Causa Rammstein

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Wer sich in diesen Tagen zur Band Rammstein äußert, begibt sich auf ganz dünnes Eis. Die Vorwürfe sind bekannt. Bandmitglieder sollen nach Konzerten Sex mit jungen Frauen gehabt haben. Die Frauen sollen dies teilweise nicht freiwillig, sondern unter dem Einfluss von Drogen, die ihnen ohne ihr Wissen verabreicht wurden. Die Gelegenheit, ihnen diese in Getränke zu mixen, ergab sich, weil die Frauen an Aftershow-Partys teilnahmen. De facto gibt es aktuell keine, zumindest öffentlich bekannte, valide Beweislage. Alle an der Debatte teilnehmenden Leute beziehen sich auf Aussagen, die ihnen nicht einmal persönlich zugänglich sind, sondern seitens Medien kolportiert wurden. Hörensagen! Nicht mehr und auch nicht weniger. Natürlich steht es jedem frei, basierend auf der eigenen Lebenserfahrung und analytischen Fähigkeiten, Rückschlüsse zu ziehen. Aber auch die meistens empört vorgetragene, angeblich auf der Hand liegende offensichtliche Verdichtung der Aussagen, qualifiziert keinesfalls die Beweislage.

Ein Teil der Empörung ziehen Leute auf sich, die sich wagen, die Aussagen infrage zu stellen. Tenor: “Wie kann man es wagen, die Schilderungen eines oder mehrerer Opfer einer Sexualstraftat anzuzweifeln, man wisse doch schließlich, wie so etwas läuft.” Nun ja … in meiner Zeit als Ermittler ist mir einiges in dieser Richtung begegnet. Beides kann nicht geleugnet werden. Die Täter, als auch vermeintliche Opfer, vornehmlich aus der Natur der Sache heraus, Frauen, die Falschaussagen tätigen, und so selbst zu Täterinnen werden. Das Gute daran ist, dass der Tatvorwurf in unserer Gesellschaft geeignet ist, den Ruf eines Menschen nachhaltig zu schädigen. Dies ist nicht überall der Fall.

Für mich persönlich beginnt die Betrachtung des Geschehens viel früher bzw. sehe ich Aspekte, die erst einmal nichts mit der konkreten Tat zu tun hat. Da wäre zunächst einmal eine Gesellschaft, in der Teile das Bedürfnis verspüren, mit tausenden anderen ein Konzert zu besuchen. Nur, weil es heutzutage überall stattfindet, ist dies keine Selbstverständlichkeit oder gehört zur DNA des Homo sapiens. Es ist eine kulturelle Entwicklung und ein Effekt der Massengesellschaften. Ebenso gehört zu Massengesellschaften, dass die einzelnen Mitglieder ein Bedürfnis nach Individualität innehaben. Beim Konzert ergibt sich ein Paradoxon. Einerseits die freiwillige Einreihung in eine Massenveranstaltung, andererseits das Streben nach einer Besonderheit, im konkreten Fall, das Treffen mit den Musikern. Ganz nüchtern gesehen, mit Männern, die Musikinstrumente beherrschen und erkannten, welche Tonabfolgen und Präsentation den Nerv einer großen Fan-Gemeinde treffen. Wir wissen, es bleibt nicht bei dieser nüchternen Betrachtung.

Massengesellschaften sind von Personenkulten, Symbolen, die de facto in Verlust geratene echte Möglichkeiten der Bedürfnisbefriedigung kompensieren, geprägt. Außerdem stehen hinter jeder Massengesellschaft Frauen und Männer, die sie manipulieren, lenken, “den Ton angeben”. Zumeist geht es dabei ganz profan um Geld. Und auch die “Skandalisierung” der Fehltritte anderer Personen, vornehmlich die von Leuten, die zu Prominenten gemacht wurden, erfüllen wichtige Funktionen. Allein, dass es überhaupt so etwas wie Prominente gibt und was ihnen angedichtet wird, ist ein Teil dieser modernen Gesellschaftsformen.

Objektiv gibt es keinerlei Gründe, warum z.B. Schauspieler, Rockmusiker, nach ihrer Meinung zu politischen Themen befragt oder gar in die Versammlung zur Wahl des Bundespräsidenten geladen werden. Anders verhält es sich, wenn es Künstler sind, die mittels dessen, was sie tun, eine Message transportieren wollen. Daniel Pongratz, alias Danger Dan, wäre für mich so ein Kandidat. Aber, Rammstein?
OK, “Deutschland” hatte eine. Meiner Auffassung nach an keiner Stelle eine, wie seitens einiger engstirniger Zeitgenossen*innen behauptet wird, eine rechtsradikale, nationalistische oder rassistische. Eher gingen diese Kritiker*innen in eine Falle, weil sie ziemlich simpel auf die verwendeten Symbole und dem Spiel damit, hineinfielen.

Der Fußballtrainer Jürgen Klopp sagte zum Thema “Fragen an Prominente”, als Reporter ihn zu seiner Meinung zum Thema Impfungen fragten, etwas sehr Treffendes: “Stellen Sie mir bitte Fragen zum Fußball, die anderen Fragen richten Sie bitte an Ärzte und Wissenschaftler.” Solche Worte wünsche ich mir von vielen anderen. Käme ich jemals in die Gelegenheit, mit einem Flammenwerfer hantieren zu müssen, wäre Till Lindemann mein Ansprechpartner … aber sonst?

Einige, die sich an der Debatte beteiligen, stellen die Naivität, die Unerfahrenheit und die Jugend der mutmaßlichen Opfer heraus, welche seitens der unter Verdacht stehenden Bandmitglieder ausgenutzt wurde. Wenn, dann sehe ich hier eine gesamtgesellschaftliche Verantwortung. Wir haben es uns allgemein auf die Kappe zu nehmen, wenn Frauen und Männer auf einer Bühne, die eine bis ins letzte Detail durchdachte Show liefern, glorifiziert werden und eine angemessene Vorsicht, nicht mehr funktioniert.
Ebenso hat die Gesellschaft zu bedenken, warum sich ihre Jugend und auch ältere, so sehr danach sehnen, mittels Treffen mit einem “Prominenten” in eine besondere, erstrebenswerte, Position, zu gelangen, die zum Prahlen geeignet ist. Und nach meiner Erfahrung sind eine Menge Leute zu weitreichenden Handlungen bereit oder dulden, welche an ihnen, um zu diesem zweifelhaften Ruhm zu kommen.

Täter/Opfer – Umkehr

Der Klassiker ist die Aussage: “Der Täter fühlte sich durch das seitens des Opfers gewählte Aussehen zum Übergriff animiert, konnte sogar annehmen, dass eine gewisse Bereitschaft für einen sexuellen Kontakt vorlag.”

Nein, dies ist eine unzulässige Verweigerung der eigenen Verantwortungsübernahme bzw. ein entsprechender Zuspruch. Aber nun kommt eine ergänzende Betrachtung. Es gibt in der Kriminologie die Erforschung der Opferphänomenologie. Bedeutet: Wer ist aufgrund welcher Eigenschaften, Aufenthaltsorte, Lebensweise, Alter, Geschlecht, durch welche Straftaten gefährdet? Anhand dessen versucht die Polizei u.a. zuständige Stellen präventiv tätig zu werden. Dem vorangestellt ist die Akzeptanz der Realität. In einer leider nicht existenten idealen Welt, gäbe es keine wie auch immer motivierten Täter*innen.
Wenn ich nicht leichtfertig zum Opfer werden will und wer will das schon, muss ich einiges berücksichtigen, wie ich auch alle anderen Gefahren, die das Leben mit sich bringt, nicht ignorieren sollte. Selbstverständlich ist es in einem freien Land jedem gestattet, das Ausmaß selbst zu bestimmen, doch niemand wird mir die Folgen abnehmen können. In Gänze wird es niemals funktionieren. Um es mal von den emotional besetzten Sexualstraftaten wegzubringen: Wenn ich in Brasilia mit offenen Fenster fahre und auch noch meinen Arm mit einer Breitling am Handgelenk heraushängen lasse, steigt das Risiko eines Überfalls immens.
Da kann ich mich empören, Forderungen aufstellen, schimpfen, es wird nichts an der Realität ändern. Viele Deutsche streben eine Assekuranz-Gesellschaft an, in der sie von dazu berufenen Institutionen vor jeglichen Gefahren geschützt werden. Eine Utopie, und jeder Schritt in die Richtung dahin, verringert ein wenig die Freiheit.

Nein, eine junge Frau an einer einsamen nächtlichen Bushaltestelle, die einen kurzen Rock trägt, ist weder eine lebende Aufforderung, noch kann der Rock einem Sexualstraftäter als strafrechtliche Entschuldigung dienen. Ebenfalls kann ihr keine “Schuld” zugewiesen werden. Aber ganz allein muss sie sich fragen, ob sie sich selbst gut geschützt hat. So wie ich mich in einem anderen Rahmen fragen müsste, ob es meine beste Idee ist, wenn ich morgens um 3:00 Uhr betrunken in der Berliner U-Bahn einschlafe. Die Fragestellung hat für mich die gleiche Qualität, wie die nach dem Tragen von Sicherheitsschuhen, Handschuhen und Helm, auf einer Baustelle. Ich denke, es gibt genügend andere Gefahrenlagen, die ich selbst bei aller Umsicht nicht vermeiden kann.

Qualifiziere ich damit eine Aftershow-Party zu einer Gefahrensituation? Ja, dies tue ich, zumindest für junge Frauen. Euphorie, Typen, von denen ich nicht mehr weiß, als was sie auf der Bühne abziehen und mir Medien suggerieren, Alkohol, Drogen, unbekanntes Umfeld, Mythos Rock ’n’ Roll, Selbstverständnis der Musiker, der zumindest im Ansatz berechtigte Verdacht, dass der Hype nicht spurlos an ihnen vorbeigegangen ist, ergibt eine brisante Mischung, die ich meiden sollte, wenn ich die Risiken minimieren will.

Trotz alledem gilt die Unschuldsvermutung. Ein eventuell notwendiger Richtspruch obliegt Männern und Frauen, die über alle Informationen, Sachbeweise, Zeugenaussagen, Geständnisse, verfügen. Die anderen vollziehen die Rituale “kaputter” Mitglieder einer Massengesellschaft, in der fortwährend Schauspiele inszeniert werden, die von prominenten Tätern, geschändeten Opfern, Höhen und Tiefen, Auf- und Abstiegen, handeln.
Aber wer weiß, vielleicht taugt Till Lindemann, der zum Prominenten aufgestiegene Bautischler, am Ende noch zum Opfer im Dschungelcamp und lässt sich für ein wenig Geld vor geifernden Publikum erniedrigen.


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Verfasst 8. August 2023 von Troelle in category "Allgemein", "Gesellschaft", "Kapitalismus", "Lifestyle", "Philosophie", "Politik", "Politik u. Gesellschaft", "Presse

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