Jeder hat die Pflicht sich selbst zu entscheiden

In der Ukraine tobt ein Krieg. Wieder einmal stehen in Europa zumeist Männer vor der Entscheidung ob sie dem Ruf der Herrschenden folgen. Gestern lernte ich einen 30-jährigen russischen Feuerwehrmann aus Moskau kennen. Er ist in Sachen Krieg nicht unerfahren. Er erlebte das Bombardement während des Jugoslawienkriegs in Belgrad. Erstmalig hörte ich von ihm, dass damals auch Phosphor-Bomben abgeworfen wurden. Ob dies nun so war oder nicht, ist irrelevant. Persönlich glaube ich es nicht. Für die ausgewählten Ziele war das gar nicht notwendig und meines Wissens handelte es sich um Marschflugkörper, die Belgrad trafen.
Als er erkannte, wo die Reise mit der vermeintlichen militärischen Übung hingeht, verließ er sein Land. Zurück blieb seine Familie. Derzeit tarnt er seine Abwesenheit mit Reisen. Erneut war er in Serbien, Ungarn, Rumänien und nun ist er in Istanbul. Seine Familie, seine Töchter, sein kleines Enkelkind und seine Frau sitzen in Moskau. Weder seine Eltern, die Schwiegereltern, noch die Ehefrau sind mit seiner Entscheidung einverstanden.
Es ginge doch um Russland. Er habe die Pflicht für das Vaterland zu kämpfen und außerdem müssten die Schwestern und Brüder in der Ukraine befreit werden. Unterwegs traf er auch Deutsche, die meinten, es wäre falsch, dass die NATO die Nazis in der Ukraine unterstützen würden. „Wer Phosphor-Bomben wirft, will nicht befreien, sondern zerstören!“, sagte er zu mir. Aber wisse auch nicht, wie es weitergehen soll. Überall sah er flüchtende Ukrainer. Die müssten nicht einmal ein Pass besitzen. Eine Fotografie würde ausreichen. Als Russe würde es für ihn immer schwieriger ein sicheres Land zu finden.
Bis zu seiner Erzählung wusste ich nicht, dass russische Deserteure, was er de facto ist, in Deutschland kein Asyl bekommen. Möglicherweise würde sich dies ändern, wenn sie ihn offiziell zögen. Doch dann wäre es zu spät. Ausnahmsweise fühlte ich mich an die deutschen Immigranten im Vorfeld des II. Weltkriegs erinnert. Hätten sie erst die Sachen packen sollen, nachdem die GeStaPo sie zufällig nicht antraf? Erst nach dem Gespräch erfuhr ich, dass gemäß der Europäischen Union von einem Staat durchaus die Teilnahme an einem Krieg erwartet werden kann. Der Krieg an sich ist kein Verbrechen. Das Desertieren wird erst zum Asylgrund, wenn Kriegsverbrechen begangen werden sollen. Beim Überfall Deutschlands auf Polen wäre demnach einem Wehrmachtssoldaten ein Asylantrag verwehrt gewesen. Erst die Erschießung polnischer Juden hätte diesen Weg eröffnet. Nur wäre er mit Sicherheit zwischenzeitlich wegen Befehlsverweigerung standrechtlich erschossen worden. Nein, ich muss das alles nicht mehr verstehen. Na ja, ich kenne es. Wie hieß es bei der Polizei immer? „Das Leben ist kein Wunschkonzert!“ Und an meinem Gymnasium hing neben dem Musikraum eine Gedenktafel mit dem Spruch: „Das Vaterland darf jedes Opfer fordern.“
Es gibt in Deutschland diesen Hype um den verstorbenen Alt-Kanzler Schmidt. Quasi eine Ikone, der gern zitiert wird, als wenn er seine Worte von Gott empfangen hätte. Der meinte in einem später geführten Interview zur Entführung der Lufthansa Maschine und seiner Rolle: „Ich hatte als Offizier in der Wehrmacht gelernt, Leute an der Front in den Tod zu schicken.“ Als ich das vernahm, brach ich innerlich mit ihm. Dann doch lieber ein Willy Brandt, der sich dazu entschied, rechtzeitig zu verschwinden. Ein Umstand, den ihm konservative Politiker in den 60er-70ern Jahren nachtrugen. Denn viele von ihnen hatten sich anders entschieden. Mir geht es darum, dass auch Schmidt als junger Mann eine Entscheidung traf und sich mit der Aussage rechtfertigte, dass das halt in dieser Zeit so war. Andere trafen andere Entscheidungen, somit bestand die Möglichkeit. Immerhin ging eine seiner Lehrerinnen in den Widerstand. Im Nachhinein sprach er von einem inneren Widerstand gegenüber dem Nationalsozialismus. So ergeht es derzeit auch diversen jungen Russen.
Der Russe fragte mich viel über meine Familie. Bisher hatte ich die Parallelen nicht erkannt. Wie war das mit meinen Großvätern zum Ausbruch des Krieges? Der eine war mehr oder weniger unpolitisch. Aber er hatte Glück. Er war kein Mitglied der NSDAP, aber gezogen wurde er. Er landete bei der Marine. Doch unmittelbar nach der kurzen Ausbildung auf einem U-Boot ging er in Kriegsgefangenschaft. Dann auch noch nach Südfrankreich. Besser konnte man es in dieser Zeit kaum treffen. Zumal auf ihn nicht Frau und Kind warteten.
Der andere hatte es schwerer. Er war Mitglied der KPD. Sie entzogen ihm die Staatsbürgerrechte, trotzdem sollte er oder vielleicht gerade deshalb, in den Krieg ziehen. Angeblich soff er sich den Magen kaputt und wurde wieder nach Hause geschickt. Überprüfen kann ich das nicht. Aber laut seinem Wehrpass war er ein ziemlich mieser Soldat und da steckte Kalkül dahinter. Irgendwie eine ähnliche Lage, wie die, in der sich der junge Russe befindet.
Dann wollte er wissen, wie meine Meinung dazu wäre. Ich antwortete ihm mit Jean-Paul Sartre. „Wir werden alleine geboren, wir sterben alleine und wir entscheiden allein über Leben und Tod. Jemand sagt Dir, Du sollst den Abzug ziehen, aber Du drückst ab. Nicht Deine Frau, nicht Deine Kinder, nicht Dein Offizier und auch nicht Putin. Du ganz allein. Du musst über Dein Leben oder Sterben entscheiden, so wie Du auch entscheiden musst, ob Du töten willst, für was auch immer. Es ist Dein Gewissen und Dein Leben, welches Du zu Ende leben musst.“
Ich sagte dies zu ihm, weil es meine feste Überzeugung ist. In meinem Job musste ich bereit sein zu töten. Und ich wusste stets, wofür ich es tun würde und wann nicht. Ohne zu zögern hätte ich jederzeit einem Terroristen direkt in den Kopf geschossen. Hingegen wäre jeder entwichene Sträfling entkommen. Irgendwann hätte ihn schon jemand eingefangen. Deshalb empfinde ich für alle GrePos, die bereit waren auf einen flüchtenden DDR Bürger zu schießen tiefste Verachtung. Er muss wissen, ob er glaubt, was Putin und Konsorten von sich geben oder nicht. Und wenn er es glaubt, muss er wissen, ob es gerechtfertigt ist dafür zu töten und ob es ihm wert ist, dafür in den vermutlich sicheren Tod zu gehen. Im letzteren Fall kann er seinen Töchtern nichts mehr von sich und seinen Gründen erzählen. Das werden andere übernehmen. Ebenso kann er auf ein Überleben setzen. Gut, aber da er bereits für sich beschlossen hat, dass da eine faule Nummer passiert, wird er mit seiner Kriegsteilnahme zum Verbrecher.
Während wir sprachen gesellte sich ein Ukrainer zu uns, der ursprünglich aus Amur kommt. Der sieht es fatalistisch. Es ist ein Job sich gegenseitig zu töten. Viele Russen sind bitter arm und sehen eine Chance durch die Armee ein wenig Geld zu verdienen. Auf der Seite der Ukrainer, sind sich viele junge Männer nicht sicher, ob sie wirklich für eine eigene Nation kämpfen. Auf jeden Fall verdienten eine Menge Leute sehr viel Geld damit und ein Soldat bekommt von ihnen quasi ein Gehalt, ein schlechtes, aber immerhin ein wenig, bezahlt. Zum Ende hin setzte sich auch noch ein Südafrikaner in meinem Alter dazu. Ich fragte ihn nicht, aber einer seiner Elternteile muss weiß sein. Der Typ war noch zynischer und sarkastischer wie ich es grundsätzlich bin. Ziemlich offen meinte er: „Mein Land macht gerade ganz gute Geschäfte mit Russland. Die Entscheidung bei einem Krieg ist davon abhängig, welche Optionen Du hast. Kannst Du daran verdienen, bist Du dafür, besteht die hohe Wahrscheinlichkeit, dass Du kämpfen musst, hau ab!“
Ich stimme ihm aus einer realistischen Perspektive zu. Krieg ist gut für das Geschäft, jedenfalls solange Du nicht allzu nah dran bist. Finde ich mich damit ab, in einer Welt zu leben, die von einem globalem Kapitalismus geprägt ist, läuft es darauf hinaus. Krieg ist ein Geschäft und das Töten ist eine Dienstleistung. All das idealistische Gedöns rundherum ist Unfug. Vaterlandsliebe, Patriotismus, Hilfestellung, Heldentum, all das sind im Kapitalismus lediglich Werbesprüche derjenigen, die daraus Gewinn schlagen.
Ich denke, der Abend hat dem jungen Russen (aus meiner Perspektive) eine Menge Stoff zum Nachdenken gegeben. Aus meiner Sicht traf er bisher die richtigen Entscheidungen. Im Zweifel soll er Frau und Kinder verlassen. Ich lernte bereits eine Menge anderer Männer kennen, die aus weit weniger nachvollziehbaren Gründen das Weite suchten. Lese ich, was einige deutsche Politiker und Politikerinnen von sich geben, schlimmer noch, was diverse Zeitgenossen in den Social Media an Kommentaren ablassen wird mir schlecht.
Eine Berufsarmee finde ich fair. Jeder, der dort hingeht, entscheidet sich unter bestimmten Voraussetzungen andere zu töten, zu verstümmeln oder alles kaputt zu machen. Dafür bekommt er, neuerdings auch sie, von den jeweiligen Interessenträgern, meistens den Herrschenden, Geld. Mit dem anderen Kram sollen sie mich in Ruhe lassen. Wir haben alle Dreck am Stecken. Mal mehr oder weniger unmittelbar. Die Zeiten, in denen unbescholtene, hart arbeitende Mönche, von Wikingern überfallen wurden, sind vorbei. Kriege sind ein Geschäft, bei dem wirtschaftliche Interessen konkurrieren und Dienstleister alles dafür Notwendige liefern. Und Soldaten/innen gehören dazu.
In Deutschland werden aktuell nur zwei Standpunkte akzeptiert. Entweder man befindet sich auf der „guten“ Seite und ist für Waffenlieferungen und den Versuch, die Russen zurückzutreiben, oder man ist dagegen, womit man zum „Freund“ Putins wird. Mir ist das zu simpel. Ich stehe nicht vor der Entscheidung für etwas zu töten oder zu sterben. Wäre es an dem, würde ich die Fragen stellen: Wofür? Für wen? Warum?
Was passiert nach dem Krieg und es wird hoffentlich ein danach geben. Der junge Russe bestätigte mir, was ich schon vermutete. Viele sind bitter arm und hoffen ein wenig Geld zu verdienen. OK, das Risiko, am Ende leer auszugehen ist hoch. Auf der ukrainischen Seite sieht es anders aus. Mit den Deportationen, Vernichtungsschlägen, Massenhinrichtungen, Vergewaltigungen, erzeugten sie etwas, was über die Verteidigung hinaus geht. Siegt Russland, ist die ukrainische Bevölkerung verloren. Die ehemaligen Kämpfer gegen den Nationalsozialismus, angeführt von einem ebenfalls blutrünstigen Diktator Stalin, führen sich auf, wie es einst die Deutschen, abgesehen von der Vernichtung der Juden, in Russland taten. Unter Umständen wären dies für mich Gründe, in den Kampf zu ziehen.
Waffen zu liefern ist letztlich eine halbherzige Lösung, die der Sorge vor einem Atom-Krieg geschuldet ist. Wäre Russland keine Atommacht, gäbe es nur eine Antwort: Befriedung/Intervention innerhalb eines UN-Mandats. Doch was bringt das alles, wenn es am Ende nur die Vorgeschichte für den nächsten Krieg ist, den Mächtige anzetteln und ihn von ohnmächtigen Leuten austragen lassen? Ist es dann nicht besser, für jeden mit den passenden Möglichkeiten, das Weite zu suchen? Dies ist meine Befürchtung. Beidseitig sterben und töten die Soldaten für eine Geschichte, die im dunklen Hintergrund passiert.
Schlagwörter: Deutschlsnd, Existenzialismus, Krieg, Pazifismus, Politik, Propaganda, Russland, Soldaten, Ukraine
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Ein guter Blogpost, der zum Nachdenken anregt. Schön, wie Du das aktuelle Geschehen mit der deutschen Vergangenheit abgleichst!
Ich finde es furchtbar, wie auswegslos die Situation ist. Russland kann keine Niederlage riskieren, der Westen muss die Ukraine weiter so unterstützen, dass sie militärisch nicht verliert. Aber wie der Krieg enden soll, ist völlig unklar. Schrecklich alles!