Ein verschwindendes Paradies Teil I
«Willst Du immer noch mit raus?», fragte mich der Skipper in seinem schlechten, schwer verständlichen Englisch. Eine Woche vorher hatte ich ihn gefragt, ob er mich zum Muschelsammeln mitnehmen würde. Begeistert gab ich ihm mit meinen Händen gestikulierend zu verstehen, dass ich natürlich immer noch wollte. Daraufhin nickte er, wandte sich zum Meer und zeigte mir vier Finger. Ich verstand ihn. Um vier Uhr morgens sollte ich mich bereithalten. Es war noch stockfinster, als ich mich aus meiner Bambushütte quälte. An der Treppe zum Strand wartete der Skipper. Zu meiner Freude hielt er eine Tasse Kaffee für mich in seiner Hand. Breit grinsend streckte er mir den Becher entgegen. Im Gegenzug bot ich ihm eine von meinen Zigaretten an. Er lehnte ab. Stattdessen fingerte er aus einem kleinen Plastikbeutel ein wenig Tabak hervor, den er in ein getrocknetes Palmblatt einlegte. Er zeigte mir ein paar Mal, wie man damit Zigaretten drehte. Doch ich scheiterte grandios. Zuerst musste das zusammengerollte Blatt geglättet werden. Dann legte man den Tabak in das daumenlange Blatt und ließ es sich wieder zusammenrollen. Das klingt einfach, ist es aber nicht. Der Skipper hatte einen kleinen Eimer, in dem sich die Reste eines grünen Nylon Fischernetzes befanden. Nachdem ich den Kaffee getrunken hatte, drückte er mir diesen in die Hand und lief zum Strand. Es herrschte Ebbe. Die Wasserkante war deshalb gute 2000 Meter entfernt. Der kleine drahtige Mann lief mit kleinen Schritten barfuß vor mir über den Schlick.
Nach wenigen Metern stoppte er und erklärte gestikulierend, dass ich auf die im Schlamm steckenden rasierklingenscharfen Muscheln aufpassen sollte. Im Gegensatz zu ihm trug ich Neoprenschuhe. Wenn, dann machte ich mir Sorgen um ihn. Muscheln wollte er offensichtlich nicht einsammeln. Mir war unklar, um welche Beute es ging. Nach zwanzig Minuten hielt er wieder an. Im nassen Schlick steckte ein kleiner Ast, an dem ein kleiner Fetzen grünes Nylon hing, welches sich im Sand fortsetzte. Der Skipper hockte sich hin und begann an dem Zipfel behutsam und unendlich langsam zu ziehen. Gespannt beobachtete ich ihn. Dann kam die Beute zum Vorschein. Eine Riesengarnele war beim Versuch ihr Versteck mit Einsetzen der Flut zu verlassen in den Resten des Fischernetzes hängen geblieben und wurde vom Skipper langsam und behutsam herausgezogen. Während er sie vom Netz befreite, versuchte ich herauszufinden, wie er es schaffte in dieser dieser grauen Weite seine Falle wiederzufinden. Keine Chance. Zielstrebig lief er von einem Stab zum nächsten. Als etwas heller wurde, zeigte er mir, worauf ich beim Aufstellen von neuen Fallen achten sollte. Die Verstecke sind an handtellergroßen Sandkreisen, die sich schwach im freigelegten Meeresboden abzeichnen, erkennbar. Doch kaum hatte ich einen gefunden, schüttelte er mit dem Kopf. Eine Vielzahl anderer Meerestiere versteckten sich ebenfalls im Boden. Und die meisten, welche ich fand, rührten von Würmern her.

Ich war ihm nicht wirklich eine große Hilfe. Im Vorbeigehen sammelte er noch vier Tintenfische ein. Mit einem vollen Eimer erreichten wir sein Boot. Ein langes schmal geschnittenes traditionelles Holzboot mit einem Heckmotor, von dem aus eine lange Stange ins Wasser reichte, an deren Ende sich die Schraube befindet. Mittlerweile hatte es genug Wasser unter dem Kiel. Gemeinsam schoben wir es ins Tiefe und fuhren los. Nach einer halben Stunde stellte er den Motor ab.

Links steht die Köchin, die mir jeden Tag ein eigenes Menü kochte. Daneben ist der Skipper.
Mühselig machte er mir verständlich, dass er nicht mehr mit dem Netz fischen dürfe. Er gehörte dem Volk der Moken an. Bis in die Achtziger hinein lebten sie als Seenomaden. Dann kamen Reiseunternehmen und kauften der thailändischen Regierung Strandabschnitte auf den Inseln ab. Die Moken selbst hatten niemals einen Besitzanspruch gemeldet. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob sie in Ihrer Sprache über ein Wort für Eigentum verfügen. Auch wenn es uns merkwürdig vorkommt, fehlt es in diversen indigenen Sprachen. In ihrer Vorstellung standen die die Inseln jedem zur Verfügung. Den Wetterperioden folgend waren sie von einer zur nächsten gefahren. Für einige Wochen ließen sie sich in ihren einfachen Pfahlbauten am Strand nieder. Von diesem Leben war nichts mehr übrig. Der Skipper arbeitete jetzt für Dada und ihr Hostel. Eine beeindruckende Frau. Ihre Familie besaß ursprünglich eine Kautschuk Plantage. Doch das Geschäft lohnt sich nicht mehr für die kleineren Farmer. Die großen Plantagen machen Tagespreisgeschäfte und dabei können die Kleinen nicht mithalten. Andere Moken arbeiten als Hilfspersonal in den großen Luxus Resorts und halten sich damit über Wasser. Der Rest vegetiert an den Stellen der Inseln mit den schlechtesten Strömungsverhältnissen. Dort, wo der Müll angeschwemmt wird. Dada betrieb neben dem Resort für die Touristen eine kleine Kaffee-Rösterei. Nach traditioneller Art kochte ihre Mutter die gerösteten Kaffeebohnen zu einem schwarzen Teer zusammen, der dann nach dem Erkalten zu einem Pulver zerstampft wird. Zum Ergebnis sagte ein Italiener: “Ich komme aus Rom. Ich weiß, was ein guter Kaffee ist. Und das hier ist der beste Kaffee, den ich jemals trank.”
Trotz seiner wenigen Brocken Englisch verstand ich den Skipper ganz gut. Ich weiß nicht, was er mit seiner Hand im Wasser spürte. Aber plötzlich zog er sie heraus und warf mir eine Tauchermaske zu. Er selbst griff sich eine Harpune. Unter Wasser sah ihm zu, wie er pfeilschnell einige Meter unter mir ein Riff abtauchte. Unvermittelt schoss er seine Harpune ab und tauchte neben mir mit einem armlangen Fisch auf. Leider konnte ich den Namen nicht verstehen. Jedenfalls war er für mich Landratte von beeindruckender Größe.
Viermal tauchte er noch herunter. Immer wenn er sich aus dem Wasser hievte, zog er sich einarmig an einem Seil ins Boot. Eine beeindruckende Kraftleistung. Verschämt wartete ich einen unbeobachteten Moment ab, und kletterte an einer Leiter ins Boot.

Mit der Beute des Tages steuerten wir den Strand des Hostels an, wo bereits die beiden dicken Köchinnen auf uns warteten. Besonders die eine mochte mich. Gleich am ersten Tag gab ich ihr zu verstehen gegeben, dass sie mir einfach etwas nach ihren Vorstellungen bringen sollte. Jeden Tag bekam ich etwas anderes, von dem ich nicht die Bezeichnung kannte. Kaum hatte sie den Teller abgestellt, suchte sie sich abseits einen Platz und beobachtete mich beim Essen. Ich bemühte mich, meine Begeisterung zu zeigen, ohne zu sehr den Eindruck einer Schauspielerei zu hinterlassen. In ihrem runden Gesicht breitete sich daraufhin ein glückliches Grinsen aus. Vom Fang bekam ich an diesem Tag drei der Riesengarnelen und zwei Tintenfische zubereitet. Meine Belohnung für das frühe Aufstehen. Der Neid der wenigen anderen Gäste war mir sicher. Doch das kümmerte mich nicht weiter.
Unter ihnen befanden zwei Engländerinnen. Nachmittags trug eine der beiden ungebeten einen lauten Monolog über den Brexit vor. Sie gab dabei eine komische Figur ab. Unpassend zu ihrem Alter trug sie einen sehr knappen abstehenden Glockenrock, der mit ihren aufgeregten Bewegungen mit wippte. Der Skipper und die Köchin verstanden kein Wort. Sie sahen nur eine merkwürdige Frau, die enthusiastisch von einem Tisch zum nächsten ging und laut vor sich hin sprach.
Meistens saß ich während dessen mit einem jungen französischen Pärchen aus der Bretagne zusammen. Die beiden interessierten sich mehr für die Gelbwesten – Bewegung. Mein Englisch und mein Französisch reichte, um alle zu verstehen.
Damit wurde ich das Opfer beider Ausführungen. An einem Tag, als alle in Hochform waren, bekam der Skipper mit mir Mitleid. Er erlaubte mir, mit ans Festland zu fahren, um die Chefin mit ihren Einkäufen einzusammeln.
Lieber schleppte ich Melonen, Trockeneis und Reissäcke, denn mir das Gerede der nervigen Engländerin anzuhören.
An einem Tag schnappte ich mir ein Kanu, mit dem ich mich auf Erkundungstour begab. Der Skipper hatte mir einen einsamen Strand gezeigt. Bei 38 Grad und wolkenlosen Himmel paddelte ich um die halbe Insel herum. Der Strand war herrlich. Die erste Stunde hatte ich ihn für mich allein. Solange bis ein von der Sonne hummerrot gebranntes Ehepaar aus Deutschland keuchend ihr Kanu, aus dem Meer zog. Nach einigen Minuten legte er sich Flossen an und schwamm zum Schnorcheln an die Kante einer Felsenkippe.
«Kommen Sie öfter her?», fragte mich die Frau. Dem Dialekt nach stammte sie aus dem Ruhrpott.
«Nein, ich bin das erste Mal hier. Schön hier!»
«Ist noch recht sauber hier. Liegt an den wenigen Einheimischen, die hierherkommen.»
«Bitte?», fragte ich nach. Ich konnte kaum glauben, was ich hörte.
«Na, haben Sie mal die Siedlungen in der Nähe des Hafens gesehen?», setzte die Frau nach.
Ich starrte sie von der Seite aus an. Da saß dieses übergewichtige Weib und machte allen Ernstes die Inselbewohner für den Müll verantwortlich.
«Ich denke mal, die sind am wenigsten für alles verantwortlich. Sind wohl eher die Touristen.», kam aus mir heraus.
Meine innere Stimme sagte: «Du fette Kuh. Kommst hierher, parkst Dich und Deinen dicken Mann in einem Luxusresort, paddelst einmal in Deinem Leben ein wenig übers Meer und maßt Dir an, andere für Deinen Müll verantwortlich zu machen.»
Mit einem beleidigten Unterton widersprach sie. «Ich und mein Mann nehmen unseren Müll immer mit. Sie sind doch auch Deutscher. Es ist eine Schande, was die Asiaten mit der Umwelt anstellen.»
«Ja, ich bin auch ein Deutscher.», stellte ich fest. Dabei dehnte ich als Ausdruck meines Unwillens das “Ja”, welches ein «Fuck you!», werden sollte. Sie hatte mir meinen Traumstrand vermasselt. Wütend paddelte ich in die offene See, bis sie nur noch ein farbiger Punkt war. Da war ich so weit von zu Hause weg und dann lief mir ausgerechnet an einem der einsamsten Strände ein Musterexemplar der Borniertheit über den Weg. Gab es kein Entkommen?
Völlig überraschend tauchte unmittelbar neben mir ein großer Kopf mit kleinen schwarzen Glupschaugen aus dem Wasser auf. Eine Dugong Kuh war neugierig auf den Zweibeiner im Kunststoff-Stamm geworden. Kurz danach tauchten drei weitere Exemplare aus den Fluten. Trotz des glasklaren Wassers hatte ich sie nicht kommen sehen. Ihre Anwesenheit entschädigte mich. Meine Anwesenheit gefiel dem Skipper und er lud mich noch einige Male ein, zusammen mit anderen Touristen zu den wenigen noch lebenden Korallenriffen zu fahren. Ich entwickelte mich zu einer Art Bootsjungen. Die anderen Fahrgäste interessierten sich wenig für das Gleichgewicht des Boots. Wie es ihnen gerade gefiel, setzten sie sich, meistens Paare, auf die Holzbänke. Oft bekam es dadurch Schlagseite, gegen die der Skipper mit erheblicher Kraft ankämpfen musste. Ihm wäre niemals in den Sinn gekommen, die Gäste darauf anzusprechen. Nach der zweiten Fahrt übernahm ich den Job. Er dankte es mir mit einem Lächeln und weiteren kostenlosen Fahrten.
Immer stand auf dem Programm eine Lagune, die früher ein Piratenversteck war. Einer der schönsten Plätze, die ich jemals sah. Während der Flut liegt der Eingang unter Wasser. Erst bei Ebbe gibt das Meer den Eingang zur Höhle frei, durch die man schwimmend zur Lagune kommt. Nach 150 Metern Schwimmen in vollkommener Finsternis öffnet sich die Passage plötzlich und man steht unter freiem Himmel. Es ist, als wenn in grauer Vorzeit ein gigantischer Bohrer ein Loch mit vierzig Meter Durchmesser in die hohe Felsenformation grub. Morakot Cave (Emerald Cave)
Der Skipper muss durch die Höhle schon unzählige Male geschwommen sein. Deshalb verfiel er auf den Gedanken, dass ich für eine Gruppe die Führung übernehmen sollte. Das ging beinahe böse schief. Beim Schwimmen muss man sich am Eingang an einem Seil orientieren, welches sich an der Höhlenwand befindet. Als ich mich zuvor am Skipper orientierte, war mir ein Abzweig nicht aufgefallen, den ich nun ausgerechnet mit den Touristen nahm. Ein Höllenschlund, der sich zum Ende hin verengt. Hinten am Ende brechen sich bedrohlich dumpf die Wellen. Im letzten Augenblick erkannte ich die Gefahr. Den anderen habe ich nie erzählt, wie nah sie an diesem Tag ihrem Ende waren.
Es ist eine Frage der Zeit, bis es dieses Idyll nicht mehr gibt. Aber ich sah es noch einmal und Dank des Skippers erlebt. Trauer und Glück lagen beim Abschied eng bei einander. Was mit den Inselbewohnern veranstaltet wird, ist eine ausgemachte Sauerei. Der Klimawandel, von dem mir auch Dada berichtete, macht es nicht besser. Die Regenzeiten haben sich verschoben, die Wassermengen der letzten Jahre kannten sie vorher nicht und die folgenden Trockenzeiten verhalten sich ebenfalls merkwürdig. Die Korallenriffe sind zu 90 % der Korallenbleiche zum Opfer gefallen. Mal sehen, vielleicht schaffe ich es nochmals die Insel zu besuchen. Eine Einladung habe ich noch offen. Doch von der erzähle ich im II. Teil.