24 November 2019

Abschiede sind die Beerdigung der Vergangenheit

Lesedauer 7 Minuten

«Eigentlich habe ich nichts mehr zu sagen. Alles ist gesagt. Die es hören wollten, haben es getan und die nicht wollen, werden es Morgen immer noch nicht hören wollen. Doch mich stört dieses eigentlich. Darüber gäbe es noch einige Worte zu verlieren!»

aus meinen Notizen 2018

Wie viele hatte ich schon vorher auf seinem Platz sitzen sehen? Vier? Fünf? Ich musterte Martins Gesicht. «Willst Du noch etwas sagen?», wollte er von mir wissen. Gab es noch letzte Worte, die es wert gewesen wären, sie in diesem Raum zu sagen? So sollte es also enden. Kein großer Bahnhof. Ein Händedruck zwischen zwei Männern, die sich seit über dreissig Jahren kannten. Wenige wussten über uns, dass wir gemeinsam die Schulbank gedrückt hatten und 1984 am Kant – Gymnasium Spandau das Abitur ablegten.
Er durfte oder musste mir eine Urkunde aus Kartonpapier mit einem geprägten Berliner Bären überreichen. Wir hätten uns beide nicht träumen lassen, Jahrzehnte nach dem Abitur auf diese Weise nochmals zusammen zutreffen. In mir stieg eine unangenehme Kälte auf. Die rührte wohl von der Verspannung her. Mit knappen Worten stand auf dem Papier, dass das Land Berlin auf meine weiteren Dienste verzichtete.


«Kommt noch der mit dem goldenen Kugelschreiber?», fragte ich ihn.
«Bitte?»
«Sagt man doch so! Am Ende kommt der mit dem goldenen Kugelschreiber und bedankt sich für die Jahre, in denen man seinen Arsch hingehalten hat.»
«Du hast nicht vor Dich zu ändern, oder?»
«Ich habe mich mehr geändert, als manch einer für möglich hält.»
«Du bist ja schon eine Weile zu Hause. Fehlt Dir nichts?», fragte Martin.
«Nein, absolut nichts.»
Ein wenig gequält lachte er, um dann zu sagen: «Das sagt eine Menge!»

Wir hatten immer noch gemeinsame Bekannte. Aber es gab keine Überschneidungen mehr. So mussten sich zwei Brüder fühlen, die sich trotz derselben Eltern vollkommen anders entwickelten und wie Fremde beim jährlichen Besuch der Mutter aufeinandertrafen. Ich, der auf der Straße nichts ausgelassen hatte und der Oberrat, mit der steilen Karriere. Ausgerechnet zum Ende wurde er mein Chef. Aber irgendwie passte das ins Gesamtbild. Er hatte alles an sich, was man im Höheren Dienst benötigte.
«Hast Du jemals wieder dran gedacht, wie wir uns beide damals in der Kneipe trafen?», fragte ich.
«Als ich überlegte, hierher zu gehen?»
«Genau. Ist doch irgendwie lustig. Ich riet Dir ab. Und heute bist Du mein letzter Chef. So kann‘ s gehen.»
Viel mehr als alte belanglose Geschichten gab es nicht mehr auszutauschen. Ein wenig Genörgel, dass sich alle geändert hatte. Kleinere Spitzen und etwas Gift. Was sollte ein angehender Frühpensionär, der sich mit einem Burnout verabschiedete schon von sich geben?

Der Wachmann an der Schranke wünschte mir einen schönen Feierabend. Spöttisch grunzte ich. Der arme Kerl konnte nicht wissen, welchen Feierabend er damit einleitete. Ich blieb hinter der Schranke stehen und atmete mit einem Seufzer surch. Lichterfelde war nach all den Jahren eine zweite Heimat geworden. Über die Zeit war zwischen mir und dem einen oder anderen Anwohner sogar etwas Ähnliches wie eine Freundschaft entstanden. Fast fünf Jahre führte ich eine Beziehung mit einer Frau, die ich in einem Lokal unweit vom Gelände kennengelernt hatte. Viele Erinnerungen waren mit dem Kiez verbunden. Mich überkam eine Schwermütigkeit. Wochenlang hatte mich die Aussicht auf diesen Tag bedrückt. Ich hatte Angst vor einem Spießrutenlauf. Mir stand nicht der Sinn danach, all die Fragen der Kollegen zu beantworten. Auch wenn es Blödsinn war, kam ich mir vor, wie unehrenhaft entlassen.

Es war alles anders, als ich es mir früher immer ausgemalt hatte. Keine Feier, bei der sich alle sinnlos auf meine Kosten betranken und die alten Geschichten aufs Tablett brachten. Irgendwelche Verabschiedungsaktionen, in der ich mit einem Hubschrauber flog oder zur Belustigung der Bleibenden mich ein letztes Mal zum Hampelmann machen musste, blieben mir erspart. 22 Jahre Spezialeinheit waren einfach so vorbei. Was hatte ich mir gedacht? Heute weiß ich, dass es notwendig war, diese Lektion zu bekommen. Mit einer schallenden Ohrfeige wurde mir der jahrelang eingetrichterte Nimbus aus dem Bewusstsein geschlagen.

Es ist egal, ob eine oder einer 22 Jahre irgendwo als Sekretärin, Bauarbeiter oder Mitglied einer Spezialeinheit der Polizei arbeitet. Der letzte Tag kommt und damit wird alles zur Vergangenheit. Dieses Denken, etwas Besonderes zu sein, gehört dazu. Der Coin, eine Münze, die von Spezialeinheiten untereinander ausgetauscht wird, ist plötzlich ein lächerliches Andenken, wie eins dieser Geldstücke, die man sich bei Sehenswürdigkeiten prägen lassen kann. Ein Feuerzeug mit dem eingravierten Credo des Einsatzteams landet im Regal und verstaubt dort.

Ein paar Wochen später übergaben sie mir noch eine kleine schwarze Schiefertafel mit einem aufgeklebten gestickten Patch der Einheit. Ich erinnere mich noch gut daran, wie diese Dinger aufkamen. Alle sollten sich Gedanken machen. Bernte, einer aus meinem alten Team, hatte sich tagelang an den Rechner gesetzt. Kunstvoll arrangierte er im Kreis einer Visierung, ein Auto, einen Hubschrauber, Handschellen, ein Fernglas. Das waren wir. Wir fuhren wie die Henker und manchmal flogen wir. War die Zeit gekommen, nahmen wir schwere Jungs und Terroristen aus dem Rennen. Dafür sollten die Handschellen stehen. Mit dem Fernglas und dem Visier symbolisierte er die wochenlangen Observationen, die der Festnahme vorausgingen. Sein Entwurf setzte sich nicht durch. Auf dem Patch befanden sich ein Dolch, eine Rose, ein Pfeil und ein Blitz, die in eine Art Sonne eingebettet waren. Der Dolch, das internationale Zeichen für Spezialeinheiten. Der Pfeil sollte irgendetwas mit der Zielstrebigkeit zu tun haben. Den Blitz konnte ich nicht mehr zuordnen. Die Rose stand für Verschwiegenheit.

Angeblich soll in Klöstern bei geheimen Gesprächen eine Rose auf dem Tisch gelegen haben. Kloster passte ganz gut. Fälschlicherweise werden observierende Beamte als Observanten bezeichnet. Die korrekte Ableitung hieße Observator. Ein Observant hat sich der strikten Observanz eines Klosters oder Ordens untergeordnet. Irgendwie passt das. Die Zusammenstellung der Symbole gibt genug Auskunft über das selbstgerechte Bild.