Guter oder schlechter Egoismus?

high angle photography of people in ground Lesedauer 7 Minuten

Es ist mir ein Rätsel
Wir haben eine Gier, mit der wir uns arrangiert haben
Du denkst, Du musst mehr wollen, als Du brauchst
Bis Du alles hast, wirst Du nicht frei sein
Die Gesellschaft, verrückt, in der Tat
Ich hoffe, Du bist nicht einsam, ohne mich

Eddie Vedder, Society, Soundtrack zu: In to the wild

Ein Kommentar bei Facebook führte mich mal wieder zu Überlegungen zurück, die ich immer mal wieder anstelle. Egoismus ist ein bei uns traditionell negativ belegter Begriff. Aus meiner Sicht ist das falsch. Worum geht es denn? Ich mache mir ein Bild von der Welt. Wobei ich niemals ein Gesamtbild sehe, sondern lediglich einen Teil davon. Entweder, mir gefällt, was ich sehe, oder ich bin unzufrieden. Im nächsten Schritt kann ich mich dazu entscheiden, wie ich damit umgehe. Ist alles schön, besteht kein Handlungsbedarf. Im anderen Fall kann ich mich arrangieren, meine Ansprüche verändern oder versuchen, sie im Rahmen meiner Möglichkeiten zu verändern. Damit ist erst einmal notwendig zu erkennen und festzulegen, was mir eigentlich konkret missfällt. Was benötigt mein Ego?

Möglicherweise hadere ich mit dem Umgang der Menschen untereinander oder mir ist alles zu unruhig, aggressiv, intolerant. Oftmals wird es das eigene Schicksal sein, mit dem ich unzufrieden bin. Zu wenig Geld, Status, Gestaltungsmöglichkeiten. Zunächst kann ich mich selbst prüfen, wie angebracht meine Erwartungen sind. Unter Umständen habe ich überzogene Vorstellungen, die ich als menschliches Wesen niemals verwirklichen bzw. keinen legitimen Anspruch anmelden kann. An der Stelle wird es bei einigen kritisch. Sie fordern von der Welt mehr ab, als legitim ist. Dies ist eine Folge des Gedankens, dass der Mensch im Zentrum des Geschehens steht und sich alles um ihn herum abspielt. Diese Zentrierung findet auch im Kleinen statt. Eine Menge Zeitgenossen versuchen sich aus dem Gesamtgeschehen herauszunehmen, in dem sie sich ins Zentrum stellen und alle anderen haben ihnen quasi zuzuarbeiten. Doch das ist kein Egoismus, sondern Egozentrik!

Ich möchte ein ruhiges, friedliches, freies und ausgeglichenes Leben führen. Hierzu muss ich herausbekommen, was ich dafür in die Wege leiten muss. Wenn ich selbst in Saus und Braus lebe, während alle anderen um mich herum dahin vegetieren, darf ich mich nicht wundern, wenn es mit meinem Frieden schnell vorbei ist. Interpretiere ich Freiheit als etwas, was mich dazu berechtigt, alles Erdenkliche zu unternehmen, auch wenn es auf Kosten anderer passiert, ich sie schädige oder beschränke, werden die mir irgendwann wütend gegenüber treten. Dann werde ich Maßnahmen zur Verteidigung ergreifen müssen und es ist Essig mit der Ruhe. Also bedarf es für die Verwirklichung meiner egoistischen Ziele einer eingehenden Analyse, welche meiner Handlungen geeignet sind und welche genau das Gegenteil erzeugen. Demnach ist der reine Egoismus, die höhere Bewertung der eigenen Bedürfnisse, Ziele, Vorstellung, als die anderer Menschen nicht das Problem, sondern schwierig sind die dafür vollzogenen Handlungen und die mangelnde Weitsicht, wie sich das nach und nach fortsetzt.

So wie ich das sehe, lebe ich in einem Teil der von mir sichtbaren Welt, die von Leistung, Haben, Konkurrenz, überzogenen bzw. illegitimen Ansprüchen, ständigen gegenseitigen Beweisen, Bewerten, Messen und kognitiver Dissonanz geprägt ist. Alles Aufgezählte mündet meiner Beobachtung nach in einem Zustand, der sich mit meinen egoistischen Ansprüchen ans Leben nicht verträgt. Nun vermag ich aber nicht andere zu ändern oder sie davon zu überzeugen, endlich von diesem Treiben abzulassen. Eine alte Weisheit besagt: “Du kannst immer nur genau einen Menschen verändern: Dich selbst!” Die einzige Option, die mir bleibt, ist ein Handeln, welches wenigstens geeignet ist, die von mir erwünschten Ziele zu erreichen und alles zu unterlassen, was eher das Gegenteil hervorrufen wird. Eine Handlung kann auch das Herausgehen sein. Im Konfliktmanagement lernte ich, dass dies sehr wirkungsvoll sein kann. Verlasse ich das Konfliktfeld, gibt es keinen mehr, weil ein Part fehlt. Der oder die andere kann gern weiter sein Ding machen, aber ohne mich. Manch einer mag dies Konfliktscheu nennen und anmerken, dass sich dann auch nichts ändern wird. Gut, da bin ich sehr egoistisch. Im Buddhismus gibt es die Aussage: Führe Dein Leben, wie ein vermögender Reisender. Vermeide schlechte Begleitung, die Dich möglicherweise in einen Hinterhalt locken will und gehe nicht auf dunklen, unübersichtlichen Wegen. Um mit dem einen oder anderen reden zu können, müsste ich diese Maxime über Bord werfen. Ich bin lange genug mit üblen Zeitgenossen auf äußerst schwierigen Wegen unterwegs gewesen. Henry Miller stellte in einem seiner Bücher fest, dass es sinnvoller wäre, wenn alle Menschen erst einmal versuchen würden, selbst glücklich werden. Zufriedene und glückliche Menschen haben auf andere einen besseren Einfluss, als mies gelaunte Unsympathen. Ich denke da ist genauso viel Wahres dran, wie die Taktik, seine Kräfte dafür zu nutzen, das Gute zu unterstützen, statt sie beim Kampf gegen das Schlechte zu vergeuden. In der Regel stärke ich damit das Schlechte.

Egoismus hat auch immer etwas damit zu tun, was ich denn eigentlich für mich selbst anstrebe. Oftmals ist es der Wunsch besser gestellt zu sein, Macht über andere zu erlangen, möglichst viel zusammenzuraffen, die notwendigen Mittel zu besitzen, um von anderer Seite geweckte Bedürfnisse zu befriedigen. Zeitgenossen mit diesen Bedürfnissen, wissen ziemlich genau, was sie dafür anstellen müssen. Den meisten damit beseelten unterläuft ein entscheidender Fehler. Sie gehen davon aus, dass dies alle anderen auch wollen, woraufhin sie von sich auf andere schließen. Bis zur Egozentrik ist es dann nicht mehr weit. Reden ist immer verräterisch und noch mehr gilt dies für Leute, die Macht innehaben. Sie versuchen damit allem einen Drive zu geben, der ihnen gefällt. Wenn in der aktuellen Bürgergeld-Debatte Konservative darüber sprechen, dass die Leute ohne den Anreiz des Geldes nichts für die Gemeinschaft leisten würden, ist dies ein Rückschluss aus dem eigenen Verhalten. Aus ihrer egozentrischen Betrachtung heraus, kommt ihnen gar nicht in den Sinn, dass andere eventuell völlig anders unterwegs sind. Ich selbst habe diesen Fehler eine lange Zeit mit meinen Töchtern gemacht. Ich unterstellte ihnen präventiv, dass sie mindestens die gleichen Aktionen bringen, wie ich sie einst unternahm. Dabei übersah ich ihre Individualität und die Option, dass sie vollkommen andere Ideen verfolgen.

Im Ergebnis ziehe ich den Schluss, dass es für die Befriedigung meines Egos und was ich will, notwendig ist, alles zu stärken, was ich befürworte. Den notwendigen Kraftaufwand für die Veränderung der mir schädlichen erscheinenden Lebenshaltungen anderer kann ich mir sparen. Um ermitteln zu können, welche meiner Verhaltensweisen förderlich sind, bedarf es einer Alterozentrierung. Will ich Frieden, sollte ich darauf achten, was im Gegenüber los ist und wenigstens versuchen, mich in die Lebensrealität des anderen zu versetzen. Treffe ich auf Menschen, die innerlich vergiftet sind, werde ich sie meiden. In der Regel setzen sie alles dran, ihre Mitmenschen von der Richtigkeit ihrer Weltsicht zu überzeugen, der nach alle mehr haben wollen, dabei in Konkurrenz zueinander stehen und ausschließlich darüber zu motivieren sind. Ich habe mir dabei ein naturwissenschaftliches Prinzip zu eigen gemacht. Lerne ich auch nur einen einzigen Menschen kennen, der anders ist, habe ich den Beweis, dass Menschen zu anderem fähig sind. Ich kenne nicht einen, sondern einige! Leute, mit denen ich nicht zwingend sprach, sondern es lebten. Wenn die dann auch noch auf die Idee kamen, mit mir zu sprechen, war ich ziemlich stolz.


Aus dieser Haltung heraus unterstütze ich zumindest hier und in Kommentaren die Klima-Aktivisten. Egal, ob sie sich auf die Straße, an Häuser oder Gemälde kleben. Aus meiner Sicht sind sie die Guten. Tragisch empfinde ich die mangelnde Unterstützung seitens der betroffenen Altersgenossen/innen. Es sollten Hunderte sein, die die Straßen blockieren. Jede/r unter Dreißig sollte verstehen, dass es da ums eigene zukünftige Schicksal geht. Zum künstlichen Aufschrei bezüglich der verstorbenen Radfahrerin schrieb ich bereits einen Beitrag. Im Nachhinein wurde ich bestätigt. Die eingesetzte Rettungsmedizinerin hatte sogar das Spezialfahrzeug ab alarmiert. Die Boulevardpresse roch in diesen Tagen wieder einmal nach Pechfackeln, säuerlichen Mob, Teer und Federn. Ein besorgniserregender Vorgang. Wie oft musste bereits jemand sein Leben lassen, weil BILD und Konsorten aufhetzten?
Es gibt tatsächlich Leute, die den Klima-Aktivisten/innen einen negativ konnotierten Egoismus vorwerfen. Egoismus lasse ich allerdings gelten. Sie wollen für sich ganz persönlich eine Zukunft. Dem steht der Egoismus derjenigen entgegen, die im Hier und Jetzt gut leben wollen.

Bezüglich der Aktionen im Zusammenhang mit den Kunstwerken überkommt einen ein spontaner Schmerz. Allein schon, weil wir bereits in der Kindheit lernten, alte Werke zu ehren oder zu bewundern. Aber was geht da im Kopf vor? Vor langer Zeit stellte ein/e Malerin, Bildhauer/in die Fähigkeit der menschlichen Kreativität unter Beweis. Oftmals im Auftrag reicher Kaufleute, Fürsten oder hoher Geistlicher. Später kam der Egoismus dazu. Viele Künstler sind davon getrieben, sich und ihr Inneres auszudrücken. Dabei entstanden bemerkenswerte Werke und gleichzeitig eine Menge Zeug, welches nur teuer gehandelt wird, weil ein angesagter Name darauf steht. Picasso heizte zusammen mit Freunden das Atelier mehrere Winter mit Gemälden. Lange Zeit wären die Menschen niemals auf die Idee gekommen, alten Kram, wenn er nicht der Wissensweitergabe an die nächste Generation diente, aufzuheben. Ziemlich oft wurden Gemälde seitens der Obrigkeit zerstört und gleich noch zusätzlich die Maler ins Gefängnis geworfen. Bei jemanden wie Picasso könnte ich mir gut vorstellen, dass ihm die Aktionen gefallen würden. Wenn ich es richtig verstehe, geht es bei den Aktionen um das Erzeugen von Empörung, die das Thema Klima und die andauernde Untätigkeit dauerhaft am Köcheln halten soll. Das funktioniert auf jeden Fall. Und was ist schon passiert? Die Bilder selbst wurden nicht in Mitleidenschaft gezogen. Nicht einmal die Rahmen sind wirklich zerstört worden. Am Ende geht es mal wieder um schnödes Geld. Sollen sie es sich von einem Hansel holen, der Millionen dafür ausgibt, damit er es sich in den Tresor legen kann. Da finde ich den Anspruch der “Kleber” schon hochwertiger. Und die sich empören, sind zumeist Leute, die niemals ein Museum von Innen sahen, sich mit der Historie des Bildes beschäftigten, oder ohne Hirn und Verstand davor stehen und “Ah” und “Oh” machen. Mal schauen, was die machen, wenn es richtig losgeht.


Den Egoismus als etwas Negatives darzustellen, ist mit Sicherheit auch dem Denken einiger Ideologen geschuldet, die auf Volksgemeinschaften, Nationen und geeinte Gesellschaften setzen. Was soll ich als Mächtiger mit Leuten anfangen, die ihre eigenen Belange, Lebenshaltung und Überzeugungen für wichtiger erachten, als meine Vorgaben? Man stelle sich Soldaten vor, denen das eigene Leben wichtiger ist, als das Schicksal einer Nation. Egoismus ist ein wirksamer Schutz vor Burnout. Erst wer begreift, dass die Aufgabe der eigenen Bedürfnisse in die Krankheit führt, wird gesund leben. Einigen Arbeitgebern missfällt dies. Lieber sind ihnen austauschbare Leute und hoch technisierte Arbeitsplätze, an denen jeder die gestellten Aufgaben bewältigen kann, die ebenso ein dressierter Bonobo hinbekommt. Für mich gehen Egoismus und Freiheit Hand in Hand. Beides kann nicht ohne Verantwortungsübernahme und die Akzeptanz der Grenzen eines anderen, inklusive aller anderen Spezies funktionieren.
Oftmals wird dem Egoismus der Altruismus gegenüber gestellt. Für mich existiert der schlicht nicht. Es gibt kein menschliches Handeln ohne ein Motiv. Helfe ich einem anderen Menschen, beruhige ich mein Gewissen oder will mich gut fühlen. Das ist purer Egoismus! Warum auch nicht? Das Motiv zu helfen und sich daraufhin gut zu fühlen, ist tief in uns verankert. Wer dies nicht verspürt, sollte sich therapeutische Hilfe suchen. Wer sich beispielsweise auf die Straße stellt und “Absaufen” skandiert, hat ernsthafte Probleme. Ebenso wie jemand, der seine Befriedigung über Quälen, Schlagen, erlangt. Wenn mit dem Ego etwas nicht in Ordnung ist, dann wird aufgrund dieser Prämisse, auch der Egoismus zu etwas problematischen. Im Übrigen gilt dies auch für Leute, die sich bei Klimaaktivisten in Gewaltfantasien ergehen oder gar vor Ort gewalttätig werden. Eine Verzögerung über die Unversehrtheit zu stellen, gibt viele Informationen über den geistigen Zustand. Aber es gibt Hoffnung, weil man dagegen etwas tun kann. Ich spreche da aus Erfahrung.

Schnell, schnell!

time lapse photography of brown concrete building Lesedauer 12 Minuten

Statt zu sagen: Sitz nicht einfach nur da – tu irgendetwas, sollten wir das Gegenteil fordern: Tu nicht einfach irgendetwas – sitz nur da.

Thích Nhất Hạnh, buddhistischer Mönch und Schriftsteller

Es ist eine banale Erkenntnis, dass das Leben in westlichen Industriestaaten deutlich schneller getaktet ist, als dies z.B. noch vor 100 Jahren vor sich ging. Die Verheißung hieß einst: Maschinen übernehmen die Arbeit der Menschen und die können sich dann um andere Dinge kümmern. Wobei sich da bereits die Frage eröffnet: Was sind denn diese anderen Dinge?
Schaue ich im eigenen Leben zurück, lebte ich gefühlt um ein Doppeltes schneller, denn ich es heute tue. Und schon wieder bin ich in einer Formulierungsfalle gelandet. Leben ist Leben! Man kann es nicht schneller leben. Präziser formuliert, will der Mensch, innerhalb der gleichen Zeitspanne mehr erledigen, wahrnehmen, verarbeiten, gestalten, kommunizieren. Begleitet wird das von der Überzeugung, dass ein Mensch dazu imstande ist. Ist das so?
Seit geraumer Zeit stehen uns technische Möglichkeiten zur Verfügung, die uns dabei unterstützen. Was war zuerst da? Der Wille mehr in eine Zeitspanne packen zu können oder die Technik? Ich denke, es war der Wille. Bei Wille denke ich sofort an Motivation. Die alte Phrase: “Zeit ist Geld!” wird allgemein Benjamin Franklin zugeschrieben, weil er diese Worte 1748 in einem Ratgeber für junge Kaufleute niederschrieb. Etwas tiefer schürfende Texte führen einen auf eine weitere Fährte. Allgemein werden die Worte zum Antreiben benutzt. Wer im Akkord arbeitet, kann viele Produkte herstellen, welche wiederum veräußert werden können. Ganz anders sieht die Interpretation aus, wenn man die Worte auf die Texte des Römers Seneca anwendet. Er fordert dazu auf, Zeit mit Geld gleichzusetzen. Eine Schatztruhe mit Münzen kann sich jeder vorstellen. Ist sie gut gefüllt, sind Ausgaben leicht. Oftmals ist man dazu geneigt, jedenfalls wenn man nicht geizig ist, das Geld auch für Dinge auszugeben, die absolut unnötig sind. Leert sich die Kiste allmählich, wird man bedächtiger. Die Wertschätzung wird immer mehr zum Thema. Seneca setzt die Münzen mit der Lebenszeit gleich. Ständig veräußern wir Sekunden, Minuten, für irgendwelche Aktionen. Wenige Menschen wissen den Schlaf zu schätzen, obwohl er der Gesundheit dient. Tatsächlich geben wir damit einige Stunden für unseren Körper aus. Unterhalten wir uns, geben wir Lebenszeit aus und kassieren gleichzeitig die Zeit eines anderen Menschen. Denken wir über etwas oder einen anderen nach, stellt dies eine Ausgabe dar. An der Stelle kritisiert Seneca, wie oft Zeit für Smalltalk ohne Inhalt verschwendet wird oder wie wenig Wertschätzung die Menschen für die Zeit aufbringen, die andere für sie investieren. Auch jetzt in diesem Augenblick gebe ich Zeit aus. Wenn ich den Text fertig habe, wird Zeit vergangen sein und was da am Ende herauskommt, ist ein Produkt, aber keins, welches ich gegen Geld verkaufen kann. Hieraus ergibt sich wiederum, dass ich dabei andere Aspekte heranziehen muss. Was hat für mich einen derart großen Wert, dass ich bereit bin, hierfür Lebenszeit zu veräußern? Andersherum investiert ein anderer Mensch beim Lesen Zeile für Zeile Lebenszeit. Eine Ausgabe, die ich wertschätzen sollte.

Klassische Produkte besitzen in der Regel die unangenehme Eigenschaft der Vergänglichkeit oder wir verlieren sie mit absoluter Sicherheit beim Sterben. Noch spannender wird es beim Thema Geld. Geld an sich, also gegenständlich, hat absolut keinerlei eigenen Nutzen. Der Nährwert eines Geldscheins ist nicht sonderlich hoch. Auch wenn ich Scheine verbrenne, komme ich nicht weit. Papier brennt schnell ab und ist für eine längerfristige Wärmeabgabe vollkommen ungeeignet. Münzen bestehen immerhin noch aus Metall, welches sich zu nützlichen Dingen umfunktionieren lässt. Erst durch die Ausgabe, den Tausch Ware-gegen-Geld, erfährt das Geld einen Wert. So lautete jedenfalls der Grundgedanke. Geld, welches nur noch digital existiert, sprengt alles. Ich treibe die Überlegung mal auf die Spitze. Bei uns ist ein großer Teil des Lebens ist davon bestimmt, dass für Geld gearbeitet wird. Vollkommen anders zu sehen ist die Zeit, welche für Arbeit an etwas verausgabt wird, was man selbst nutzt und in den Händen hält. Die Arbeitszeit, welche mit Geld entlohnt wird, führt im Prinzip zu einer Transformation. Schaue ich auf das Geld, sehe ich meine dafür benutzte Lebenszeit. Liegt das Geld auf dem Konto, schaue ich auf die Tage, Wochen, Monate oder bisweilen Jahrzehnte, die ich dafür hergab. Erst, wenn ich etwas kaufe, erfolgt eine weitere Umwandlung. Betrachte ich die neu gekaufte modische Jacke, ist dies u.U. jene Zeit, die ich nicht mit meinen Kindern verbrachte, mir nicht dafür nahm, um mich selbst zu regenerieren oder einfach mal alles baumeln ließ. Doch auch hier gibt es einen Haken. Manche Leute bekommen als Gegenleistung für einen halben Tag, gerade mal eine warme Mahlzeit und andere einen Betrag, mit dem sie sofort eine Luxuslimousine kaufen könnten.

Konsequent muss die Erkenntnis lauten: Bei dieser Konstellation hat die Lebenszeit des einen weniger Wert, als die eines anderen.

Theoretisch kann sich jemand, der für wenig Lebenszeit viel Geld bekommt, entspannt zurücklehnen und es sich leisten, nicht alles gleichzeitig zu machen. Nicht von ungefähr sagt man auch: Der oder die lässt das Geld für sich arbeiten. Gleichsam könnte sich so ergeben, dass finanziell gut gestellte Zeitgenossen genügend Zeit haben, sich über all die Aspekte des Lebens Gedanken zu machen, zu denen die anderen nicht kommen. Meinem Eindruck nach funktioniert dies nicht. Ganz im Gegenteil! Häufig sind es die, welche hart für jeden EURO arbeiten und erheblichen Zeitaufwand betreiben müssen, um über die Runden zu kommen, diejenigen mit den weiseren Aussagen. Wo ist der Haken? Mir scheint, dass es etwas mit der Wertschätzung zu tun hat. Eine Betrachtung, die auf dem direkten Weg in die Tiefen des menschlichen Daseins führt.

Ohne die Kooperation ist der Mensch nichts und wäre nicht einmal ansatzweise so weit gekommen, wo er heute steht. Angefangen bei der Horde, die einst durch die Gegend streifte, und später bei der ersten Arbeits- und Wissensteilung. Damit ist die gegenseitige Hilfe, Unterstützung, Kommunikation, voneinander Lernen, sehr weit oben angesiedelt. Dies gilt selbst beim Plündern. Was habe ich davon, wenn ich mir gewaltsam etwas aneigne, dessen Funktion ich nicht verstehe? Nur Völker, die dies verstanden, konnten sich weiter entwickeln. Griechen, Römer, Theben, Phönizier, Perser, Karthager, Makedonier, gründeten in der europäischen Antike große Reiche und machten sich darüber Gedanken. Nicht anders sah es in anderen Teilen der Welt aus. Immer schwang dabei auch die Überlegung mit, was einem mehr einbringt. Der Krieg oder der Frieden? Lange friedliche Phasen brachten stets Entwicklungsschübe mit sich. Und dazu gehörte auch, über das Dasein, das Wesen des Menschen, die Art und Weise, wie man die begrenzte Lebenszeit zufriedenstellend nutzt, nachzudenken. Schlicht, weil der Mensch in der Evolution etwas entwickelte, was er selbst als Denken bezeichnete. Rückschlüsse aus dem ziehen, was gesehen, gehört, gerochen und gefühlt wird. All diese Denkprozesse werden als Verstand definiert. Man nimmt seine Umwelt wahr und wertet sie passend aus. Hinzu kommt die Fähigkeit, nicht sinnlich Erfassbares anzunehmen, logisch abzuleiten oder für die Zukunft zu prognostizieren. Jenes nennen wir die Vernunft.

Aber welchen Wert bemessen wir diesen existenziellen Fähigkeiten bei? Vor allem, wie will man sie anwenden, wenn dafür gar keine Zeit bleibt? Wäre es nicht zweckmäßig, für die Fähigkeiten, welche den Menschen von anderen Spezies unterscheidet, Lebenszeit zu verwenden? Was unterscheidet uns sonst von einem Bonobo-Schimpansen, der den Entwicklungsstand eines vierjährigen Menschen erreichen kann? In einer dekadenten Wohlstandsgesellschaft komme ich grundsätzlich mit wenig Benutzung von Vernunft und Verstand durch. Bei sehr vielen Vorgängen verstehe ich überhaupt nicht, was da gerade passiert. Ich kann stundenlang auf einen modernen Motor starren und werde trotzdem nicht nachvollziehen können, was da in diesem kunstvoll zusammengeschraubten Wirrwarr aus Gummi, Metall, Kunststoff, vor sich geht. Erst recht nicht, wie dieser Laptop vor mir funktioniert, aus welchen Bestandteilen das Ding im Einzelnen besteht und wie es möglich ist, dass das Geschriebene im Internet landet. Ich benutze es einfach, ohne es zu verstehen. Die Überlegung ist simpel. Träte jetzt im nächsten Moment eine Dystopische Situation ein und ich wäre auf mich alleine gestellt, würde sich zeigen, über welche Fähigkeiten ich wirklich verfüge. Kann ich ein Feuer machen? Nahrung herbei schaffen? Mich mit anderen zusammen tun? Wäre ich vernünftig, empathisch, kooperativ genug, um in einem Zusammenschluss mit anderen Menschen agieren zu können?

Doch die Überlegungen gehen darüber hinaus. Welchen Wert bemesse ich persönlich meinem Dasein über den Tod hinaus bei? Ist es mir wichtig, wie die Menschen danach über mein Wirken denken oder es bewerten? Möglicherweise ist es mir egal. “Nach mir die Sintflut!”, wie einige sagen, denken und vor allem handeln. Oder was ist meinem Wirken in der Gegenwart? Erfüllt es mich oder gibt es mir eine Befriedigung, wenn ich in meinem Sinne Einfluss nehme? Einfluss nehme ich immer, dagegen kann ich mich nicht wehren. Egal was ich tue, es hat eine Wirkung, fraglich ist nur, wie es vonstattengeht und inwieweit ich eine Kontrolle darüber habe. Bin ich aggressiv unterwegs, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass sich diese Aggression über mehrere Stationen fortsetzt. Maule ich die Kassiererin oder den Kassierer im Supermarkt an, wird das Folgen nach sich ziehen. Ich lege auf dieses immer mehr Wert. Was genau bewirke ich jetzt gerade?

Für diese Überlegungen benötige ich Zeit, die ich mir nehmen muss. So wie ich sie mir gönnen musste, um überhaupt auf diesen Stand zu kommen. Schenke ich dem Augenblick keinerlei Beachtung, werde ich auch nicht erkennen, was gerade passiert. Wer schnell “lebt”, reiht eine ganze Kette von Handlungen aneinander, ohne sich der Wirkung bewusst zu sein. Gleichzeitig kommt es zu jeder Menge Fehlern beim Denken. Das Gehirn erzählt sich innerhalb von Sekunden lauter kleine Geschichten, die immer weiter miteinander verkettet werden. Gern werden dabei Umstände miteinander verbunden, die objektiv nichts miteinander zu tun haben. Nimmt man sich die Zeit, nachträglich nochmals alles sauber auseinanderzunehmen und zu analysieren, nennen wir diesen Prozess “Nach/denken”, woraufhin eventuell andere Ergebnisse zustande kommen. Das meiste, was wir bei Mitmenschen als Dummheit bezeichnen, ist die Folge vom falschen Zusammenziehen mehrerer Ereignisse zu einer Geschichte, die schlicht unstimmig ist, aber leider die Basis für weitere Handlungen darstellt. Im Ergebnis steigt aufgrund der Schnelligkeit, dem übermäßigen Füllen eines Zeitraums mit Handlungen, die Gefahr Dummes zu tun oder verbal abzusondern. Dem lässt sich nur mit Nachdenken begegnen, ein Vorgang, wenn er sich auf das bezieht, was wir den lieben “langen” Tag so anstellen, als Selbstreflexion bezeichnet wird. Ich will davon nicht zwingend ableiten, dass hektische Menschen, Leute, die alles gleichzeitig machen wollen, sich stets “busy” geben, dumm sind. Aber die Wahrscheinlichkeit steigt an. Parallel wird es unwahrscheinlich, dass sich die Menschen selbst reflektieren.

Warum sie sich nicht die Zeit nehmen, steht auf einem anderen Blatt.

Bei einigen ist es die Gier. Andere sehen sich verpflichtet, von anderer Seite her gestellte Aufgaben bzw. Anforderungen zu erfüllen. Vielleicht sind es subjektive Existenzängste oder oftmals tatsächlich bestehende Gefahren, weil man z.B. sonst seinen Job verliert. Ebenso kann es das Heischen nach Anerkennung sein oder eine angenommene moralische Verpflichtung. Als Mensch komme ich nicht daran vorbei, ein gesundes Verhältnis zur Ausgabe meiner Lebenszeit zu finden. Unter gesund verstehe ich dabei eine dem Leben zuträgliche Taktung, mit anderen Worten zu einem Zustand der Ausgeglichenheit führt. Schaue ich in die Wildnis, kann ich eine ganze Menge ableiten. Prädatoren sind auf Effizienz angewiesen. Eine Löwin kann es sich nicht leisten, unzählige halbherzige Versuche zu unternehmen. Jeder neue Ansatz erfordert immense Energie und zu viele erfolglose führen zum Tod. Zur Steigerung der Chancen tun sie sich im Rudel zusammen. Im gewissen Sinne wird vorher genau überlegt und im Fall des Scheiterns ausgewertet. Die meisten kleinen, hektischen Lebewesen werden nicht sonderlich alt. Die ältesten Lebewesen des Planeten sind eher behäbig. Tiere in Gefangenschaft, die ausreichend und ihrer Art angepasst versorgt werden, sind vom nervenaufreibenden Beschaffen von Nahrung befreit, werden oftmals älter als ihre Artgenossen in der Wildnis. Dies gilt auch für diejenigen, welche kaum Fressfeinde zu fürchten haben. Verkürzend wirkt sich allerdings die Verkümmerung aus, wenn sie nicht wie gewohnt agieren können oder in Interaktion treten können. Auch für letzteres benötigen sie und auch wir: Zeit!

Zeit ist ein kostbares Gut, nicht komprimierbar und im Fall des Daseins eine unbestimmbare Größe. Was habe ich davon, wenn sie auf meinem Konto in Form einer Zahl dargestellt wird und ich die Transformation, die eigentlich eine Art bestimmungsgemäße Rückführung darstellt, zu einem Zeitpunkt in die Zukunft verschiebe, den ich u.U. gar nicht erlebe? Oder was ist mit der Zeit, die ich in Produkte investiere, von denen die Gesellschaft, in die ich hineingeboren wurde, behauptet, dass sie wichtig sind, während ich andere Prioritäten setze?
Letztens hatte ich darüber mit einer Frau einen interessanten Austausch. Unser Einstieg war die Frage nach dem Sinn eines Lebens und die Gefahr eines Suizids, wenn man eben diesen nicht mehr sieht. Vorab: Für mich gibt es keinen fremdbestimmten Sinn eines Lebens. Würde ich dies akzeptieren, müsste ich auch irgendjemanden die Definitionshoheit zugestehen. Was mache ich, wenn ich diese Definition nicht erfülle? Ist mein Leben dann sinnlos? Kann ich es dann nicht auch beenden? Meiner eigenen Vorstellung nach, ist keine Existenz, wie auch immer sie sich darstellt, aus dem Gesamten zu entfernen. Gäbe es nichts, was ich als böse ansehe, würde auch alles Gute wegfallen. Alles Negative, ist gleichzeitig geeignet, eine positive Gegenreaktion auszulösen. Selbst ein früher Tod erinnert andere Menschen an die mögliche Kürze des Lebens. Bei allem gilt: Es steht nicht in meiner Macht, hierüber die Kontrolle zu haben. Mir bleibt tatsächlich nur der Versuch, eventuell mit der eigenen Lebensart über die Gesetze der Wechselwirkung eine von mir erwünschte Richtung, Struktur, zu begründen. Ein Suizid setzt für andere eine Lösung in die Welt. Aber er wird nichts daran ändern, was mich mein Leben als nicht lebenswert empfinden ließ. Wenn ich den anderen zeigen will, dass es so ist, bitte, aber dies ist ohnehin bereits allgemein bekannt. Ergo, kann ich es auch lassen und weiter leben, um anderes auszuprobieren. Richtig kompliziert wird es bei Schmerzen. Beispielsweise wird im Buddhismus der dem Tod vorangehende Schmerz als eine Zeit für die Vorbereitung des nächsten Lebens betrachtet, während der plötzliche Tod eher unglücklich ist, weil der oder die Betroffene, das Leben nicht bewusst zu Ende brachte.

All diese Gedankengänge setzen voraus, dass ich in einem Leben mehr sehe, als wirtschaftliche Produktivität, Mehrung des allgemeinen materiellen Wohlstands, Erfüllung vorgefertigter gesellschaftlicher Vorgaben oder Ansprüchen, die andere an mich richten.

Der von der Gesellschaft ausgehende Druck ist immens. Hinsichtlich des Zeitmanagements bestehen Vorgaben, deren Erfüllung erwartet werden und wer sich dagegen stellt, muss dafür Kraft aufbringen. Hierfür ein alltägliches Beispiel. Wer einen Supermarkt betritt, soll darin Zeit verbringen, die irgendwann in Konsum mündet. Das ändert sich schlagartig, wenn die Sachen auf dem Laufband landen. Geschwindigkeit und Länge sind kein Zufall, sondern ein ausgetüfteltes Forschungsergebnis[1]https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/der-deutsche-testmarkt-das-hassloch-experiment-1.907694. Spätestens wenn das Geld von A nach B transferiert wurde, ist der oder die Kunde/in uninteressant. Die Leute sind darauf konditioniert. Hungrig nach Befriedigung hineingehen, Beute machen, befriedigt sein, bezahlen, schnell weg. Es ist interessant, wer in kleineren Märkten lautstark als Erstes die Öffnung einer weiteren Kasse fordert. Entweder es sind von ihren Kindern genervte Eltern oder Zeitgenossen mit oder nur Spirituosen im Einkaufswagen. Die einen wollen den Nachwuchs ruhig stellen und die anderen haben die tägliche Dosis schon vor Augen. Schwierig wird es, wenn ältere Leute, die noch auf die alte Taktung konditioniert sind oder körperlich nicht schneller können, ins Spiel kommen. Richtig übel sind Kandidaten, wie meine Wenigkeit. Registriere ich allzu ungehaltene Personen, die auch noch pöbeln, kommt bei mir die Rebellion zum Vorschein. Es ist nicht verboten, seinen Einkauf zu Dritteln und einzeln zu bezahlen oder lange das Kleingeld zu zählen, um dann doch mit Karte zu bezahlen. Schon dem Druck standzuhalten, bereitet mir Vergnügen.

Ähnliches lernte ich in letzter Zeit über Onlinebanking. Ein Konto eröffnet man heutzutage sehr einfach. Mit wenigen Klicks ist alles erledigt. Zack, Zack, hat die Bank Geld verdient. Um so komplizierter wird die Auflösung. Mich würde mal interessieren, wie viele Senioren aufgeben, nachdem sie sich stundenlang im Dschungel der Untermenüs verirrten. Auch das ist Druck. Es ist nahezu unmöglich, sich all der Onlineportale, Apps, Digitalisierung zu entziehen, die einzig einen Zweck erfüllen: Beschleunigung! Um so schneller und einfacher sich zum Beispiel eine Ratenzahlung abschließen lässt, desto unüberlegter wird die Ausgabe nebst ihrer langfristigen Folgen. Wer sich nicht übers Ohr hauen lassen will, muss ständig auf der Höhe der Entwicklung bleiben.

Entschleunigung, Achtsamkeit, Bewusstes Leben

All die oben genannten Begriffe haben in der breiten Gesellschaft einen zweifelhaften Ruf. Das geht bei esoterischer Spinnerei los, zumeist als Modeerscheinung abgetan und spült viel Geld in Kassen von Therapeuten/innen. Gut, wenn es sich dabei nicht um Scharlatane handelt. Aus meiner Haltung und Sicht auf die Gesellschaft heraus ist dies nicht verwunderlich. In einer Zeit, die von Zahlen, Geld, Statistiken, Daten, bestimmt ist, sind diese Begriffe die Bezeichnungen für Schadprogramme. Machen wir uns nichts vor. Selbst mit Burnout-Patienten/innen, Depressiven, psychosomatischen Erkrankungen, lässt sich ein gutes Geschäft machen. Erst recht gilt dies für alles, was entweder beschleunigt oder die Grenzüberschreitung des dem Menschen möglichen Tempos ermöglicht. Die Grauzone zwischen illegalen “Drogenmissbrauch” (der in dem Fall streng genommen nicht einmal ein Missbrauch ist) und Medikamenten-Behandlung ist riesig. Jede Menge therapeutische Maßnahmen sind mehr Perversion, als wirklich hilfreich. Wie sonst sollte man die Aufforderung zu meditieren verstehen, damit man im Sinne der Gesellschaft mehr leisten kann? Wie viele Ärzte, Psychiater, Psychologen, versuchen Menschen zur Geschwindigkeit kompatibel umzugestalten?

Passend zum Thema Geschwindigkeit, tobt in Deutschland eine Debatte über ein Tempolimit, welches selbst US-Medienvertreter zum Staunen bringt. Was genau passiert eigentlich mit dem oder der Fahrer/in bei einer hohen Geschwindigkeit? Geht es wirklich um das schnellere Ankommen? Dies lässt sich überprüfen und das Ergebnis ist reine Mathematik. Selbst bei halsbrecherischer Fahrt, sind die Zeitgewinne nicht der Rede wert und ob ein Meeting zehn Minuten früher oder später stattfindet, ist objektiv egal. Wenn überhaupt Geschwindigkeit eine Rolle spielt, dann bei den Hochgeschwindigkeitstransfers im Finanzwesen. Etwa innerhalb des Intervalls zwischen 100 und 120 km/h steigt der normale untrainierte Mensch aus und Technik, Zufall, Glück, übernehmen. Es macht Klack im Kopf und der/die Fahrer/in schaltet ab. Befragte nennen dies oftmals Entspannung. Eine Alternative wäre, den Zug zu nehmen. Prompt sitzen viele dort vor einem Laptop und “nutzen” die Zeit, um Geschäftliches zu erledigen. Ich nehme für mich in Anspruch, dabei ein wenig mitreden zu können. Schlicht, weil beides Bestandteile meines Lebens waren. Was das bei mir verursachte, wird mir erst danach immer mehr bewusst. Alles passierte, mein Gehirn speicherte, der Körper speicherte, aber kaum etwas davon, drang wirklich in das mir zugängliche Bewusstsein vor. Dennoch ist, wie ich im Nachgang feststellte, alles da. Kaum befand ich mich in einer längeren, vom Körper erzwungenen Ruhephase, ging es mit den Flashbacks los. Mal in Form von plötzlich auftauchenden Erinnerungen, manchmal nur Bilder, Emotionen, die nicht im Zusammenhang mit dem gegenwärtigen Geschehen standen oder körperlichen Reaktionen, die unpassend bzw. zusammenhanglos erschienen. Wer nicht auf solche Selbstexperimente steht, sollte rechtzeitig die Notbremse ziehen.
Man muss es nicht gleich übertreiben, aber ich möchte anmerken, dass es im ZEN – Buddhismus eine schöne Betrachtung gibt. Wie lange dauert ein Leben? Exakt einen Atemzug. Der Mensch, welcher dazu ansetzte, ist beim Ausatmen ein anderer. Nach dieser Betrachtung ist ein Mensch, der sich am Tag nur einige Minuten Zeit des Bedenkens zugesteht oder meditativ den Synapsen ein wenig Ruhe gönnt, hektisch. Bedenkenswert ist ebenso, ob eine/r, die/der einfach nur dasitzt und denkt, wirklich untätig ist. Der vorhergehende Doppler ist gewollt. Folge ich den Vorgaben der Gesellschaft, in der ich lebe, müsste ich von Faulheit, Untätigkeit, ausgehen. Doch wie bewerte ich dann das Verhalten von Gläubigen, wenn sie längere Zeit beten oder buddhistische Mönche, wenn sie mehrfach am Tag stundenlang meditieren? Ist das auch Faulheit? Wie wäre es mit einem Vergleich zu jemanden, der sich 1,5 Stunden lang einen mehr oder weniger belanglosen Film ansieht? Ich sehe da Unterschiede.

Je enger das Leben getaktet wird, hektisch zu geht, Versuche unternommen werden, die Zeit zu komprimieren, um so mehr Lebensqualität, Bewusstsein, gehen verloren und Dummheit breitet sich aus. Mal ganz davon abgesehen, dass damit körperliche und geistige Krankheiten, Drogenkonsum und Aggressionen, gefördert werden. Wie bereits beschrieben, könnten all die tollen technischen Innovationen der Entschleunigung dienen. Tun sie aber nicht, weil eine andere Vorgabe herrscht. Ich sehe in der stetig zunehmenden Geschwindigkeit einen von mehreren Sargnägeln der Zivilisation. Sich seiner Handlungen bewusst zu sein, sich selbst zu sehen und einordnen zu können, sind unabdingbare Voraussetzungen des Einzelnen, um Mensch zu sein. Viele Einzelne bilden dann eine Gesellschaft, in der Vernunft, Verstand, Kooperation, Kommunikation, Bewusstsein, verantwortliches Handeln, einander ergänzen und erzeugen, was als Kultur und Zivilisation bezeichnet wird. Eine funktionierende Menge an Individuen, die nach funktionalen Regeln zuverlässig, produktiv, zusammen agieren, erinnert mich eher an einen Insektenstaat. Zumindest für mich selbst, strebe ich jeden Tag an, ein wenig mehr Tempo herauszunehmen. Einfach ist das nicht, da ich mich leider immer wieder in einem Kontext bewege, innerhalb dessen mir anderes aufgedrückt wird. Aber es ist besser geworden.



Buch, BLOG – Web – Book

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Seit meiner Fahrt mit der Transsibirischen Eisenbahn plante ich ein Buch zu schreiben. Tatsächlich kamen zwei Skripte zusammen. Beide verwarf ich wieder. Ich traf mich mit Autoren, die erfolgreich Bücher veröffentlichten. Sie rieten mir, mich an Büchern im Handel zu orientieren. Es gab auch Aufforderungen meine Vergangenheit zu benutzen. Terror, Verdeckte Ermittlungen, Spezialeinheit, dies wäre doch interessant. Im ehemaligen Umfeld hofften einige auf den “Round-a-House-Kick” durch die Behörde. Ich habe über mich gelernt, dass das nicht mein Ding ist. Kritik, durchaus, aber nicht im Sinne eines sinnlosen Wütens.

Die Sparte Fiktion, Romane, liegt mir nicht. Genauso wenig, wie die Abteilung Humor. Jedenfalls noch nicht. Ich wurde auch gefragt, ob ich mir vorstellen könne, meine Erfahrungen rund um die Themen Burnout, Depressionen, die Rolle von Führungskräften mit meinen anderen Skills zu verbinden. Dazu kann ich sagen, dass ich eben aus diesem Grunde die Finger davon lasse andere in ihrer Lebensführung zu beraten. Es ist grundfalsch seine Erfahrungen auf jemanden zu übertragen. Es gibt einen möglichen Weg hinaus. Er sieht ein wenig aus, wie einer dieser alten Fitnesspfade durch den Wald, wo man an mehreren Stationen Übungen machen muss. Nur das dieser Weg Stationen hat, wo es Informationstafeln gibt, Passanten auf Bänken sitzen, mit denen Gespräche möglich sind und andere Stopps, an denen einem Frage gestellt werden. Dann folgen längere Strecken, auf denen Gelegenheit besteht, sich diese Fragen zu beantworten.

Ich selbst hab am meisten durch das Beobachten von Menschen gelernt. Eine wesentliche Erkenntnis. Nach dem Ausscheiden aus der Polizei war für mich zunächst alles Vergangene ein Tabu – Thema. Bis ich mich darauf besann, zwischen durchaus gutem Erlernten und fehlgeleiteten Denken zu unterscheiden. Über 20 Jahre lang Menschen in allen erdenklichen Lebenslagen zu beobachten, unsichtbar zu werden, sich anzupassen, legt man nicht wie eine alte Jacke ab. Fraglich ist, was man aus dem Gesehenen macht.

Bis zum Ausbruch der Pandemie bin ich gereist. Ich traf Leute aus Ländern von anderen Kontinenten, erfuhr von Biografien und Lebensmodellen, die mir bisher fremd waren, erkannte Unterschiede und machte mir meine Gedanken hierzu. Oder um im Bild zu bleiben: Ich absolvierte eine Station nach der anderen. Mehr Worte will ich dazu gar nicht verlieren. Das “Web – Book” hat ein Vorwort, in dem ich noch einiges hierzu voranschicke.

Die Bezeichnung Web – Book ist eine Eigenkreation, die sich in einem Gespräch in einem Hostel ergab. Ich sinnierte mit einigen darüber, wie sich das Lesen von Büchern verändert hat. Die meisten Hostels verfügen über eine kleine Bibliothek. Kaum ein Backpacker oder Reisender packt sich schwere Bücher ins Gepäck. Eine andere Option sind E-Books. Doch wenn ein Autor schon die Möglichkeiten der Digitalisierung nutzt, warum dann nicht konsequent? Die Zeiten der begrenzten Netzabdeckung und horrenden Kosten für einen mobilen Datentransfer sind außerhalb von Deutschland vorbei. Ein BLOG oder ein Web – Book, in dem eine fortlaufende Geschichte, interaktiv und dynamisch, mit Einbettung von Musik, Bildern, Links, Tweets und vieles mehr, erzählt werden kann, erscheint mir eine logische Entwicklung.

Alles Weitere im Vorwort …. 

Im Wendekreis des Zwiebelfisches

Lesedauer < 1 Minute

Teil I meines Buchprojekts ist abgeschlossen. Das vorläufige Manuskript steht. Immer wieder neu auf eine Fehlersuche zu gehen, bringt nichts mehr. Ich habe mein “Baby” ein paar Leuten zum Lesen gegeben und erwarte von denen noch ein Feedback. Danach werde ich auf die hoffnungsvolle Suche nach einem Lektorat und einem Verlag gehen. Wer etwas passendes kennt, darf sich gern – bitte – bei mir melden.

Vorab stelle ich den vorläufigen Prolog online, der eine Auskunft gibt, worum es geht. Ich ziehe nach dreissig Jahren Kriminalpolizei aus mehreren Perspektiven Bilanz. Darüber hinaus beschreibe ich, wie ich nach diesen Jahren, als gelernter Polizist, die Welt, die Gesellschaft und den weitere Werdegang von beiden einschätze. Für die berühmten Zeilen dazwischen habe ich mir das Ziel gesetzt, einen Einblick in das Innenleben eines Berliner Kriminalbeamten im Jahr 2019 zu geben. Mir geht es dabei weniger um die Auffassungen, sondern mehr um die Tatsache, dass bei der Polizei durchaus nachgedacht wird. Weit über die üblichen Klischees hinaus.

Wer meinen BLOG schon ein paar Male besucht hat, weiß um mein Fremdschämen, wenn sich Polizisten in merkwürdige politische Law & Order Positionen hinein begegeben, stets neue Gesetze, Techniken und Überwachungen einfordern. Eins kann ich vorab kund tun: Es sind keine Interna zu erwarten, die unbefugte Personen unnötig schlau werden lassen oder Anlass für neugierige Fragen geben könnten. Solche Aktionen überlasse ich Ausschüssen, Gewerkschaftlern und Personalräten. Dennoch gehe ich auf Dinge ein, die bereits an unterschiedlichsten Stellen beschrieben wurden. Da ich aber viele Hintergründe kenne, habe ich eigene Interpretationen. So genug der Ankündigungen von dem, was alles noch nicht online ist. Ich lasse lieber meine Worte sprechen.

Bereits beim Prolog bin ich für jeden Kommentar und kritische Auseinandersetzung offen. Denn hierfür habe ich dieses Buch geschrieben. Wie es weiter geht, wird sich noch zeigen.

zum Prolog =>

Der schwarze Hund

Lesedauer 8 Minuten

Bei Twitter verfolge ich in letzter Zeit einen ermutigenden Trend. Menschen outen sich und sprechen offen über das Thema Depressionen. Neben ADS/ADHS, Hochsensibilität und einigen sexuellen Ausrichtungen eine der für mich am schwerst zu begreifenden Erscheinungsformen der menschlichen Psyche. Es gab sie schon immer, doch gerade innerhalb unserer Vorstellungen eines zur Gesellschaft konformen Lebens, wurden sie und der offene Umgang damit stets tabuisiert. Besonders mit der Einsortierung als Krankheit tue ich mich schwer. Wobei dies stark davon abhängt, wie man Krankheit definiert.


Wichtig!

Ich betone an dieser Stelle, dass ich weder ein Profi, noch ein Coach bin.
Sollte jemand im folgenden Text etwas entdecken, womit sie oder er sich identifizieren kann, rate ich dazu, sich einen professionellen Rat bei einem FACHARZT einzuholen. LEBENSBERATER, HOMÖOPATHEN mit PSYCHOLOGISCHER BERATUNG o.ä. Personen sind keine Ratgeber und machen unter Umständen alles noch schlimmer. Der Begriff Berater ist nicht geschützt und jeder Quacksalber kann sich ein Schild erstellen lassen.

Ich veröffentliche diesen Text als Botschaft für Betroffene: Du bist nicht allein! Du bist nicht falsch! Du hast nichts falsch gemacht!


Depression hat im Deutschen die äußerst missliche Konnotation mit unglücklich sein. Damit hat es wahrlich wenig zu tun. Die allgemeinen Beschreibungen machen es nicht besser. Ich würde Depressionen am ehesten mit: “Jemand hat den Stecker herausgezogen” umschreiben. Du weißt, dass Du dieses oder jenes tun solltest, aber irgendeine innere Instanz, die den notwendigen Impuls auslösen sollte, funktioniert einfach nicht. In unser Gesellschaft liegt der Schwerpunkt bei Aufgabenerfüllung, Leistung, Pflichterfüllung, Ordnung, Arbeit, Produktivität und ähnlichen Aspekten. Wer dies nicht tut, hat nach allgemeiner Vorstellung nicht gelernt, seinen inneren Schweinehund zu überwinden oder ist schlicht faul. Depressionen ereilen aber häufig genau die Menschen, die über Jahre hinweg äußerst diszipliniert, strebsam und leistungsorientiert lebten. Bis zu dem Augenblick, an dem ein Schalter umgelegt wurde. Ein alter Schulfreund meinte letztens: “Dann sitzt Du vor dem Bildschirm und plötzlich weißt Du nicht mehr, wie Du weiter machen sollst. Es fehlt einfach an allem. Aufstehen? Sitzen bleiben? Du schaust auf die Zahlen, Tabellen, den Text, und erkennst davon einfach nichts mehr, noch weniger kannst Du etwas damit anfangen.

Depressionen sind die direkte Fahrkarte in einen Teufelskreis. Der Betroffene rafft sich mühsam auf, mit äußerster Konzentration einige Formulare einer Versicherung, eines Bankinstituts oder einer Behörde auszufüllen, und bekommt diese prompt mit dem Hinweis auf eine schwachsinnige Formalität zurückgesandt. Einmal, zweimal, und eines Tages öffnet sie oder er die Post nicht mehr, was weitere Konsequenzen nach sich zieht. Innerhalb unseres Systems ein schwerer Fehler, der u.a. in Obdachlosigkeit, unverschuldete Finanznöte und ähnliche persönliche Katastrophen führen kann. Obwohl nahezu jeder weiß, dass unser Lebensalltag wenig mit dem zu tun hat, wofür der Mensch konstruiert wurde, akzeptieren wir nicht die Kapitulation der inneren Systeme. Der Mensch hat in unserer Gesellschaft die Option, sich quasi selbst reduzierend dem Leben anzupassen und das Inhumane still leidend, als unveränderbare Lebensrealität hinzunehmen oder sich innerlich daran zu reiben. Bereits der morgendliche Berufsverkehr hat nichts mit dem zu tun, wofür der Mensch evolutionär prädisponiert ist. Noch weniger hat die Distanz zwischen dem Hergestellten und der eigenen Leistung eine Verbindung zu unserer Natur. So engagiert sich der Einzelne bemüht, gegen seine menschliche Natur anzukommen, am Ende wird er irgendwie scheitern. Die Strategien sind mannigfaltig. Medikamente, Substanzmissbrauch, Verblödung über Konsum, Ablenkung in Fitnessstudios, Körpermodifikationen, Hingabe in die Verblödung, Religiöser Fanatismus, Ausleben von Aggressionen, Rückzug, Frustration oder eben die Depression.

Insofern habe ich ein Problem mit der Bezeichnung Krankheit. Ich selbst ersehe Depressionen als einen natürlichen vorgesehenen Abwehrmechanismus, wie den Fluchtreiz oder das Fieber zur Abwehr einer schädlichen Infektion. Grundsätzlich habe ich einen gesunden Menschen vor mir, wenn er wenigstens noch dazu in der Lage ist, mit Depressionen zu reagieren. Bei diesen Menschen hat das Abriegeln des Geistes noch funktioniert. Auf jeden Fall ist für mich richtungsweisend, dass die Depression eine Reaktion auf etwas ist. Wenn ich auf etwas reagiere, kann ich auf Spurensuche gehen, worauf sich die Reaktion bezieht! Das ist wichtig. Gegen die Depression an sich, hilft dies nicht, aber es eröffnet einen Lebensweg, der die bedingenden Einflüsse reduziert oder völlig in die Vergangenheit verweist. Ohne Hilfe ist dieser Weg nicht zu finden. Aus dem gleichen Grund, wie der Dumme nicht erkennen kann, einer zu sein. Ich glaube, einer der entscheidendsten Grundsätze ist das Erkennen der Reaktion, somit der eigenen Verhaltensmuster, auf die Umwelt. Die Realität ist, wie sie ist. Die Welt ist das Abbild, was der Mensch in seinem Kopf aus einer selektiven Wahrnehmung heraus, in seinem Geist erzeugt. Nicht die anderen, machen etwas mit einem, sondern man selbst lässt es zu! Wer Depressionen hat, fehlt die Kraft und die notwendige Struktur, die Verhaltensmuster und das daraus resultierende Umfeld zu analysieren.
Ein zentraler Faktor ist die Tatsache, dass sich die überwiegende Zahl der Menschen in einem beruflichen Umfeld befinden, welches sich schwer verändern oder gar wechseln lässt. Das Leben ist kein Wunschkonzert. Aber es sollte eins sein. Die gesellschaftlichen Vorgaben erfordern eine Normierung des Menschen. Anders lassen sich diverse Arbeitsprozesse nicht regeln. Und jeder wird für sich alleine entscheiden müssen, wie gut oder schlecht er damit klarkommt.

Bezüglich der Arbeitszeiten wird seitens der EU beispielsweise vorgeschrieben[1]https://www.eu-info.de/europa-punkt/politikbereiche/arbeitszeit/

/dass einem Arbeitnehmer je 24-Stunden-Zeitraum eine Mindestruhezeit von elf zusammenhängenden Stunden zusteht
/nach sechs Stunden eine Pause gewährt werden muss
/je Siebentageszeitraum ein freier Tag (genau 24 Stunden) vorgesehen ist
/die wöchentliche Höchstarbeitszeit von 48 Stunden einschließlich der Überstunden nicht überschritten wird
/ein bezahlter Mindestjahresurlaub von vier Wochen gewährt wird

An der Stelle beginnt das medizinische Personal eines Krankenhauses, die Belegschaft einer Pflegeeinrichtung, ein Polizist, Soldat im Einsatz oder auch Feuerwehrbediensteter lauthals zu lachen. Schlicht, weil es mal wieder Ausnahmeregelungen gibt:

/Arbeitnehmer, die in Verkehrsmitteln tätig sind oder auf Offshore-Anlagen arbeiten
/Wach- und Schließdienste, bei denen es darum geht, den Schutz von Sachen oder Personen zu gewährleisten
/Tätigkeiten, die nicht aufgeschoben werden können, z. B. Pflegedienste von Krankenhäusern, landwirtschaftliche Tätigkeiten oder Presse- und Informationsdienste
/Arbeitnehmer bei vorhersehbarem übermäßigem Arbeitsanfalls, insbesondere in der Landwirtschaft, im Fremdenverkehr oder im Postdienst, sowie bei der Eisenbahn
/und nicht explizit aufgeführt: Alles, was irgendwie mit der Sicherheit und Bestand des Staats zu tun hat.

Zur Physiologie unpassende Arbeitszeiten, Schichtdienst, Druck, unsinnige Hektik, Stressfaktoren u.s.w.., sind in diversen Berufen fester Bestandteil des Arbeitsgeschehens. Doch egal wie es gedreht wird, der Mensch ist auf Dauer dafür nicht geeignet. Genau so wenig, wie er nicht für den Untertagebau, die Arbeit in biologisch -, chemisch -, strahlungsbelasteten Bereichen, das Fließband, usw. geeignet ist. Wir gehen ein Deal ein. Geld gegen Gesundheit! Oftmals wird der Fehler begangen, den Organismus anders zu betrachten, als den Geist. Das eine Strahleneinwirkung, übermäßiges schweres körperliches Arbeiten oder eine Luftverschmutzung auf längere Zeit nicht gut sein kann, sieht jeder ein. Die schädliche Wirkung von stupider eintöniger Arbeit, des Gegenteils, die permanente geistige Höchstleistung, soziale Anfeindungen, Ohnmacht in Hierarchien, die Förderung von dissozialen Persönlichkeitsstrukturen, als optimale Eliteeigenschaft, auf den Geist wird vernachlässigt bzw. gar nicht erst gesehen. Die Einheit zwischen Körper und Geist, die sich jeweils gegenseitig bedingen, wird ignoriert.

Dabei ist in der Medizin längst bekannt, dass der Körper jedes psychologisch relevante Ereignis quasi speichert. Ebenso sind die neurologischen Auswirkungen im Gehirn bekannt. Die Schaltzentrale Gehirn wird schlicht und ergreifend über Jahre hinweg falsch verkabelt, bis nichts mehr geht. Neurologen können diese Fehlschaltungen heutzutage mittels Gehirnscans nachweisen. Die Depression ist eben nicht eine mittels Veränderung des Denkens oder Lebenseinstellung veränderbare Reaktion des Organismus, sondern ein erreichter manifestierter Zustand. Niemand kommt bei einem Knochenbruch auf die Idee, dem Verletzten eine andere Sichtweise vorzuschlagen. Selbstverständlich kann auf die Spurensuche gegangen werden, wie es zum Bruch kam. Bei Glatteis mit dem Fahrrad zu fahren ist in der Regel keine gute Idee und man sollte es künftig unterlassen, aber erst einmal muss gerichtet und geschient werden. Niemand kann erwarten, dass der Verletzte ohne Behandlung nach drei Tagen Entspannung wieder zur Arbeit kommt.
Würde die berühmt berüchtigte Marktwirtschaft funktionieren, wäre dies der Augenblick den Taschenrechner anzuschalten. Wenn ich ein Arbeitsumfeld gestalte, welches Depressionen begünstigt, fällt der Beschäftigte über eine lange Zeit aus und verursacht überall Kosten: Im Betrieb, im Gesundheitssystem, in der Gesellschaft allgemein. Seltsamerweise reagiert da in diversen Arbeitsbereichen niemand. Genau genommen, müsste der Ansatz schon viel früher beginnen. Nämlich bei der Wertevermittlung in der Schule. Dort könnte den zukünftigen Arbeitnehmern und Dienstleistern ein gesundes Verhältnis zwischen Konsumbedürfnis, Leistungsanspruch, Selbstdisziplin, gesunder und notwendiger Egoismus, Sozialverhalten und ein Verständnis für den ursprünglichen Sinn von Arbeit vermittelt werden.

Arbeit ist an sich nichts Negatives, sondern der natürliche Schaffungstrieb eines Menschen, mit dem er zum einen sein Lebensumfeld gestaltet und zum anderen die Voraussetzungen für ein Überleben erzeugt. Essen, Trinken, sichere Unterkunft, Befriedigung des Sexualtriebs und die Anerkennung der eigenen Existenz durch andere Menschen. Die modernen Arbeitsverhältnisse lassen oftmals weder eine Gestaltung, noch eine Einsicht in das Erschaffene zu. Von einer Befriedigung der Bedürfnisse kann gar nicht die Rede sein, da rund um die Uhr von fremder Seite her, neue erzeugt werden.
In dieses System passt ein nicht mehr wie vorgesehen funktionierender Mensch schwerlich hinein. Es ist üblich, unproduktive Menschen mit negativen Begriffen zu belegen, sie zu diffamieren oder auszugrenzen. Entweder unmittelbar oder auf dem Umweg der Negierung. Seitens Politiker wird gern der Begriff Leistungsträger verwendet. So einer zu werden, soll erstrebenswert sein und ist förderungswürdig. Damit ist jeder, der kein Leistungsträger ist, minderwertig und eben nicht einer Unterstützung würdig. In den USA wird bei Prozessen, in denen es um tödliche Unfälle geht, eiskalt der Wert eines Menschen berechnet. Zur Ermittlung der Entschädigungssumme für die Angehörigen wird der Jahresverdienst mit der durchschnittlich zu erwartenden Lebensleistungszeit multipliziert. Kinder, Gebrechliche und Rentenbezieher sind quasi wertlos. Viel anderes sieht es bei uns auch nicht aus. Ein in einem Heim untergebrachter Pflegebedürftiger hat den Status eines biologischen Restkapitals, mit dem die Einrichtung einen Profit erzeugen kann. Ansonsten ist sie oder er volkswirtschaftlich eine Nullnummer und wird so auch behandelt.

Damit bekommt die Depression den Schamwert einer Geschlechtskrankheit. Gerade ehemalige so genannte Leistungsträger, die unter Umständen zeitweilig selbst mit dem Finger auf andere zeigten, finden sich in einer Misere wieder. Innerhalb des Systems ist totstellen oder der Rückzug nicht vorgesehen. Das Finanzamt will Auskünfte haben. Die Krankenkasse schickt Formulare zum Ausfüllen. Die Banken haben Fragen. Die GEZ fordert eine Selbstauskunft ein. Zwischen all den Briefen befinden sich zusätzlich Werbung, sinnbefreite Konsumentenangebote, Mitteilungen über Kostenanpassungen und vieles mehr. Wer sich in einer Depression befindet, bekommt diese Dinge kaum oder gar nicht geregelt. Möglicherweise reicht es gerade mal noch für ein Schleppen an den Arbeitsplatz und zurück. Wer Scham empfindet, wird erfinderisch und ist über lange Zeit dazu in der Lage, die Unfähigkeit einen Handlungsimpuls zu entwickeln, zu kaschieren. Paradox ist dabei, dass es dabei sogar zu erheblichen Mehrleistungen im Arbeitsbereich kommen kann. Dort werden einem die Entscheidungen abgenommen oder passende Vorgaben gemacht. Der gefährliche Ort ist das zu Hause. Dort, wo der Betroffene Eigeninitiative aufbringen muss. Hier ist der Zwinger für den bösen schwarzen Hund – wie ihn einst Winston Churchill umschrieb.

Fakt ist: Manch einer bekommt Depressionen und andere nicht. Das von mir hier im BLOG bereits mehrfach angesprochene BURNOUT ist grundsätzlich eine Depression. Manche Zeitgenossen haben den Bogen raus, um mit den gesellschaftlichen Gegebenheiten oder den beruflichen Anforderungen gut umzugehen. Dazu gehört zum Beispiel die Entwicklung eines EGOISMUS. Auch ein Begriff, der vorsätzlich traditionell mit einem negativen Beigeschmack versehen ist. Egoismus wird mit asozial gleichgesetzt. Eine grundsätzlich falsche Annahme. Es geht um das Recht, die eigenen Bedürfnisse und Angelegenheiten für wichtiger zu erachten, als die eines Fremden. Das schließt Handlungen zur Befriedigung der sozialen Bedürfnisse nicht aus, eröffnet aber das Bewahren eigener Rechte, die einem ein anderer nehmen will. Egoismus verträgt sich nicht gut mit dem Anspruch von Firmen, Politik, Institutionen, Religionsgemeinschaften, die eigene Person einem übergeordneten Prinzip unterzuordnen.

Gleichsam gehört dazu die Fähigkeiten des Ablehnens, des Nein – Sagen, der Verweigerung, das Voranstellen des eigenen Wohlbefindens gegenüber den Ansprüchen eines Arbeitgebers und das Aushalten von Unterschieden. Hinzu kommt ein gutes Gespür für berechtigte und unberechtigte Ansprüche, die an einen herangetragen werden. Die Depression ist meiner Beobachtung nach allzu häufig eine Art Abwehr eines psychischen Immunsystems gegen Viren, die genau zu dem oben gelisteten gesunden Persönlichkeitsmerkmalen konträre Informationen und Verhaltensmuster auslösen sollen. Wer die anderen Verhaltensmuster in seiner Grundsozialisation nicht erlernt hat oder im Arbeitsleben mit diesen Viren infiziert wurde, fährt praktisch mit einem Reifen ohne Profil bei Glatteis Fahrrad, und handelt sich den mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit zu erwartenden Bein – oder Armbruch ein.
In einem idealen Umfeld reagieren Vorgesetzte, Abteilungs – und Gruppenleiter, Verantwortliche für Arbeitsabläufe, politische Vordenker, verantwortungsvoll, und werden den unvernünftigen Ritt auf dem Glatteis nicht zu lassen. Nun, es gibt dieses Ideal nicht. Am Ende läuft es auf eine Selbstverantwortung hinaus.

Sind die Depressionen da, muss man sich auf eine sehr lange Zeit einstellen. Sie sind hinterhältig und lästig. Aus dem Nichts heraus springen sie einen an, verschwinden eine Zeit lang und kommen dann mal wieder zum “Hallo” sagen vorbei. Ich empfinde sie immer, wie eine Dauerunterzuckerung, die man zunächst selbst gar nicht merkt. Die Nerven liegen blank, die Gelassenheit schwindet, ich beginne anderen gegenüber ungerecht zu werden, alles geht schief und am Ende bekomme ich nichts mehr auf die Reihe, wenn doch, dann mit einem erheblichen von der Ratio gesteuerten Aufwand. Irgendwann ist alles egal und soll doch verdammt nochmal passieren – ich werde es nicht ändern – sollen doch alle machen, was sie wollen. Das Leben, der Tagesablauf, entzieht sich meiner Kontrolle. Manchmal denke ich mir, dass sich Frauen einmal im Monat so fühlen. Dumm ist nur, dass sich eine Depression locker einen Monat und länger festsetzen kann. Dann ist eine kritische Phase erreicht. Zwischendurch hat diesen Zustand jeder, aber die Länge und Intensität ist das Problem.

Wie eingangs erwähnt: Wer sich in diesen Ausführungen wieder erkennt, sollte sich meiner Meinung nach nicht schämen, sondern vielleicht sogar ein wenig stolz auf sich sein, dass sie oder er über ein funktionierendes Immunsystem verfügt, während andere nicht einmal mehr merken, was mit ihnen gemacht wird. Möglicherweise ist es eine Phase im Leben, die einem neue Optionen und Wege eröffnet, die man sich hätte niemals Träumen lassen. Es kann ein danach geben, vor allem, wenn man es nicht selbst künstlich verkürzt.

Bewertung: 5 von 5.