Konflikt oder Mobbing

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Bei der Berliner Polizei soll es angeblich kein Mobbing geben – und das schon seit Jahren. Der Innenexperte der Linksfraktion im Abgeordnetenhaus, Niklas Schrader, fragt regelmäßig bei der Senatsinnenverwaltung ab, wie groß das Problem Mobbing in der Polizei ist. Aus der jüngsten Antwort und früheren Anfragen ergibt sich: Seit dem Jahr 2012 wurden bei der Polizei Berlin keine Vorfälle von Mobbing am Arbeitsplatz registriert.

https://www.tagesspiegel.de/berlin/die-pflege-eines-saubermann-images-ist-wichtiger-angeblich-kein-mobbing-bei-der-berliner-polizei–seit-jahren-10261105.html

Was Alexander Fröhlich vom Tagesspiegel hier aufgreift, geht bis ins Jahr 2000 zurück. Anlässlich des Suizids einer jungen Polizistin, bei dem ein Verdacht auf vorhergehendes Mobbing bestand, wurde seitens der Berliner Polizeibehörde eine Kommission einberufen, die ausschließlich mit Beamten des Höheren Dienstes besetzt wurde.

Nach Arbeitsaufnahme wurde dort zunächst geprüft, welche der zahlreichen Definitionen für Mobbing zur Arbeitsgrundlage herangezogen wird[1]Sie hierzu auch weiterführende Informationen https://arbeits-abc.de/mobbinghandlungen/. Hierbei ist anzumerken, dass sich die wissenschaftlichen Untersuchungen im Lauf der Jahrzehnte immens entwickelten. Ursprünglich wurde das Phänomen seitens Arbeitsmedizinern/innen festgestellt und untersucht. Ganz am Anfang wurde ein Katalog mit Verhaltensmustern geschaffen. Erst wenn mehrere beobachtete Verhaltensmuster und Reaktionen dem Katalog zugeordnet werden konnten, wurde von Mobbing ausgegangen. Halt wissenschaftliches Vorgehen.

Im zweiten Schritt ließ sich die Kommission verdächtige Sachverhalte vorlegen und analysierte sie auf zur gewählten Definition passende Muster. Im Ergebnis passte keiner der Sachverhalte. Mit diesem Ergebnis meldete die Kommission nach “oben”, dass es in der Berliner Polizei kein Mobbing gäbe. Eine Aussage, die in keiner Weise haltbar sein konnte, da bereits umfassende internationale Studien nachwiesen, dass jeder größere Betrieb, vor allem im Falle von Non-Profit-Unternehmen, von dem Phänomen Mobbing betroffen ist, da es ein normales Verhaltensphänomen ist, welches erwartbar bei sozialen Interaktionen in unterschiedlichen Ausprägungen auftritt. Aber man darf dem nicht freien Lauf lassen und es muss so weit wie möglich eingedämmt werden.

Diese Aussage, entweder ungeschickt formuliert oder taktischen Erwägungen geschuldet, traf auf den Widerstand der Personalvertretungen. Der Konflikt wurde beigelegt, in dem die Einrichtung einer Konfliktkommission beschlossen wurde, der zwei Vertreter*innen aus dem Gehobenen Dienst der Schutz- u. der Kriminalpolizei ohne Führungsaufgaben zugeordnet wurden. Außerdem wurde festgelegt, dass die Kommission ausschließlich dem/der Polizeipäsidenten/in unterstellt ist.

Ab diesem Zeitpunkt wurden die vorgelegten Fälle als “Schwerwiegende Konflikte, die innerhalb der Linienführungsstruktur bzw. Hierarchie nicht zufriedenstellend gelöst werden konnten” behandelt. Ziel war, ich gehe davon aus, dass dies immer noch der Fall ist, den Konflikt aufbereitet und beratend in die vorgesehene Struktur zurückzugeben.


Um dies alles von außen her zu verstehen, bedarf es einiger Grundlagen:

  • Eine Polizeibehörde funktioniert nach dem Linienführungsprinzip. Dies bedeutet, dass ein Mitarbeiter ein “Problem” zunächst seinem direkten Vorgesetzten mitzuteilen hat und diesen nicht übergehen darf. Lässt sich mit diesem keine Lösung herbeiführen, kommt es zur Eskalation zur nächst höheren Position. Wobei Eskalation hier lediglich rein formalistisch gemeint ist und keinerlei negativen Beigeschmack haben sollte.
    Faktisch betrachten schlechte Führungskräfte die mangelnde Konfliktlösung als eigenes Versagen und reagieren entsprechend.
  • Der Begriff Mobbing ist populär, äußerst negativ konnotiert. Eine Behördenleitung hat keinerlei Interesse, “negativ” in der Öffentlichkeit wahrgenommen zu werden. Dass Mobbing, wie dargestellt, in jedem Non-Profit-Unternehmen anzutreffen ist, es weniger um das Phänomen an sich geht, denn darum, was dagegen und präventiv unternommen wird, welche Hilfsangebote unterbreitet werden, lässt sich in Zeiten des fortschreitenden Populismus schwer kommunizieren.
  • Mobbing wird als Führungsschwäche interpretiert. Wer “Schwäche” zeigt, wird nicht befördert und verliert Reputation. Gleichsam wurde die vermeintlich inkompetente Führungskraft von der nächst höheren Stelle eingesetzt und befindet sich damit auch im “Schussfeld”.
  • Behörden verfügen in der Regel über eine “unterirdisch schlechte” Fehlerkultur, die bei vielen Hierarchien systemimmanent ist. Wenn Fehler nicht als wichtige Markierungen für notwendige Maßnahmen zur Verbesserung gesehen werden, sondern die Behauptung im Raum steht, dass jemand innerhalb eines idealen Systems einen persönlich vorzuwerfenden Fehler gemacht hat, der nicht passiert wäre, wenn sie/er sich an die Vorschriften gehalten hätte, besteht keinerlei Interesse, sie einzuräumen. Im Gegenteil, es wird alles unternommen, um sie zu vertuschen.
    Das deutsche Behördenwesen ist beinahe schon legendär und steht in enger Verbindung mit der deutschen Mentalität.
    Kommt es zu einem Ereignis, welches den überzogenen politischen Versprechungen zuwider läuft, muss an irgendeiner Stelle eine Person/Institution verantwortungslos, inkompetent, gehandelt haben, sonst wäre nichts passiert. Die Stelle muss gefunden und bestraft werden, damit man die Illusion aufrechterhalten kann, dass beim Funktionieren der Zuständigen alles zu 100 % sicher ist.
    Tatsächlich wäre beim Mobbing ein Wert um die ~2 % der inneren Konflikte völlig akzeptabel.
  • Ein Kriterium bei Mobbing lautet: Die/der Gemobbte, soll aus dem Arbeitsbereich entfernt werden u. da keine legitimen Mittel gesehen werden, tatsächlich existieren oder nicht von der Führungsebene ergriffen werden, wird gemobbt.
    Dabei ist es schwierig, eine Abgrenzung zum “Sozialen Mülleimer” zu finden. Außerdem spielt das Verhalten “Niedermachen eines anderen, hebt den eigenen sozialen Status” eine Rolle. Dies ist u.a. der Grund, warum Mobbing vermehrt in Non-Profit-Unternehmen eine Rolle spielt.
    Weitere Abgrenzungen können sich zum sog. “Negativen Konfliktverlauf” [2]https://de.wikipedia.org/wiki/Phasenmodell_der_Eskalationergeben.
  • Führungskräfte werden in den seltensten Fällen aufgrund ihrer persönlichen Fähigkeiten zum Führen von Mitarbeitern ausgewählt. Im Bereich der Theorie der Dialektischen Führung durch das Wort (u.a. vertreten vom kürzlich verstorbenen Managementberater Rupert Lay[3]https://www.buecher.de/shop/fachbuecher/fuehren-durch-das-wort/lay-rupert/products_products/detail/prod_id/20822739/) gilt der Führungsgrundsatz “Andere führen, bedeutet sie erfolgreich machen”. Wenn die unmittelbaren Vorteile der Behörde/Betrieb, des/der Vorgesetzten, im Vordergrund stehen, kann das nicht funktionieren. Infolgedessen werden z.B. häufig Frauen und Männer zu Führungskräften, die in ihrem Bereich eigene Erfolge zu verbuchen haben und durchaus kompetent in ihren Arbeitsaufgaben sind. Aber das hat nichts mit Menschenführung zu tun. “Ein/e kompetente/r Sachbearbeiter/in ist auch eine kompetente Führungskraft”, ist aus den Köpfen nicht herauszubekommen.
  • Mobbing ist immer auch anteilig Strukturbedingt. Die hat jemand zu verantworten, sind bereits länger existent und werden oftmals als “heilige Kühe” behandelt. Auch wenn jede Führungskraft sich dazu berufen fühlt, eigene Markierungen zu setzen, gehen sie im Regelfall nicht die Grundstrukturen an, da sie dann die längste Zeit auf ihrem Posten waren.
  • Oberstes Gebot in einer deutschen Behörde ist die “Ruhe”, womit ein reibungsloser, leiser, unauffälliger, innerer Ablauf der Dienstgeschäfte gemeint ist. Jegliche “hörbare” Unruhe, die im schlimmsten Fall in den Medien landet, ist zu vermeiden und seitens der Führungskräfte zu verhindern.

Wenn man all dieses berücksichtigt, kann man das Verhalten der Mobbing-Kommission, als auch die Aussage, bei der Berliner Polizei gibt es kein Mobbing nachvollziehen. Ebenso, dass die anerkannten Konflikte in der Regel mit Angeboten geregelt werden, die Betroffene selten ablehnen. Auf niedriger Stufe wird den Betroffenen eine höher dotierte Stelle angeboten. Führungskräfte werden dorthin versetzt, wo sie entweder keinen weiteren Schaden anrichten können oder unter Kontrolle stehen. Nur extrem selten werden die auslösenden Ur-Konflikte angegangen. Eine Anforderung, der sich jede/r Mediator/in stellen muss.
Ich persönlich sehe keinerlei Möglichkeit, Mobbing-Fälle intern zu regeln, sondern würde eine Auslagerung favorisieren. Auf jeden Fall ist aber positiv zu sehen, dass die Kommission, zumindest von Beginn bis 2010, eng mit dem psychologischen Dienst zusammenarbeitete und den Vorsitz ein Psychologe innehatte. Zu allem anderen unterliege ich einer Schweigepflicht.

Ganz zum Schluss möchte ich noch darauf hinweisen: Mobbing kann tödlich enden und zerstört nicht nur den/die unmittelbar Betroffenen/ne, sondern trifft das gesamte Umfeld einer Person. Oder wie es einst die Leiterin des damaligen Sozialen Dienstes sagte: “Kein Mensch lebt für sich allein!”

Anmerkung: Ich war von 2000- 2010 Mitglied (“Zugleichaufgabe” parallel zu anderer dienstlicher Verwendung) der damaligen Konfliktkommission beim Polizeipräsidenten in Berlin. Die angeführten Grundlagen basieren auf meinen persönlichen Erfahrungen und erheben nicht den Anspruch, dass sie wissenschaftlichen Studien standhalten, sondern haben die Qualität einer Meinung (Fürwahrhalten einer Ansicht ohne den Beweis antreten zu können).

Causa Rammstein

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Wer sich in diesen Tagen zur Band Rammstein äußert, begibt sich auf ganz dünnes Eis. Die Vorwürfe sind bekannt. Bandmitglieder sollen nach Konzerten Sex mit jungen Frauen gehabt haben. Die Frauen sollen dies teilweise nicht freiwillig, sondern unter dem Einfluss von Drogen, die ihnen ohne ihr Wissen verabreicht wurden. Die Gelegenheit, ihnen diese in Getränke zu mixen, ergab sich, weil die Frauen an Aftershow-Partys teilnahmen. De facto gibt es aktuell keine, zumindest öffentlich bekannte, valide Beweislage. Alle an der Debatte teilnehmenden Leute beziehen sich auf Aussagen, die ihnen nicht einmal persönlich zugänglich sind, sondern seitens Medien kolportiert wurden. Hörensagen! Nicht mehr und auch nicht weniger. Natürlich steht es jedem frei, basierend auf der eigenen Lebenserfahrung und analytischen Fähigkeiten, Rückschlüsse zu ziehen. Aber auch die meistens empört vorgetragene, angeblich auf der Hand liegende offensichtliche Verdichtung der Aussagen, qualifiziert keinesfalls die Beweislage.

Ein Teil der Empörung ziehen Leute auf sich, die sich wagen, die Aussagen infrage zu stellen. Tenor: “Wie kann man es wagen, die Schilderungen eines oder mehrerer Opfer einer Sexualstraftat anzuzweifeln, man wisse doch schließlich, wie so etwas läuft.” Nun ja … in meiner Zeit als Ermittler ist mir einiges in dieser Richtung begegnet. Beides kann nicht geleugnet werden. Die Täter, als auch vermeintliche Opfer, vornehmlich aus der Natur der Sache heraus, Frauen, die Falschaussagen tätigen, und so selbst zu Täterinnen werden. Das Gute daran ist, dass der Tatvorwurf in unserer Gesellschaft geeignet ist, den Ruf eines Menschen nachhaltig zu schädigen. Dies ist nicht überall der Fall.

Für mich persönlich beginnt die Betrachtung des Geschehens viel früher bzw. sehe ich Aspekte, die erst einmal nichts mit der konkreten Tat zu tun hat. Da wäre zunächst einmal eine Gesellschaft, in der Teile das Bedürfnis verspüren, mit tausenden anderen ein Konzert zu besuchen. Nur, weil es heutzutage überall stattfindet, ist dies keine Selbstverständlichkeit oder gehört zur DNA des Homo sapiens. Es ist eine kulturelle Entwicklung und ein Effekt der Massengesellschaften. Ebenso gehört zu Massengesellschaften, dass die einzelnen Mitglieder ein Bedürfnis nach Individualität innehaben. Beim Konzert ergibt sich ein Paradoxon. Einerseits die freiwillige Einreihung in eine Massenveranstaltung, andererseits das Streben nach einer Besonderheit, im konkreten Fall, das Treffen mit den Musikern. Ganz nüchtern gesehen, mit Männern, die Musikinstrumente beherrschen und erkannten, welche Tonabfolgen und Präsentation den Nerv einer großen Fan-Gemeinde treffen. Wir wissen, es bleibt nicht bei dieser nüchternen Betrachtung.

Massengesellschaften sind von Personenkulten, Symbolen, die de facto in Verlust geratene echte Möglichkeiten der Bedürfnisbefriedigung kompensieren, geprägt. Außerdem stehen hinter jeder Massengesellschaft Frauen und Männer, die sie manipulieren, lenken, “den Ton angeben”. Zumeist geht es dabei ganz profan um Geld. Und auch die “Skandalisierung” der Fehltritte anderer Personen, vornehmlich die von Leuten, die zu Prominenten gemacht wurden, erfüllen wichtige Funktionen. Allein, dass es überhaupt so etwas wie Prominente gibt und was ihnen angedichtet wird, ist ein Teil dieser modernen Gesellschaftsformen.

Objektiv gibt es keinerlei Gründe, warum z.B. Schauspieler, Rockmusiker, nach ihrer Meinung zu politischen Themen befragt oder gar in die Versammlung zur Wahl des Bundespräsidenten geladen werden. Anders verhält es sich, wenn es Künstler sind, die mittels dessen, was sie tun, eine Message transportieren wollen. Daniel Pongratz, alias Danger Dan, wäre für mich so ein Kandidat. Aber, Rammstein?
OK, “Deutschland” hatte eine. Meiner Auffassung nach an keiner Stelle eine, wie seitens einiger engstirniger Zeitgenossen*innen behauptet wird, eine rechtsradikale, nationalistische oder rassistische. Eher gingen diese Kritiker*innen in eine Falle, weil sie ziemlich simpel auf die verwendeten Symbole und dem Spiel damit, hineinfielen.

Der Fußballtrainer Jürgen Klopp sagte zum Thema “Fragen an Prominente”, als Reporter ihn zu seiner Meinung zum Thema Impfungen fragten, etwas sehr Treffendes: “Stellen Sie mir bitte Fragen zum Fußball, die anderen Fragen richten Sie bitte an Ärzte und Wissenschaftler.” Solche Worte wünsche ich mir von vielen anderen. Käme ich jemals in die Gelegenheit, mit einem Flammenwerfer hantieren zu müssen, wäre Till Lindemann mein Ansprechpartner … aber sonst?

Einige, die sich an der Debatte beteiligen, stellen die Naivität, die Unerfahrenheit und die Jugend der mutmaßlichen Opfer heraus, welche seitens der unter Verdacht stehenden Bandmitglieder ausgenutzt wurde. Wenn, dann sehe ich hier eine gesamtgesellschaftliche Verantwortung. Wir haben es uns allgemein auf die Kappe zu nehmen, wenn Frauen und Männer auf einer Bühne, die eine bis ins letzte Detail durchdachte Show liefern, glorifiziert werden und eine angemessene Vorsicht, nicht mehr funktioniert.
Ebenso hat die Gesellschaft zu bedenken, warum sich ihre Jugend und auch ältere, so sehr danach sehnen, mittels Treffen mit einem “Prominenten” in eine besondere, erstrebenswerte, Position, zu gelangen, die zum Prahlen geeignet ist. Und nach meiner Erfahrung sind eine Menge Leute zu weitreichenden Handlungen bereit oder dulden, welche an ihnen, um zu diesem zweifelhaften Ruhm zu kommen.

Täter/Opfer – Umkehr

Der Klassiker ist die Aussage: “Der Täter fühlte sich durch das seitens des Opfers gewählte Aussehen zum Übergriff animiert, konnte sogar annehmen, dass eine gewisse Bereitschaft für einen sexuellen Kontakt vorlag.”

Nein, dies ist eine unzulässige Verweigerung der eigenen Verantwortungsübernahme bzw. ein entsprechender Zuspruch. Aber nun kommt eine ergänzende Betrachtung. Es gibt in der Kriminologie die Erforschung der Opferphänomenologie. Bedeutet: Wer ist aufgrund welcher Eigenschaften, Aufenthaltsorte, Lebensweise, Alter, Geschlecht, durch welche Straftaten gefährdet? Anhand dessen versucht die Polizei u.a. zuständige Stellen präventiv tätig zu werden. Dem vorangestellt ist die Akzeptanz der Realität. In einer leider nicht existenten idealen Welt, gäbe es keine wie auch immer motivierten Täter*innen.
Wenn ich nicht leichtfertig zum Opfer werden will und wer will das schon, muss ich einiges berücksichtigen, wie ich auch alle anderen Gefahren, die das Leben mit sich bringt, nicht ignorieren sollte. Selbstverständlich ist es in einem freien Land jedem gestattet, das Ausmaß selbst zu bestimmen, doch niemand wird mir die Folgen abnehmen können. In Gänze wird es niemals funktionieren. Um es mal von den emotional besetzten Sexualstraftaten wegzubringen: Wenn ich in Brasilia mit offenen Fenster fahre und auch noch meinen Arm mit einer Breitling am Handgelenk heraushängen lasse, steigt das Risiko eines Überfalls immens.
Da kann ich mich empören, Forderungen aufstellen, schimpfen, es wird nichts an der Realität ändern. Viele Deutsche streben eine Assekuranz-Gesellschaft an, in der sie von dazu berufenen Institutionen vor jeglichen Gefahren geschützt werden. Eine Utopie, und jeder Schritt in die Richtung dahin, verringert ein wenig die Freiheit.

Nein, eine junge Frau an einer einsamen nächtlichen Bushaltestelle, die einen kurzen Rock trägt, ist weder eine lebende Aufforderung, noch kann der Rock einem Sexualstraftäter als strafrechtliche Entschuldigung dienen. Ebenfalls kann ihr keine “Schuld” zugewiesen werden. Aber ganz allein muss sie sich fragen, ob sie sich selbst gut geschützt hat. So wie ich mich in einem anderen Rahmen fragen müsste, ob es meine beste Idee ist, wenn ich morgens um 3:00 Uhr betrunken in der Berliner U-Bahn einschlafe. Die Fragestellung hat für mich die gleiche Qualität, wie die nach dem Tragen von Sicherheitsschuhen, Handschuhen und Helm, auf einer Baustelle. Ich denke, es gibt genügend andere Gefahrenlagen, die ich selbst bei aller Umsicht nicht vermeiden kann.

Qualifiziere ich damit eine Aftershow-Party zu einer Gefahrensituation? Ja, dies tue ich, zumindest für junge Frauen. Euphorie, Typen, von denen ich nicht mehr weiß, als was sie auf der Bühne abziehen und mir Medien suggerieren, Alkohol, Drogen, unbekanntes Umfeld, Mythos Rock ’n’ Roll, Selbstverständnis der Musiker, der zumindest im Ansatz berechtigte Verdacht, dass der Hype nicht spurlos an ihnen vorbeigegangen ist, ergibt eine brisante Mischung, die ich meiden sollte, wenn ich die Risiken minimieren will.

Trotz alledem gilt die Unschuldsvermutung. Ein eventuell notwendiger Richtspruch obliegt Männern und Frauen, die über alle Informationen, Sachbeweise, Zeugenaussagen, Geständnisse, verfügen. Die anderen vollziehen die Rituale “kaputter” Mitglieder einer Massengesellschaft, in der fortwährend Schauspiele inszeniert werden, die von prominenten Tätern, geschändeten Opfern, Höhen und Tiefen, Auf- und Abstiegen, handeln.
Aber wer weiß, vielleicht taugt Till Lindemann, der zum Prominenten aufgestiegene Bautischler, am Ende noch zum Opfer im Dschungelcamp und lässt sich für ein wenig Geld vor geifernden Publikum erniedrigen.