseite meinte: “Und? Kommen die deshalb in den Himmel?” Keine Ahnung, ich glaube nicht an ein Paradies oder Himmel. In erster Linie folge ich der Logik der Wechselwirkung. Mein Handeln muss darauf abgestellt sein, wie ich mir die Welt, in der ich lebe, gestaltet sehen will. Ja, darüber hinaus glaube ich tatsächlich daran, dass alle Lebewesen im Unterschied zu Gegenständen etwas in sich tragen, was den gegenständlichen Körper überdauert. Aber das ist Nebensache. Die Aktivisten/innen werden die Welt nicht retten. Doch für die Zeit, innerhalb derer ihr Dasein in diesem Körper stattfand, haben sie ein selbstbestimmtes menschliches Leben geführt.
Jeder Mensch will sich wohlfühlen. Das hat die Natur so eingerichtet. In unserem Innern besteht ein komplexes Belohnungssystem, welches über Hormone gesteuert wird. Aus der Logik ergibt sich, dass wir uns nach einer Wohlfühlphase, ständig auf ein Neues unwohl fühlen und etwas dagegen unternehmen wollen. Es beginnt mit Durst, Hunger, geht weiter mit Sorgen, Ängsten, den Bedürfnissen nach Nähe, Anerkennung, sozialer Zugehörigkeit, usw.
Der Nationalsozialismus bot einigen ein fertig geschnürtes Paket an Befriedigung an. Wer es haben wollte, brauchte nur zugreifen, außer man hatte von Geburt an die falsche Glaubensrichtung. Die lästige Verantwortung konnte nach oben abgegeben werden, es gab eine Gruppenzugehörigkeit, Anerkennung, Identität, ein Versorgungsversprechen, klare Linien, was positiv und negativ ist, Macht, ein Versprechen in der Hierarchie aufsteigen zu können, das wohlige Gefühl, besser zu sein als andere.
Meine Betonung liegt auf: Wollen und zugreifen! Die Leute mussten der NSDAP beitreten. Das ist ein aktives Handeln. Es gibt kein passives Mitläufertum. Selbst wer nicht ideologisch überzeugt war, verhinderte mit dem Parteieintritt negative Folgen. Während hingegen andere sie in Kauf nahmen.
Immer wieder wurde uns, den Sprösslingen der Nachkriegsgeneration gesagt, dass wir nicht wissen könnten, wie wir uns in dieser Zeit entwickelt hätten. Bei den meisten von uns waren es die Großeltern, die das Dritte Reich über den vollen Zeitraum erlebten. Stimmt, es wird immer Spekulation bleiben. Aber man kann gut erkennen, welche Charaktere anfälliger sind und welche eher resistent sind. Wer eine eigene Identität ausbildet, benötigt keine Nationale und wird sich auch selten so etwas wie einem Patriotismus oder Nationalismus hingeben. Eine stabile in sich ruhende Persönlichkeit benötigt keine ständigen Konkurrenzen, muss sich nicht ständig messen und verspürt nicht den Drang ständig zu bewerten. Gleichfalls sind solche Charaktere dazu in der Lage, sich jenseits fremder Moralvorstellungen, mit einem eigenen ethischen Kompass durchs Leben zu navigieren.
Einzig könnte man anführen, dass eine derartige Persönlichkeit erst einmal herausgebildet werden muss und es Gegenstand der faschistischen und damit auch nationalsozialistischen Ideologie ist, eben genau dieses zu verhindern. Gut, nehme ich hin. Mir geht es auch nicht um Vorwürfe, sondern vielmehr darum, Lehren aus der Vergangenheit zu ziehen. Unter dem Strich ist für mich der deutsche Nationalsozialismus das ultimative katastrophale Ende des Denkmodells “WIR“.
Wie gern sich die Leute hinter einem “WIR” oder allgemeinem Plural verstecken, erlebe, höre, lese, ich jeden Tag. “Man macht, man tut, man unterlässt!“, “Die Menschheit kann nicht anders. Oder sie ist halt, wie sie ist!”, “Wir als Industrienation können nicht anders.” Dabei ist es recht simpel, den Gegenbeweis zu erbringen. Ich muss nur einen einzigen Menschen finden, der sich anders entschied und danach handelte.
Leider scheinen in großen Teilen der deutschen Gesellschaft die Lehren aus den Folgen des Nationalsozialismus nicht angekommen zu sein. Bereits vor Jahrzehnten wiesen Soziologen und Psychologen darauf hin, dass sich die Entwicklung, in der das Individuum immer mehr in Gruppen aufgeht, gefährlich auswirken kann. Ebenso die Tendenz, immer mehr gesellschaftliche Aspekte dem Kommerz, der Wirtschaft, den Konzernen, zu überlassen. Die Verantwortung des Individuums geht mit einem Gewissen einher. Ein Handeln nach Profit, Renditen, gesteigerten Wohlstand zu bewerten, hat nichts mit Gewissen zu tun.
Der Nationalsozialismus ist Historie und es wird ihn in der alten Form nicht mehr geben. Geblieben sind die Grundlagen, die DNS der deutschen Gesellschaft, die Haken und Ösen, welche Hitler und Goebbels erkannten und meisterlich anwendeten. Irgendjemand hat mal gesagt, die Deutschen sind der Demokratie oder wenigstens etwas, was danach aussieht, zugewandt, solange es ihnen gut geht. Ich behaupte, dass es eine echte Chance gab, die von konkret benennbaren Leuten aus unterschiedlichen Gründen sabotiert wurde und wird.
Dass Frauen und Männer, wie Wissing, Lindner, Merz, Dobrindt, Bär, Buschmann und diverse andere die Amerikanisierung der politischen und gesellschaftlichen Auseinandersetzung forcieren, wozu auch der massive Einsatz von Propaganda zwecks nackten Machterhalt gehört, ist offensichtlich. Als man den Godfather der modernen Propaganda Edward Bernays fragte, ob er zustimme, dass Goebbels seine Methoden umsetzte, musste er zustimmen.
Meiner Auffassung entwickelt sich alles in Richtung einer Dystopie, die nicht passieren müsste, wenn man aus der letzten Katastrophe die entsprechenden Lehren gezogen hätte. In dieser werden die letzten Individuen von der Bildfläche der Gesellschaften verschwinden und es wird tatsächlich nur noch ein “WIR” geben. Wer noch als Individuum leben will, wird sich etwas Schlaues einfallen lassen und einen guten Platz finden müssen.
Gefällt mir:
Gefällt mir Wird geladen …