Langkawi

Eigentlich hatte ich niemals vor gehabt nach Malaysia zu reisen. Warum, kann ich im Nachhinein nicht mehr sagen. Meine thailändische Aufenthaltsgenehmigung war abgelaufen und ich musste mir das nächste Land für meinen Südostasientrip suchen. Vietnam? Kambodscha? Oder eben nach Malaysia. Ich befand mich zu dieser Zeit auf den Inseln im Süden. Bis nach Langkawi braucht man von dort aus, je nach Reiseweg, nur wenige Stunden. Warum also nicht mal nach Malaysia?
Am Fährterminal sammelten sich wenige Touristen. Die restlichen wartenden Fahrgäste waren Einheimische. Ein Spanier wirkte ein wenig aufgeregt. Er hatte sich einen Tag zu lange in Thailand aufgehalten und befand sich in der Sorge, dass ihm die Beamten Probleme machen würden. Aber er bekam seinen Ausreisestempel genauso unkompliziert, wie alle anderen. Malaysia spielt wirtschaftlich in einer anderen Liga, als Thailand. Während im Nachbarland die Fähren einen rustikalen Charme haben, verkehren dort ziemliche Pötte, die innen wie Flugzeuge aussehen. Während der Überfahrt bekommt der Reisende sogar einen Film zu sehen. Einen merkwürdigen Horror – Comedy Streifen, aber immerhin. Zumal der nicht untertitelt war und somit noch komischer wirkte.
In der Schlange vor der Einreisekontrolle, stand wieder der besorgte Spanier neben mir. Ich schätzte ihn auf Dreissig. Schütteres Haar, Vollbart, und die übliche Backpackerausrüstung, ergänzt mit einer Ukulele. Damals wusste ich noch nicht, was das ist. Vor Thailand war er in Kambodscha und Vietnam unterwegs.
«Hast Du schon eine Unterkunft?», fragte ich.
«Ja, die Jungs in Chiang Rai haben mir ein Hostel empfohlen. Mit einem «Social Space», da lege ich immer wert drauf.»
«Ich auch! Hast Du etwas dagegen, wenn ich mich Dir anschließe?»
«Nein, gar nicht. Ich heiße Havier.»
«Andreas!»
«Bist Du schon lange unterwegs?», wollte er wissen.
«Transsib, Mongolei, Thailand, Laos, Thailand, jetzt hier …»
«Netter Trip. Mongolei kenne ich noch nicht.»
«Teuer! Verdammt teuer, wenn Du etwas unternehmen willst.»
«Dann ist es nichts für mich!»
Was er damit meinte, sollte ich in den nächsten zwei Wochen erfahren. Havier hatte die Eigenart etwas nicht zu teuer zu finden, sondern es war ihm nicht günstig genug. In jedem dritten Satz verwendete er das Englische «Cheap!». Nach drei Tagen hatte er bei mir seinen Spitznamen weg: «CheapCheap, der Katalane!» Das Spiel begann bereits hinter der Kontrolle. Fast eine halbe Stunde lang, suchte er nach der günstigsten Möglichkeit, um zum Cenang Beach zu kommen. Bei 35 Grad im Schatten eine sportliche Leistung. Zusammen mit uns waren um die 50 junge uniformierte Polizistinnen angekommen, die von offiziellen Reisebussen erwartet wurden. Selbst da versuchte er es.
Ich verlor die Nerven und bot ihm an, die Kosten für das Taxi zu übernehmen. Umgerechnet sechs Euro für eine Stunde Fahrt.
Der Fahrer warf uns an der Hauptstraße heraus. CheapCheap hatte nicht wirklich einen Plan. Doch nach einigen Minuten hatten wir uns orientiert und erreichten das «Gecko». Das Hostel besteht aus einem Wirtschaftsgebäude, welches zusammen mit einigen Bungalows und Flachbauten, in denen sich Dormitory befinden, eine Art Atrium bildet. Dies ist mit einem Blechdach überdacht, welches von einem riesigen Mango Baum überdacht ist.
Nahezu jeder Neuankömmling wird mit einer herunterfallenden Mangofrucht begrüsst, die mit einem lauten Knall auf dem Dach einschlägt. Die an den massiven Holztischen sitzenden Backpacker brüllen dann zur Begrüßung: «Mango Attack!» Das gefiel mir. Auch wenn ich einen gehörigen Schreck bekam. Etwas im Dunklen liegt der Tresen, welcher zum Wirtschaftsgebäude gehört. Dort begrüßte uns Roy. Ein fast schwarzer Malaie in meinem Alter. CheapCheap hatte im Gegensatz zu mir eine Reservierung. Doch im «Gecko» bekommen Backpacker fast immer einen Platz. Ich zog mit CheapCheap für zwei Nächte in ein zehner Dormitory. Rebecca, die Besitzerin, muss viele schlechte Erfahrungen mit den Billig – Backpackern gemacht haben. Alle Matratzen sind dort mit einer knisternden Plastikfolie überzogen. Es ist leicht vorstellbar, welche Geräuschkulisse sich daraus nachts entwickelt. Hinzu kamen zwei Holländerinnen, welche die Klimaanlage mit dem Thermostat eines Kühlhauses verwechselten. Ich war seit Monaten bei weit über 30 Grad, davon mehrere Tage teilweise im Dschungel unterwegs. Die eingestellten 15 Grad ließen mich fast erfrieren.

Ich handelte mit Rebecca einen guten Preis für einen Bungalow aus. Um die Kosten zu senken, bot ich CheapCheap an, sich den Bungalow mit mir zu teilen. Es kam, wie es kommen musste. Er handelte mich auf den Preis eines Bettes im Dormitory herunter.
Doch seine Empfehlungen trafen zu. Im «Gecko» sammelte sich eine bunte Mischung aus jungen Backpackern und älteren Travellers. Außerdem war es in dieser Zeit die angesagteste Kneipe der Umgebung, in der sich neben den umliegenden Hostel Betreibern, nachts die Beach Boys vom Strand sammelten.
Tagsüber trieb ich mich am Strand herum, schaute den Leuten zu und sammelte Geschichten. Nach Sonnenuntergang kehrte ich ins «Gecko» zurück, trank mit den unterschiedlichsten Leuten ein paar Bier, zog wieder zum Strand zurück, um mich dort mit den Gästen einer Beachbar zu beschäftigen.
Da war dieses seltsame Paar. Sie trug eine Burka und ihr junger Begleiter, ein arabisch wirkender Mann um die Mitte zwanzig, trug die klassischen Strandklamotten. Die beiden mieteten sich einen Jetski. Zu meiner Verwunderung setzte sie sich an den Lenker und er auf den Sozius. Die Show ließ ich mir nicht entgehen. Mit wehender Burka schossen sie durch das aufspritzende Wasser.
Wieder zurück am Verleih, bedankte sich der junge Mann überschwänglich bei allen. Ich hatte mich zu den Beach Boys gesetzt, welche die Jetskis warteten.
«Hallo, mein Name ist Athony, ich komme aus Kanada. Und sie?»
«Deutschland!»
«Oh, Deutschland. Ein schönes Land. Ich war bereits geschäftlich dort.»
Ich glaube, er sah meinen skeptischen Blick. Ohne dass ich eine Frage gestellt hatte, legte er los.
«Sie wundern sich bestimmt über meine Mutter. Wir machen hier zusammen Urlaub. Fantastisch, oder? Ich respektiere ihre Lebensart und sie endlich meine. Ich bin so glücklich.»
Meine Verblüffung war groß. Mutter? Mit allem hatte ich gerechnet, aber nicht damit. Nachdem sie gezahlt hatte, kam sie zu uns und gab mir ebenfalls die Hand. Gesagt hat sie nichts. Die Beach Boys, die als Muslime einiges gewohnt waren, staunten ebenfalls.
Erwähnenswert ist auch «JJ», der eigentlich Ibrahim, Mustafa, Ali und noch ein paar andere Vornamen hatte. Ein ehemaliger thailändischer Rockmusiker, den es nach Malaysia verschlagen hatte. Er war der Besitzer der Beach Bar. An meinem ersten Abend fing er ein Gespräch mit mir an. Nichts Besonderes, es war einfach seine Art, Neuankömmlinge zu begrüßen. Ich blieb bis ins Morgengrauen. Als ich mich anschickte zu gehen, stellte er mir einen letzten Drink hin und griff nach seiner Gitarre. Er spielte «Father and Son» in einer Interpretation, die ich noch nie zuvor vernommen hatte. Es war eine Mischung zwischen Schmerz, Wehmut, Theatralik und die Entschlossenheit des Sohnes, dass alles richtig war.
Obwohl seine langen Haare schon ergraut waren, spiegelte er den Sohn, welcher einst von zu Hause ging.
An einem anderen Abend traf ich im «Gecko» Cynthia und Donald aus England. Beide waren weit über die Siebzig. Ich glaube, es gibt wenige Flecken auf der Erde, wo die beiden noch nicht waren. Zusammen mit einigen Jüngeren unterhielten wir uns über berühmte Konzerte, die wir erleben durften. Einer versuchte, den anderen zu überbieten. Plötzlich sagte Cynthia ungerührt: «War jemand von Euch in Woodstock?»
Alle schauten sie an. Donald zuckte mit den Schultern.
«Damit gibt sie immer an. Da können nicht einmal Paul und ich mithalten.»
Ein mit am Tisch sitzender Ire schaltete zuerst. «Redest Du von dem Paul?»
Cynthia lächelte und nahm Donald in den Arm. «Damit gibt er immer an.»
In einem anderen Gespräch regten sich beiden darüber auf, dass Großbritannien der größte Exporteur für medizinisches Marihuana ist, während die Zucht in ihrem Gewächshaus illegal wäre. Ich hakte nach und es stellte sich heraus, dass die beiden eine komplette mittlere Stadt in Mittelengland versorgten.

Es war die Zeit vor Weihnachten. Obwohl niemand wirklich der Sinn danach stand, machte sich eine leicht melancholische Stimmung breit. Dagegen hatte Gerrit, ein exaltiert auftretender Ire, ein Rezept. Er schlug CheapCheap, einem Österreicher, einer Frau aus Indonesien, einer Niederländerin und mir eine Challenge vor. 12 unterschiedliche Drinks in 12 Stunden bis Mitternacht. Wir starteten mittags mit Rotwein. Um Eins folgte der Weißwein. Zu zwei Uhr gab es Bier. Gegen drei und vier Uhr, Wodka und Gin in Cocktails. Zu fünf Uhr ging es in Richtung Strand, wo wir einen Cognac auftrieben. Später im Wasser köpften wir um sechs Uhr eine Flasche Sekt. Ab da wurde es kompliziert. Langkawi ist eine weltoffene Insel, aber trotzdem gibt es eine Menge muslimisch geprägte Läden, in denen es keinen Alkohol zu kaufen gibt. Glücklicherweise ist die Insel ein Zollfreigebiet mit entsprechenden Läden. Ich kaufte eine Flasche Glenmorangie für sieben Uhr und der Österreicher trieb für acht Uhr einen Brandy auf. Blieben noch drei Drinks offen. Die Holländerin fand bei einem Ägypter eine Flasche Raki und CheapCheap stürzte sich ausnahmsweise mit einer Flasche Rum in Unkosten. Beim letzten Getränk überlegten wir lange. Am Ende kam mir die rettende Idee. «JJ» hortete den «German Drink», einen Jägermeister. Mission erfüllt!
Gerrit meinte zu mir: «Ich kann Weihnachten genau so wenig leiden wie Du. Aber wenn Du es als Party nimmst, bei der alle friedlich zusammen Spaß haben, funktioniert es.» Ich beschloss, mir dies zu merken.
CheapCheap zog weiter in Richtung Borneo. Gerrit reiste nach Indonesien und der Österreicher ging nach Kambodscha. Für mich war es an der Zeit, einige Wochen an einem Platz zu bleiben. Ich verspürte das Bedürfnis, das Erlebte der aus den Monaten zuvor zu verarbeiten. Mir bringt es nichts, wenn ich vor den Bildern vorn wegrenne und sie mich nicht einholen können. Nachdem alle weg waren wurde es kurzfristig ein wenig ruhiger.
Bis John, Fernando und Issa auftauchten. John, Straßenmusiker und ehemaliger Dealer aus Südfrankreich, war der erste.
Sein Ruf eilte ihm voraus. Seit Jahren pendelte er zwischen allen Ländern Südostasiens hin und her. Mal eröffnete er eine Bar, dann verschwand er eine Weile, tauchte wieder auf, musizierte am Strand und alles begann wieder von vorn. Anfangs verstanden wir uns gut miteinander. Wir redeten viel über alte Rockmusik und das Leben. Er erzählte mir, dass er sich beim jahrelangen Spielen die Fingerkuppen kaputtgemacht hatte und deshalb auf der Gitarre nur noch mit Nylon Saiten spielen könne, weshalb er Rockmusik nicht mehr spielte. Für unterwegs hatte er nur noch eine kleine Reisegitarre dabei. Auch wenn ihn alle anderen Musiker schätzten, wirkte er mit dem Ding ein wenig traurig.
Beide waren wir Väter und hatten vieles falsch gemacht. Das verband uns. Doch während ich noch im letzten Moment die Kurve bekommen hatte, lag sein letzter Kontakt mit der Tochter Jahre zurück.
«Ihre Mutter hat dafür gesorgt. Die hat ihr immer erzählt, dass ich nicht für sie gezahlt habe. Da habe ich ihr eines Tages alle Quittungen zugesandt. Aber da war es schon zu spät.», murmelte er grimmig. «Dann lebte sie lange in meinem Haus. Ich wollte sie besuchen. Doch sie hat mich wieder ausgeladen. Verstehst Du … mich aus meinem eigenen Haus ausgeladen.» Er schickte dem Satz einen Fluch hinterher.
«Du hast Dein Leben gelebt. Ich weiß nicht, wie das immer alles funktionieren soll. Ich meine, dieses Eltern leben aufopferungsvoll für ihre Kinder, war doch auch nicht immer so. Oder?», sprach ich vor mich hin, ohne eine Antwort bekommen zu wollen.
«Meinen Alten habe ich jedenfalls nicht interessiert!», stellte John fest. Es klang wie ein Vorwurf an seine eigene Tochter, die seine Gedanken an sie nicht zu schätzen wusste.
«Meine Zeit ist abgelaufen. Die paar Jahre brauche ich keine Spielereien mehr.»
«Wie meinst Du das?»
«Ich habe Leberkrebs. Der Suff … als ich obdachlos war, hat mir die Leber weggefressen. Viel geben sie mir nicht mehr.»
«Prognose?»
«Keine Ahnung! Vielleicht drei oder fünf Jahre.»
«We are Dust in the Wind …»
«Ja, so sieht’s aus!»
Fernando, ein quirliger dreißigjähriger Kerl aus Uruguay, war eines Abends einfach da. John und er schienen sich bereits eine Weile zu kennen. Ich kam vom Strand und traf die beiden an einem der Holztische im hinteren Teil der Überdachung. Kurz nach mir gesellte sich noch ein lokaler Musiker, auch ein Gitarrist, zu uns. Sie unterhielten sich über Auftrittsmöglichkeiten.
Da ich selbst kein Instrument spielte, beobachtete ich die drei Musiker. So lange sie zusammen spielten, herrschte Harmonie unter ihnen. Fernando spielte zunächst auf einer Blasharmonika, die ein wenig wie ein Kinderspielzeug aus sah. Ich verließ die drei, um mir am Tresen ein Getränk zu holen. Dort traf ich Issa, einen Marokkaner, den ich zwei Tage zuvor kennengelernt hatte.
Seine Eltern hatten für ihn die Übernahme ihres Immobiliengeschäfts vorgesehen. Er hingegen wollte Physiker werden. Um weiteren Diskussionen zu entkommen, hatte er sich auf Reisen begeben. Bei unserem zweiten Gespräch, erzählte er von seiner Begeisterung für Sprachen, Philosophie und eben die Physik.
«Ich bin ein Fan der deutschen Physiker und Philosophen. Die kann ich nur im Original verstehen, deshalb versuche ich, Deutsch zu lernen. Aber Eure Sprache ist so verdammt schwierig …», sagte er.
«Na ja … Du gehst auch hoch ran. Die Jungs, welche Du lesen willst, sind nicht gerade Deutsch für Anfänger. Ich kenne eine Menge Deutsche, die deren Sprache nicht mehr verstehen. Unsere Sprache hat in den letzten Jahren arg gelitten.»
«Aber ihr habt immer noch den Aufbau der Sprache.»
«Wie meinst Du das?»
«Schau Dir arabisch an. Eine wunderschöne Sprache, und doch vollkommen ungeeignet für die moderne Zeit. Wir haben den gesprochenen Dialekt und eine Schriftsprache, die an den Koran gebunden ist. Neues kannst Du kaum übernehmen und musst es irgendwie umschreiben. Für Naturwissenschaften ist das völlig unbrauchbar. Unsere Wissenschaftler sind gezwungen auf andere Sprachen auszuweichen.»
«Ach?» Ich war überrascht. Davon hatte ich zuvor niemals etwas gehört.
«Wollen wir bestehen, müssen wir andere Sprachen zusätzlich sprechen. Anders geht es gar nicht.»
Als ich ihn am Tresen traf, diskutierte der Barmann Roy mit einem französischen Sozialarbeiter aus den Banlieues in Marseille. Die beiden verband eine Art Hassliebe. Der Franzose betrank sich fast jeden Abend und Roy tat es ihm gleich, aber nahm zusätzlich andere Drogen. Was er genau nahm, wusste ich nicht. Doch der Cocktail bekam ihm nicht und zu vorgerückter Stunde wurde er gefährlich.
Der Sozialarbeiter ging bei jungen Frauen regelmäßig auf Kuschelkurs. Backpackerinnen sind selbstbewusst und können sehr gut Grenzen setzen, insofern hätte es keinerlei Einmischung bedurft. Roy, mit seiner muslimischen Religion, die ihm eine besondere Achtung vor der Integrität der Frauen gebot, der ihm übertragenen Rolle und seinem männlichen betrunkenen Ego, war das alles zuviel.
Nahezu alle Asiaten, die ich kenne, haben einen Kipppunkt. Sie sind friedlich, zuvorkommend, freundlich, hilfsbereit und ruhig, aber es gibt nur eine kurze Vorwarnung, wenn sie doch mal explodieren. Dann wird es in der Regel heftig. Die Schwelle ist in vielen Bereichen recht hoch. Außer es geht um die persönliche Ehre. Wird die verletzt, lässt der Ärger nicht lange auf sich warten. Und Europäer haben ein ausgesprochenes Talent dafür, die Ehre zu verletzen. Die bei uns vorherrschende direkte Kommunikation, ist in Asien nicht angesagt. Wie immer hat alles seine Vor – und Nachteile.
Wer ohne Stress durch Asien kommen will, sollte sich auf jeden Fall darauf einstellen. Ich habe mir dort bei Kritik die Formel angewöhnt: «Ich bin es anders gewohnt. Ist es möglich, dies nach meinen Wünschen zu regeln?» Klappt fast immer. Fast! Allerdings fragte ich in Südostasien irgendwann niemanden mehr nach dem Weg. Die können einfach nicht zugeben, dass sie auch keine Ahnung haben, und schicken einen in die Wüste.
Die Diskussion am Tresen schien keinen guten Verlauf zu nehmen. Deshalb schlug ich Issa vor, mich zum Tisch der Musiker zu begleiten. Freudig nahm er mein Angebot an. Zu meiner Überraschung spielte er Gitarre. Nicht mal eben einfach ein wenig Gezupfe, sondern nahezu virtuos. Besonders Fernando bekam sich vor Begeisterung gar nicht ein. Auch er hatte noch ein kleines Geheimnis. Nämlich ein Reise – Saxofon, sein eigentliches Instrument. Der Abend entwickelte sich zu einer Jam Session. Vor allem freute mich die Wandlung Issas. Seine Augen leuchteten vor Freude. Für ihn war ein Traum in Erfüllung gegangen. Fern der Heimat mit coolen Musiker abhängen, Bier trinken und den einengenden Traditionen entkommen.
Am Ende lud Fernando für den nächsten Abend zu einem Auftritt in einem Fünfsternehotel ein, bei dem eine südamerikanische Musikergruppe spielte. Den anwesenden finanzkräftigen Gästen boten sich an diesem Abend zwei Showveranstaltungen. Die Musiker aus Südamerika und vier abgerissen aussehende Traveller.
Obwohl mein Budget nicht komfortabel war, machte es mich im Verhältnis zu den anderen zu einem reichen Mann. Ich ließ es mir nicht nehmen, uns eine Flasche Rotwein kommen zu lassen. Den anwesenden reichen Schnöseln sollte ihre Arroganz im Hals stecken bleiben. Als die Musiker Fernando zu sich riefen und ihn als berühmten Virtuosen auf dem Saxofon ankündigten, war unser Auftritt perfekt.
Auf einer Terrasse kam ich mit einem niederländischen Ehepaar ins Gespräch. Er war mit einem Fischhandel zu Geld gekommen und sie gab ihm den passenden Rahmen.
«Darf ich fragen, was hier ein Zimmer kostet?», fragte ich den Niederländer.
«300 EUR die Nacht!»
«Wow, mit Blick auf das Meer und Hotelstrand?»
«Der Strand ist ein wenig weg und für Meerblick zahlt man mehr. Wo sind sie untergekommen?»
«12 EUR in einem Bungalow, wenige Meter vom Meer entfernt!», antwortete ich betont gelassen.
Hieraufhin zog die Frau an seinem Arm. «Schatz, komm, lass uns noch ein wenig die Nacht auf unserem Balkon genießen.»
John, der wenige Meter entfernt stand, grinste über das gesamte Gesicht.
«Was hat man von all seinem Geld, wenn man nicht das Leben führt, was man führen möchte?»
«Wer weiß … vielleicht ist das hier seine Erfüllung. Ich finde, wir sollten uns unterwegs noch eine Flasche Wein besorgen und sie am Strand bei einem Lagerfeuer killen.»
«Aber ohne Frauen!»
«Selbstverständlich ohne Frauen!», antwortete ich lachend.
Leider zerstritten sich die Musiker nach einigen Tagen. Fernando bekam seine Allüren nicht unter Kontrolle und John tat, was nahezu alle Krebskranken machen, wenn sie das Ende vor Augen haben. Er begann abzurechnen. Aus den Ergebnissen entwickelte er ein Sendungsbewusstsein. Der jüngere Fernando wollte von diesen Ratschlägen nichts hören, woraufhin er sich zurückzog.
Mir ging es nicht viel anders. Ich sagte zu John: «Sieh es mal so. Wenn Du die Antworten auf alle Fragen gefunden hast, sollte um Dich herum ein wundersamer Schein strahlen und unter Deinen Füßen würden Blumen wachsen. Nicht der Fall! Demnach hast Du Antworten auf Deine Fragen gefunden, aber nicht auf meine!»
John konnte dies nicht akzeptieren. Er bat mich darum, ihn in Ruhe zu lassen. Er war nicht der erste Todkranke, dem ich begegnet bin. Aus ihrem Verhalten habe ich meine eigenen Schlüsse gezogen. Am Ende abzurechnen ist zum einen ein Fehler, weil alles Vergangene ohnehin nicht abänderbar ist, zum anderen sollte man sich lieber allem stellen, so lange es noch einen Sinn ergibt. Dazu gehört auch ein regelmäßiger Kassensturz, wofür die Lebenszeit ausgegeben wird.
Darin bestätigte mich ein Ereignis, welches in die Zeit fiel, in der wir noch gemeinsam am Strand durch die Bars zogen, um den dort spielenden Bands zuzuhören. Wir standen an einem Tresen, als plötzlich ein verstörter Typ auftauchte, der sich einen doppelten Whisky bestellte.
«Den brauche ich jetzt. Vorn an der Reggae Bar ist eine Palme umgefallen. Ein junger Local ist tot, die beiden Mädels sind mit gebrochenen Armen davon gekommen.»
Ich bremste mich selbst. Normalerweise wäre ich der Typ Mensch gewesen, der sofort zu Hilfe eilt. Dort auf Langkawi änderte sich etwas in mir. Es war nicht unmittelbar vor mir passiert. Wenn das Schicksal etwas von mir wollte, sollte es gefälligst zu mir kommen. Die Zeiten, in denen ich überall hinrannte, um Teil des Geschehens zu werden, waren vorbei.
Die Band spielte nicht mehr lange. Bereits nach einer Viertelstunde bot sich uns ein merkwürdiges Bild. Die einige Stockwerke hohe Palme lag auf dem Strand und unter ihr der Leichnam des jungen Mannes. Niemand hatte es für nötig gesehen sein Gesicht abzudecken. Immerhin waren wenigstens die Augen geschlossen. Beim Sturz hatte sie ihm den Brustkorb zermalmt. Meiner Einschätzung nach, war er sofort tot gewesen. Die drei anderen trauten sich kaum hinzusehen und liefen schnell weiter. Ich setzte mich zu «JJ», der mit seiner Gitarre auf einem Barhocker saß.
«Puh! Furchtbare Sache!», sagte ich zu ihm.
«Warum?»
«Na, weil da ein toter junger Mann liegt, dessen Leben viel zu früh geendet ist?», antwortete ich.
«JJ» zuckte mit den Schultern. «Er hatte eine Verabredung mit der Palme. Nicht ich und Du auch nicht! So ist das nun einmal. Deine Verabredung wird sich schon noch bei Dir melden. Lass uns einen drauf trinken, dass wir noch keine Verabredung hatten.»
Der Mann hatte Recht. Egal wie auch immer, eines Tages würde es so sein. Es machte wenig Sinn, daran etwas schrecklich zu finden. Für einen Augenblick ging mit mir die Fantasie durch. Ich wähnte einen Mann zu sehen, der mir beim Laufen am Strand zu winkte und plötzlich von der Dunkelheit verschluckt wurde.
«JJ» bemerkte meinen abwesenden Blick.
«Was?»
«Vergiss es! Mach bitte zwei Jägermeister. Ich zahle.»
Nachdem wir den Schnaps getrunken hatten, griff «JJ» zur Gitarre. Dann spielte er in seiner anklagenden Art den «Redemption Song» von Bob Marley. Die Polizei ließ sich Zeit. Erst eine halbe Stunde später rückten sie an. Es dauerte eine weitere Stunde, bis der Tote vom Strand getragen wurde. Am Mittag des nächsten Tages zeugten nur noch die schnell zerstückelten Reste der Palme vom nächtlichen Geschehen. Warum die Palme umgestürzt war, interessierte niemanden. In Deutschland hätte man alles dran gesetzt, um einen Verantwortlichen zu finden. Dort war es egal.
Über eine Begegnung auf Langkawi möchte ich noch schreiben. Fast jeden Abend saß ein knochiger Malaie vor dem Fernseher. Sein Alter war schwer zu schätzen. Seine langen grauen Haare und seine tiefen Falten sprachen dafür, dass er mindestens über Fünfzig war. Eines Tages lief im Fernsehen der Film «Blackhawk Down». Nach einer Weile sagte der Malaie: «Alles Bullshit! Ohne uns wären die US Boys da niemals lebend herausgekommen.»
«Ohne Euch?»

«Ich war Sniper. Haus für Haus habe ich mich vorgekämpft. Zwanzig Männer habe ich in diesen Tagen ausgeschaltet.»
«Du warst in Mogadischu?», fragte ich erstaunt.
«Blauhelm! Wir Malaien haben die Amis zusammen mit den Pakistanis da herausgeholt.»
«Davon wusste ich nichts.»
«Ist aber so … wollen sie aber nicht mehr wahrhaben.»
Bei seinen Worten gingen mir die Gedanken durch den Kopf, die mir bei solchen Geschichten immer kommen. Dieser Mann hatte als Soldat gekämpft und mit Sicherheit einiges abbekommen. Ganz unabhängig davon, dass die Amis jedes Mal ihre Verbündeten im schlechten Licht da stehen lassen, hatte ihm dies alles nichts eingebracht. Er saß mit wenigen Zähnen neben mir auf einer ranzigen Couch und schaute in einem Hostel Fernsehen, weil er sich keinen eigenen leisten konnte. Dieses ganze Vaterlandsgeschwätz und Verteidigung der freien Welt konnten sich mal alle gepflegt sonst wohin stecken.