Erdling vs. Deutscher
Wir saßen auf der Terrasse eines kleinen Hostels in Chiang Mai. Ibiza, ein Spanier von der gleichnamigen Insel, Surneval der Australier mit indischen Wurzeln und ich. Es war eins dieser besonders günstigen Hostels, in dem man bereits für 3 EUR einen Schlafplatz bekam. Vier Leute auf einem Zimmer, Matratze auf dem Fußboden und eine gemeinsame Toilette mit Dusche pro Etage.

Es war ganz nach meinen Vorstellungen. Ich wollte Menschen aus anderen Ländern kennenlernen. Gleichgesinnte, die die Welt bereisen wollten. Unter ihnen der Älteste zu sein, störte mich nicht. Wir unterhielten uns über die Gründe, die uns zum Reisen bewegten. Der Spanier war mehr der rastlose Typ. Das Leben hatte ihm keine Gelegenheit gegeben sesshaft zu werden. Für eine Familie fehlte ihm das Geld. Surneval, der sich mit Kinderbüchern und Englisch Unterricht über Wasser hielt, hatte einen eher philosophischen Ansatz. Während er sprach, saß er im Schneidersitz auf einer Holzbank aus Wurzelholz. Mit seinem Übergewicht hatte er etwas von einem chinesischen Glücks – Buddha.
«Es gibt Menschen, die in ihrer Wohnung leben. Andere betrachten ihr Viertel, als ihr zu Hause. Manche beziehen sich auf ihre Stadt oder auf ihr Herkunftsland. Ich bin ein Erdling. Wer will für sich das Recht in Anspruch nehmen, mir meinen Aufenthaltsort vorzuschreiben? Versuche, Dir ein Gespräch mit einem Außerirdischen vorzustellen. Was würdest Du ihm sagen? Ich bin ein Deutscher, oder ich komme von der Erde.»
Seine Worte beeindruckten mich nachhaltig.
In Deutschland wird die Bezeichnung Migrant mit einer absoluten Selbstverständlichkeit benutzt. Seltsamerweise erinnere mich noch daran, wie ich erstmals im Erdkundeunterricht mit dem Wort in Kontakt kam. Wir mussten bei historischen Geschehen zwischen Migrationsbewegungen, Kolonialisten, Immigranten und Emigranten unterscheiden. Bis heute habe ich mich nicht an das Wort gewöhnt. Es ist mir fremd geblieben.
Weder Ibiza, noch Surneval, konnten etwas mit dem Wort Heimat und der dahinter liegenden Bedeutung anfangen. Für mich eine wohltuende Begegnung mit zwei Menschen, die wenn auch aus anderen Gründen, wie ich empfanden.
West – Berlin, meine Geburtsstadt, existierte seit dem Mauerfall nicht mehr. Aus dieser untergegangenen Stadt zu kommen ist ein Lebensgefühl. Aber mit einem Heimatbegriff hat das nichts zu tun. Es gibt keine typischen Feste, Speisen, Trachten oder Riten, die in Berlin entstanden sind. Preußen, Hugenotten, Russen, Pommern, Polen, Litauer, Sorben, später Italiener, Türken und Araber, haben dieses Berlin geprägt. Kaum ein Berliner ist sonderlich religiös. Die Kirchen kämpfen in dieser Stadt schon vor der Wende seit Jahrzehnten ums Überleben. Ich hatte mit Deutschland nichts zu tun. Die DDR war auf der anderen Seite der Mauer und Bonn war weit weg. Für mich gab es immer nur die Wessis, die Ossies und die Berliner. Ich verspürte auch nie das Bedürfnis nach einer Heimat. Mir sind Leute suspekt, die ihre Identität von der Herkunft ableiten. Man wird an einem Ort geboren und an das dort herrschende System angepasst. Es ist an einen selbst, sich im Verlauf der Jahre davon zu emanzipieren. Deutscher? Was sagt das aus? Nichts! Pünktlich, ordentlich, sauber, fleißig? Ich kann mir interessantere Attribute vorstellen.

Die machen sich gut in einer Grabrede, aber für das Leben erscheinen sie mir eher ungeeignet. Solche Dinge behauptet man von Leuten, wenn einem bei einer Beschreibung gar nichts anderes einfällt. Surneval behauptete, dass Deutsche zumeist angenehm zurückhaltend wären.
In einem unserer Gespräche sagte er:
«Du lachst, aber es ist so. Engländer, Amerikaner, Australier haben etwas Großspuriges. Die sind mehr die Egoisten. Deutsche halten sich zurück. Ein Kumpel hat Hostel in Thailand. Die übelsten Prügeleien haben sich dort bisher die Franzosen und die Engländer geliefert.»
Ich entgegnete: «Vielleicht haben Deutsche zu Hause eine große Klappe und trauen sich außerhalb nichts zu machen, weil sie dann mächtig Ärger mit der Polizei bekommen? Ich habe da so meine Erfahrungen. Du hast mir doch von diesem Sprayer erzählt, der jetzt hier im Knast sitzt.»
«Dazu kann ich nichts sagen. Ich war noch nie in Deutschland. Ich kenne sie nur unterwegs.»
Ibiza, der uns zugehört hatte, sagte zu mir: «Ich schon! Du hast Recht. Bei Euch ist die Polizei korrekter. Nicht so korrupt, wie bei uns. Es dauert eine Weile, bis sie bei uns was machen, aber wenn …» Er wedelte mit der Hand in der Luft herum.
Ibiza der mal für eine Versandfirma in Frankfurt/Main gearbeitet hatte, empfand Deutschland ansonsten als eher ausbeuterisch. Doch richtig schlimm fand er die Polen, welche sich seiner Beschreibung nach, immer am Frühstücksbuffet vordrängelten.
Ich kenne ein paar Polen, die tatsächlich seiner Beschreibung entsprachen. Essen ist für sie ein zentrales Thema. Zweimal am Tag benötigten sie etwas warmes im Magen. Ich habe polnische Vorfahren. Doch die Essensgewohnheiten sind mir fremd.
Ibiza war sehr wählerisch. Wenn wir zusammen essen gingen, suchten wir lange nach einer passenden Streetkitchen, die eine zu ihm passende Suppe anbot. Überhaupt war er ein wenig divenhaft. Ich hatte die Vorstellung, dass ein Spanier mit Hitze keine Probleme hätte. Er hingegen, litt arg unter den hohen Temperaturen und war ständig auf der Suche nach einem besseren Hostel mit einer Klimaanlage.
Surneval besaß ein Wesen, mit dem er überall gute Laune verbreitete. Zogen wir durch die Straßen, lief ich gern hinter ihm. Für alle Streetkitchenköche links und rechts hatte er ein paar lustige Worte parat. Obwohl es normalerweise gegen jede Regel verstieß, tätschelte er im Vorbeigehen den Kindern über den Kopf und brachte sie zum Lachen.
Seine Ausstrahlung auf die Menschen war wahrlich faszinierend. Das sollte sich noch in einem anderen Zusammenhang zeigen. Eines Tages tauchte am Hostel ein ziemlich abgerissen aussehender Kerl auf. Ibiza, Surneval und ich saßen wie gewohnt auf der Terrasse. Er ging kurz hinein, sprach mit dem Thailänder hinter dem Tresen und stürmte laut schimpfend wieder heraus. «Bleibt bloß nicht in diesem Drecksloch. Hier werdet ihr auf übelste Art beschissen!», fluchte er.
Verwundert sahen wir ihn an. Angeblich hatte er ein Zimmer für ein halbes Jahr bereits zwei Monate im Voraus gebucht. Nun wurde ihm dies von dem Manager verwehrt. Der wiederum war ein hektisch wirkender hagerer Thai, der meistens mit sich selbst und seiner Kampffischzucht beschäftigt war. Überall standen kleine Bassins mit Fischen herum. Er behauptete stets, seine Frau wäre die Besitzerin des Hostels. Da die aber niemals einer gesehen hatte, vermuteten wir dahinter eine Masche.
Der wütende Kerl entpuppte sich als Amerikaner aus Chikago. Brockenweise entlockten wir ihm seine Geschichte. Zwei Jahre zuvor hatte er versucht, von Laos nach Thailand XTC Pillen zu schmuggeln, in dem er mit einem Paket durch den Mekong schwamm. Am Ufer wartete bereits die thailändische Polizei auf ihn.
Eigentlich hatte er dafür vier Jahre bekommen. Für einen Amerikaner oder Europäer können vier Jahre Haft in Thailand ein Todesurteil sein. Doch die Thais haben wenig Interesse an einem toten Touristen. Viel interessierter sind sie an einem Lösegeld von den Verwandten. Für 10.000 Dollar durfte ihn seine Familie frei kaufen. Doch statt wieder in die USA zurückzukehren, blieb er illegal in Thailand.
Irgendwie gab es einen Bezug zwischen ihm und den Manager, der nicht genau klar wurde. Zunächst verschwand er, um dann abends wieder aufzutauchen. Wir erfuhren nicht den Grund. Aber er bekam doch noch ein Zimmer. Neben dem Eingang befand sich eine Art Verkaufsraum, der einst vermutlich zu einem Geschäft gehörte. Die Schaufensterscheibe konnte mit einem dicken dunklen Vorhang verhangen werden. Dort quartierte sich der Ami ein. Parallel hängte der Manager ein Schild an der Innenseite der Eingangstür auf. Darauf bat er die Tür verschlossen zu halten, damit der Verrückte nicht hineinkommen könne.
Der Streit zwischen den beiden ging hin und her. Ich befürchtete Schlimmes. Spätestens, als ich den Thai dabei beobachtete, wie er ein Messer in der Nähe des Tresens versteckte, wurde mir mulmig.
Der Ami versuchte herauszubekommen, was auf dem Schild stand. Alle anderen Gäste, meist Durchreisende für eine Nacht, wichen ihm aus.
Surneval lächelte ihn an. Mit sanfter Stimme sagte er zu ihm: «Mein Freund, da steht, dass Du verrückt bist und nicht das Hostel betreten sollst. Ich würde Dir raten, Dich daran zu halten. Innen sind überall Kameras und Du willst bestimmt nicht mit der Polizei zu tun bekommen.»
Ich zuckte kurz zusammen. Der Ami war erkennbar auf Drogen unterwegs. Keiner konnte genau wissen, wie er im nächsten Moment reagierte. Aber selbst er konnte sich der Aura des Australiers nicht entziehen. Für einen Sekundenbruchteil flackerten seine Augen irre, dann sagte er: «OK! Ich hab’s!» Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, verschwand er in seinem Raum. Mich machte der Kerl aggressiv. Dieses Gefühl hatte etwas Selbstverständliches. Auf Typen wie ihn reagierte man einfach so. Was bildete er sich ein? Seine Eltern hatten viel Geld für ihn bezahlt. Und was tat er?
Machte einfach weiter, wie gehabt. Wir hatten eine junge Frau beobachtet, die mit ihrem kleinen Sohn in sein Zimmer gegangen war. Sie war spindeldürr und vermutlich abhängig. Der Bengel tat mir leid. Was hatte er der Welt getan? Wie konnte Surneval so gelassen reagieren? Was wusste er, was ich nicht wusste?
Er spürte, worüber ich nachdachte.
«Was siehst Du? Einen Ausschnitt! Ein kleinen Augenblick. Du hast keine Ahnung davon, was vorher passierte und Du weißt auch nicht, welche Folgen sein Leben haben wird. Folgen für Dein Leben, sein eigenes, auf den Jungen, für die Frau … Also, warum es nicht hinnehmen, wie es ist?»
Es gab nichts, was ich ihm dazu hätte entgegnen können. Er lebte in Vollkommenheit aus, was ich wusste und leben wollte, aber nicht tat. Nichts war aus dem Geschehen der Welt zu entfernen. Selbst die fürchterlichsten Taten, bewirkten am Ende noch beides: Gutes und Schlechtes! Wir müssen es logisch ableiten und können es nicht sehen, weil wir ausschließlich den erfassbaren kleinen Bruchteil des Ganzen sehen.
Jemanden wie Surneval zu treffen, ist ein großes Glück. Aber mir wurde bewusst, dass es damit nicht getan war. Erst alles zusammen, der Ami, meine Reise, meine Bereitschaft, ihm zuzuhören, die Umstände, ergaben eine Lektion.
Noch am gleichen Abend saß ich mit Ibiza bei einem Bier auf dem kleinen Balkon unseres Zimmers.
«Du trägst eine Buddha Halskette?», fragte er mich und zeigte auf meine Brust. «Ist das Deko oder Überzeugung?»
«Lebenshaltung. Oder besser gesagt, der Wunsch danach.»
«Wie meinst Du das?»
«Ich bin nicht gläubig. Meiner Meinung nach ist das Leben zu Ende, wenn es zu Ende ist. Es wirkt sich auf später und jetzt in diesem Moment aus. Wir können nicht folgenlos leben. Davon ist im Buddhismus viel die Rede. Ich habe einiges Unverständliches gesehen. Ich bin auf Reisen gegangen, um zu verstehen.»
Ibiza starrte schweigend auf die Straße unter uns. Unten liefen zwei junge aufgetakelte Mädchen vorbei. Am Ende der Straße befanden sich einige Bars. Es war die Zeit, zu der sie zur Arbeit gingen. Dann schaute er mich wieder an.
«Verstehen? Verstehen ist gut!» Er nickte bedächtig. «Ich will auch verstehen. Was denkst Du über die Bars? Das sind doch alles Buddhisten. Warum lassen sie zu, dass sich ihre Kinder von alten Mistkerlen ficken lassen?»
Ich atmete tief durch. «Keine Ahnung. Vielleicht muss man die Frage anderes stellen.»
«Wie?»
«Warum ficken diese Dreckschweine kleine Mädchen und machen zu Hause auf nett? Die Mädchen müssen sich nichts vorwerfen, die Wichser schon! Die Folgen ihres Lebens wären nicht meins.»
Ibiza sah wieder nach unten. Dieses Mal, ohne hochzusehen, sagte er: «Folgen? Ich weiß nicht, ob mein Leben Folgen hat. Ich habe letztens mit Surneval darüber gesprochen, ob ich für ein paar Wochen in eins dieser Kloster gehe. Er meinte, weiter im Norden gäbe es eins, wo sie ein paar Worte Englisch sprechen.»
«War er dort?»
«Keine Ahnung. Er wusste es einfach.»
«Mach doch. Wenn Du nichts anderes zu tun hast. Schaden kann es nicht.»
«Ich weiß nicht …»
«Angst?»
«Angst? Nein! Unentschlossenheit!»
«Nachvollziehbar! Mich hat ein Mönch in Laos angesprochen. Er bot mir an, ein paar Monate im Kloster zu bleiben.»
Ich hielt ihm meine Bierdose zum Anstoßen hin. Und fuhr fort:«Es fühlt sich irgendwie fremd an. Ich sage mal, wie eine Verschwendung von Lebenszeit. Meiner Erfahrung nach ist es nicht gut, sich zu sehr mit sich selbst zu beschäftigen.»
«Das klingt nach Angst …», stellte Ibiza messerscharf fest.
Ich seufzte. «Wahrscheinlich liegst Du damit gar nicht falsch. Weiß Du, ich glaube etwas erkannt zu haben. Ich habe immer eine Rolle in einem Film gespielt. Dabei dachte ich, im Film eines fremden Regisseurs gelandet zu sein, der mir eine Rolle zugewiesen hat. Die Annahme war verkehrt.»
«Inwiefern?»
«Ich war selbst der Regisseur und die Rolle habe ich mir selbst gegeben. Genauso, wie ich mir jetzt die Rolle des Reisenden gegeben habe.»
Unbemerkt hatte sich Surneval hinter uns gestellt. «Wahre Worte mein Freund. Ist in Deinem Film noch eine Rolle für eine gut aussehende Türkin frei?»
Überrascht drehten wir uns um. «Was für eine Türkin?», fragte Ibiza.
«Ich habe gerade unten gesehen, wie eine eingecheckt hat. Ihr solltet ein wenig Platz schaffen und aufräumen. Bei uns sieht es aus, wie in der Umkleidekabine einer Rugby Mannschaft und es riecht auch wenig danach.»
Ibiza und ich führten das Gespräch nie fort. Er sprach noch ein paar Male, von seinem Plan in die Berge des Nordens zu gehen. Dabei erwähnte er mehrfach, dass es dort vermutlich ziemlich kalt wäre. Ich hatte im Rucksack noch lange Unterwäsche aus meiner Zeit in der Mongolei.
Eine Woche nach dem Gespräch zog es mich weiter. Lange Abschiede sind unter Travellern nicht üblich. Ich machte mich in aller Frühe auf den Weg zum Busbahnhof. Surneval wurde kurz wach. Ich gab ihm die Hand und schulterte den Rucksack. Bevor ich ging, bat ich ihn, die Unterwäsche an Ibiza zu geben. Ob er tatsächlich in dieses Kloster ging, habe ich nie erfahren. Aber in meinem Film gefällt mir die Vorstellung.
Am Busbahnhof hatte sich am Counter eine lange Schlange gebildet. Nach einem für mich nicht durchschaubaren System, durften sich manche vordrängeln und andere nicht. Ich gab den zurückhaltenden Deutschen. Dies hatte den Nachteil, dass sie mich immer weiter nach hinten schoben. Doch ich hatte Glück und bekam die letzte Fahrkarte für einen Bus, der mich noch weiter in Richtung Norden bringen sollte.
Ein älterer Bayer, der sich in Chiang Mai ein Haus gekauft hatte, empfahl mir die anstehende Route. «Wenn Du Zeit hast, fahr in den Norden und dann mit dem Boot nach Chiang Rai. Du bekommst mehr zu sehen und musst nicht die komplette Strecke mit dem Bus fahren.»
Während der Fahrt stellte ich schnell fest, dass Fahrkarten einzig eine Bedeutung für einen Sitzplatz haben. Selbst wenn man keinen mehr bekommt, ist einem die Mitfahrt sicher. Nach Möglichkeit ließen sie deshalb vermutlich bestimmte Leute nach vorn. Der Fahrer hielt mehrfach auf offener Strecke, um neue Fahrgäste einzuladen. Meine Bank teilte ich mir mit einer Dicken, die ein Kleinkind auf dem Schoss hatte. Für mich blieb wenig Platz.
Erst haderte ich damit. Doch dann entdeckte ich unter den im Mittelgang stehenden Mitfahrern diverse alte Gebrechliche und mehrere schwangere junge Frauen. Wieder fielen mir Surnevals Worte ein. Nach einer halben Stunde gab ich meinen Platz an einen alten Mann weiter und musste die restlichen vier Stunden stehen.
Busfahrten mit den regulären Linien haben für aus fernen Ländern kommende Besucher in Asien eine besondere Komponente. Außer den Zahlen auf den Bussen kann man nichts entziffern. Es läuft auf den Vergleich von zwei Bildern hinaus. Eins in der Hand und das andere auf der Anzeige. Steht man unter Zeitdruck, kommt man dabei ordentlich ins Schwitzen. Im Bus wird es nicht besser. Die Sorge, nicht im richtigen Bus mitzufahren, schwingt immer mit. Und dann gilt es auch noch, die richtige Station zu erwischen.
Nach einer Woche hatte ich den Bogen heraus. In der ersten Stunde verfolgte ich die Strecke auf meinem Telefon. Gleich am Anfang der Fahrt macht das keinen Sinn. Die Busse fahren wild hin und her, und biegen aus Gefälligkeit schon mal ab. Davon darf man sich nicht beirren lassen. Im Grundsatz gilt: «Es gibt keine Regeln, alles ist der Zweckmäßigkeit untergeordnet.»
Warum sollte man am Strassenrand nicht halten und neue Fahrgäste einsammeln? Nur, weil da keine Haltstelle ist? Es spricht auch nichts dagegen, ein Werbeschild auf dem Dach festzubinden, wenn Platz vorhanden ist. Alles was transportierbar ist, wird auch transportiert.
Mit dieser Erfahrung im Rücken sehe ich deutsche Fernbusbahnhöfe mit anderen Augen.

Die Reisenden aus arabischen und asiatischen Ländern haben teilweise mein Problem. Ihre Schriftzeichen passen nicht. Deshalb stehen sie mit erhobenen Fahrkarten da und vergleichen die Bilder. Bereits mehrfach bemerkte ich in Deutschland die Unruhe von Mitreisenden, wenn sie sich nicht sicher waren, im richtigen Bus gelandet zu sein. Für die ist unsere Vorstellung von einem organisierten geregelten Busverkehr die Hölle. Es gibt einen wesentlichen Unterschied zwischen Asien und Deutschland. Dort haben alle Verständnis dafür. Weniger, weil man ein Ausländer ohne Sprachkenntnisse ist, sondern weil die Analphabeten Rate deutlich höher ist. Lesen und schreiben zu können, ist bei uns die Regel. Über Analphabeten denken wir selten nach.
Einen anderen Effekt kann man auf den längeren Strecken beobachten. Wenn Du weder die Sprache, noch die Schriftzeichen beherrschst, wird es schwierig mit den Fahrtunterbrechungen. «Pause oder Ankunft?», lautet die Frage. Es bleibt einem nichts anderes übrig, als verstohlen das Verhalten der anderen Fahrgäste zu beobachten. In Deutschland kann man auf die Art schnell in den Verdacht geraten, ein Taschendieb zu sein. Alles nicht so einfach.
Ich habe mich darüber mal mit einem Palästinenser unterhalten. Der kam aus dem Lachen nicht mehr heraus. «Du bist der erste, der mir genau meine ersten Tage in Deutschland erzählt. Genau so war es.»
Surneval hat mir in den Gesprächen viel Verständnis vermittelt. Erdenbürger und Mensch! Er brachte mir bei, mal wieder alles aus einer menschlichen Perspektive zu sehen. Gehe in den anderen Menschen hinein.
Höre auf, immer Deine kulturellen Voraussetzungen und Regeln als das Nonplusultra zu verstehen. Regeln haben einen Sinn. Sie sind eine Möglichkeit von vielen, das Miteinander vereinfachen. Es gibt also ein Ziel: Das Miteinander! Komme ich aus den unterschiedlichsten Gründen mit den Regeln nicht weiter, bleibt immer noch das gemeinsame Ziel über. Stehen die Regeln dem Ziel entgegen, sind sie entweder gänzlich falsch oder für den Moment nicht anwendbar. Die Regel, dass Regeln immer einzuhalten sind, ist schlicht ein Schuss am Ziel vorbei.
Ob einer bei unserem Zusammentreffen meine Sprache spricht, Lesen und Schreiben kann, ich seine Regeln kenne oder er meine, ist ziemlich egal. Entscheidend ist, unter welchen konkreten Umständen wir zusammenkommen, welche Rolle jeder gerade hat und welchen Vorteil ich daraus ziehe. Und Letzteres, kann niemand voraussehen. Ich helfe dem Typen an der Haltestelle. Der begreift, wie ich, die Problematik und erkennt das Deutsche sich darüber auch Gedanken machen. Dies berichtet er seinem Bruder in Hurghada, der dort als Busfahrer arbeitet. Zwei Jahre später stehe ich dort und er hilft mir.
Während der vier Stunden Fahrt dachte ich nochmals an die Zeit mit Surneval und Ibiza zurück. Bei einem unserer Balkongespräche fragte mich Ibiza: «Du scheinst auf Deutschland nicht sonderlich gut zu sprechen zu sein. Warum? Was ist falsch daran, ein Deutscher zu sein? Ich bin, egal wo ich bin, am Ende immer ein Spanier.»
«Es ist nichts falsch daran, Deutscher zu sein. Es ist falsch, die Herkunft als etwas Besonderes zu betrachten. Wenn Du so herangehst, reduzierst Du Dich auf Deine nationale Zugehörigkeit. Dabei bist Du viel mehr. Du bist Spanier! OK! Surneval ist Australier, auch OK! Von allem ist es das Kleinste, was wir sind. Verstehst Du, was ich meine? Ob bei Euch in Spanien, oder bei mir in Deutschland, in jedem dritten Satz bringen sie ihre Nation unter. Was für ein Bullshit! Sie sollten lieber erst einmal ihre menschliche Haltung beschreiben und verstehen. Ihr hattet Franco, wir hatten diesen anderen Idioten.»
Ibiza nickte. «So was Ähnliches hat Surneval auch gesagt. Franco ist ein guter Hinweis. Meine Eltern sind Katalanen. Diesem Arsch haben wir nichts hinterher zu weinen. Und dennoch gibt es welche, die ihm hinterher trauern.»
«Hattest Du mal was mit den Hippies zu tun?», fragte ich.
Ibiza lachte verschmitzt. «Die soll es mal gegeben haben. Wahrscheinlich gibt es sie immer noch. Aber nicht da, wo ich immer war. Unterwegs habe ich einige richtige Hippies kennengelernt. Weißt Du … Typen, die sich mit der Kreditkarte weiße Leinenklamotten und eine bunte Holzkette kaufen, sind für mich keine Hippies. In Kastilien sagt man, eine Affe in Seide ist immer noch ein Affe. Früher muss richtig was los gewesen sein, aber heute ist das vorbei. Fahr doch mal hin und schau es Dir an, vielleicht findest Du welche. Aber wahrscheinlich bist Du auf Gomera besser aufgehoben.»
Unsere Unterhaltung wurde von dem mal wieder laut vor der Tür herum pöbelnden Ami unterbrochen. Ibiza lachte wieder und hielt mir ein Bier entgegen.
«Aber mein Freund, in einem sind wir uns einig, oder?»
«Was?»
«Wir können die Amis nicht leiden!»
Ich grinste. «Stimmt! Die haben ein Ding an der Waffel. Aber wer sollte es besser wissen, wie wir? Immerhin sind wir ihre Vorfahren.»
«Yeap, dass ist das Problem.»

Ohne dass er es wusste, gab mir Surneval noch eine andere Denksportaufgabe. Er kannte sich in Chiang Mai ganz gut aus. Einer seiner Empfehlungen folgend, landete ich eines Abends in einem der größten Tempel von Chiang Mai. Im Zentrum befindet sich eine riesige Stupa, die geschickt ausgeleuchtet ist. Egal, wie man gestrickt ist, der spirituellen Wirkung kann sich niemand entziehen. An allen vier Seiten befinden sich am Fuss der Stupa goldene Buddha Figuren, von denen aus Treppen zur Spitze führen. Oben befinden sich in Nischen weitere angestrahlte Figuren. Der Besucher kommt nicht am Eindruck eines Aufstiegs zu einer höheren Erleuchtung vorbei. Mich traf der Buddhismus an diesem Platz mit voller Wucht. Bis heute ist mir bewusst, dass ich von dieser Philosophie maximal einen Bruchteil verstanden habe. Aber wenn es nur der Umstand war, über mich selbst hinaus zu denken und mich als einen unersetzlichen nicht wegzudenkenden Teil des Gesamtgeschehen zu verstehen, hatte dieser Besuch einen unschätzbaren Wert.

Ich setzte mich vor die Stupa und beobachtete die im Laufen meditierenden Mönche. Mir kam dabei die Erkenntnis, dass es vollkommen egal war, was ich tat. Immer hatte es eine Folge, die ich nicht voraussehen konnte. Bestimmte Handlungen, konnten mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit etwas bewirken, doch eine Konsequenz zu vermeiden, ist nicht möglich. Ich begriff, dass diese Egalität nicht in einer Trübseligkeit mündete, sondern Glück bedeutete und eine Maxime des Handelns darstellte. Jede Aktion wird zum Wunsch, wie die Welt aussehen soll. Verprügle ich einen, erzeuge ich eine, in der dies eine Option ist. Helfe ich, will ich eine haben, in der dies dazu gehört. Hasse ich, lebe ich einer, in der ich auch gehasst werde.
Als ich nach dem Besuch des Tempels wieder auf Surneval traf, freute er sich darüber, dass ich seinem Rat gefolgt war, mir die Anlage beleuchtet anzusehen. Ich sagte zu ihm: «Ich glaube, ich habe ein verstanden, warum Du mich dahin geschickt hast. Danke.» Auch daran dachte ich während der Busfahrt. Im Grunde genommen, begann mit Surneval meine Reise. Davor fuhr ich zu einer Startlinie, an dem sie beginnen konnte. Ich weiß, dass diese Haltung nicht jedermanns Sache ist. Meine war es vor Chiang Mai auch nicht. Ganz im Gegenteil. Heute noch, während ich dies hier alles aufschreibe, sind mir zu empfindame Menschen zu wider. Was da damals passierte, ist schwer auszudrücken. Vielleicht kann ich es mit einer Wohnung beschreiben, die man neu bezieht. Was nimmt man aus der Alten an Mobiliar mit und was gehört auf die Müllkippe? Ohne Umzug tut man sich in der Regel schwer damit, Sachen auszusortieren. Eine neue leere Wohnung, anders geschnitten, kleiner oder größer, schafft Fakten, die einen zwingen. Die neuen Möbel, Tapeten, Farben, spiegeln den Lebensabschnitt, in dem man sich befindet und wie man künftig weiterleben will.
Ich denke in Chiang Mai kam ich mit einem großen LKW voller alter Sachen an. Nur um festzustellen, dass dieser alte Schrott nicht mehr zu meinem Leben passte. Wir alle haben unsere Selbstverständlichkeiten im Kopf. Vorgaben, über die wir uns keine Gednaken machen. Es sei denn, derjenige ist ein kreativer experimenteller Innenausstatter. Aber der größte Teil steht kopfschüttelnd vor diesen Einrichtungen und fragt sich, was das soll. Vieles ist auch den Umständen geschuldet. In warmen Ländern wird weniger Augenmerk auf die Inneneinrichtung gelegt. In kälteren Gefilden steigt das Bedürfnis, sich innen gemütlich einzurichten. Warum auch immer … plötzlich war nichts mehr selbstverständlich.
Doch erst einmal landete ich in einem kleinen hässlichen Nest, in dem ich die Weiterfahrt organisieren musste.
