Der Einsatz

Lesedauer 24 Minuten

Die Geschichte, die ich ihnen erzähle, hat sich niemals in der Art abgespielt, wie ich sie hier wiedergebe. Sie besteht aus wahren Ereignissen, die ich durch Verknüpfen zu einem jederzeit möglichen Ablauf zusammengefügt habe. Wir verbinden in unseren Köpfen jeden Tag einzelne Geschehnisse zu einem scheinbar stimmigen kausalen Zusammenhang. Anders können wir uns die Welt nicht erklären. Ich kündige Ihnen jetzt schon an, dass sie kein vorgebendes Ende haben wird.
Damit versetze ich sie in die gleiche Situation, in der sich viele befinden, die da draußen für Ihre und meine Sicherheit sorgen sollen. Es ist ein Balance – Akt zwischen richtigen Entscheidungen, die auf der Basis einer tatsächlichen Kausalität beruhen, und falschen, die wegen einer unzulässigen Verknüpfung getroffen wurden.
Bedenken Sie bitte immer, dass ein Entschluss mit dem Wissensstand vorher entsteht, niemals mit den Erkenntnissen, die sich später ergeben.
Die Geschichte beginnt damit, dass der Berliner Hauptkommissar Thomas Schmied, genannt Harald, von einem Treffen mit einigen alten Freunden nach Hause kam. Als das Telefon in seiner Jackentasche vibrierte, war Harald dabei die Wohnungstür aufzuschließen.
«Nicht jetzt!», dachte er. Im einzigen Zimmer seiner 35 qm kleinen Wohnung im Berliner Bezirk Moabit ließ er sich missmutig in den alten Ledersessel fallen. Etwas umständlich fingerte er das Telefon aus der Tasche heraus. Die Telefonnummer des Anrufers war unterdrückt worden. In diesem Moment vibrierte das zweite Telefon in der Innentasche. Harald verzog das Gesicht zu einer Grimasse. Dienst! Sie würde nicht locker lassen und es im Abstand von 10 Minuten immer wieder versuchen.

In diesen Augenblicken sehnte er sich in die Zeit vor der Erfindung des Mobiltelefons zurück. Da gab es ehrliche bezahlte Rufbereitschaften. Der Nachteil bestand darin, dass man entweder zu Hause in der Nähe des Festanschlusses sein musste oder diesen hässlichen Pieper mitschleppen durfte. Die Dinger hatten einen kleinen Lautsprecher, aus dem zuerst einige Töne schrillten, dann folgte die Durchsage eines Funksprechers. «Hier ist Berolina! Der Selektivrufempfänger mit der Nummer 765; Bitte Rückruf auf der Dienststelle.» Ständig blökten sie zum denkbar ungeeigneten Zeitpunkt los. Er erinnerte sich noch gut an den Standardspruch der Freunde: «Na, sind wir wieder wichtig?» Was wussten die schon? Damals sah er keinerlei Veranlassung dafür, ihnen etwas über seinen Job zu erzählen.
Mit diesem kleinen Elektrotacker war alles anders geworden. Wie ein Grippevirus hatten sich die Teile verbreitet. Anfangs kauften sich nur vereinzelt Kollegen selbst eins.
In Folge dessen mussten sie keinen Pieper mehr mitnehmen. Die Dinger hatten ihre Vorzüge. Der Job brachte es mit sich, dass man den ganzen Tag im Auto herum hing. Harald hatte sich über das Geschenk von Sonja gefreut. Endlich hatte sie die Gelegenheit ihn anzurufen, wenn etwas mit den Kindern war.
Er brauchte nicht, in den Zeiten an denen ausnahmsweise nichts passierte, eine Telefonzelle anfahren.
Die Verträge kosteten Unsummen, doch dem hohen Preis stand eine erhebliche Verbesserung der Lebensqualität gegenüber. Harald konnte nicht vorausahnen, wie trügerisch dies war. Aus dem Luxus erreichbar zu sein, entwickelte sich schnell eine Verpflichtung. Haralds Ehe war nicht die erste, die daran scheiterte, dass sich die Eheleute zu oft miteinander unterhielten.

Das Ganze kippte mit dem Umstand, dass eines Tages alle eins hatten. Selbst die Alten, die warnend den Finger hoben, mussten sich beugen. Fortan wurden die Anrufe der Dienststelle außerhalb der Rufbereitschaften immer häufiger. Die Alten wiesen darauf hin, dass sie das vorausgesehen hatten. Wer Begehrlichkeiten weckt, darf sich nicht wundern, wenn sie Folgen für einen selbst haben. Doch war es bereits zu spät. Immer häufiger hieß es am Telefon: «Ich weiß, Du bist nicht Rufbereit, aber da ist eine dicke Sache reingekommen. Kannst Du kommen?» Alle kamen! Niemand wollte sich die Blöße geben, das Team im Stich gelassen zu haben.
Ob tagsüber an einem freien Tag, weg von der lang geplanten Grillparty, betrunken, nüchtern, direkt aus der Kneipe oder nach einer verkürzten Nummer mit einer Frau. Niemand ließ die anderen hängen – das war das ungeschriebene Gesetz. Wer nicht fahren konnte oder durfte, nahm auf der Beifahrerseite Platz. Die mit wenig Schlaf pennten eine Stunde auf dem Rücksitz. Wessen Auto gerade mit der Ehefrau unterwegs war, wurde vom Kollegen bei der Anfahrt eingesammelt.


Dann verteilten sie die Dinger dienstlich. Selbstverständlich waren private Telefonate untersagt. Das Privatleben einzuschränken ist eins, die Folgen zu mildern steht auf einem anderen Haushaltstitel geschrieben.
«Damals!», dachte Harald im Stillen und holte sich aus dem Kühlschrank ein Bier. Mit diesem setzte er sich wieder in den Sessel. Die beiden Telefone legte er auf den Tisch vor sich. Er hegte nicht die Hoffnung, dass sich die Sache erledigt hatte. So etwas passierte nahezu nie. Was sie jetzt wohl wieder ausheckten?
An diesem Abend hatte sich darauf eingerichtet, am nächsten Tag, erst um 14:00 Uhr auf der Dienststelle zu sein. Seit langer Zeit hatte er mal wieder die Jungs getroffen. Die Gelegenheiten andere Gesichter zu sehen, wurden immer seltener. Hatte er Zeit, hatten sie keine, oder das Ende seines Arbeitstages lag mitten in der Nacht. Seit Jahren richteten sich die Schlafenszeiten nicht mehr nach Tag und Nacht, sondern nach einem von anderen gemachten Dienstplan. Die Uhr auf dem Display zeigte 02:00 Uhr an. Lange kraftzehrende drei Wochen lagen hinter ihm. An allen sieben Tagen der Woche hatten sie um 05:00 Uhr angefangen. Fast jeder Tag zog sich über die geplanten acht Stunden hinaus. Das war der Job. Es war schlecht möglich, einen der Täter anzurufen. «Hallo, hier ist die Polizei! Die Typen, die Ihnen seit drei Wochen hinterherfahren. Wollen wir die Sache nicht abkürzen? Sie sagen uns, wann sie den Juwelier überfallen wollen und wir richten uns dann darauf ein.»
Hatte es eine Änderung gegeben? Gab es endlich einen Hinweis darauf, wann die Kerle zuschlagen wollten? Telefonierten die Pappnasen zwischenzeitlich miteinander? Katz und Maus, Räuber und Gendarm, wie immer dieses Spiel hieß, Harald hatte schon längst die Nase voll von dem Mist. Das Brummen des Telefons auf der Glasplatte wirkte beinahe wie eine Erlösung.
«Harald?», fragte der Beamte von der Leitstelle.
Harald knurrte:«Wer denn sonst? Du hast doch mich angerufen. Was gibt es?»
Überfreundlich, schon fast devot, antwortete der Überbringer der Botschaft: «Ich muss Euch leider auf 05:00 Uhr Umalarmieren.»
«Wow! Ich hatte schon gedacht, ich müsste wieder zuviel schlafen. Ich bekomme davon Kopfschmerzen, weiß Du?», bemerkte Harald ein wenig zu scharf. Er kannte den Posten auf der Leitstelle. Keiner freute sich darüber, nachts mies gelaunte Kollegen zu alarmieren.
«Ich weiß, Du kannst nichts dafür. Sorry!», entschuldigte er sich. «Aber welcher Wirsing ist denn bitte auf die Idee gekommen uns mitten in der Nacht auf diese unchristliche Zeit zu setzen? Ist es wenigstens unser Fall?»
«Die Zweier stehen bereits bei dem Vogel vor der Tür und halten die Nachtwache. Ihr hattet um 18:00 Uhr Feierabend. Alle anderen waren noch bis 00:00 Uhr draußen.»
«Tschuldigung, dass wir auch noch ein Privatleben haben. Aber das soll nicht Dein Problem sein. Und ist es nun unser Fall?», fragte Harald nach.
«Leider nicht! Irgendein Dreck vom Staatsschutz!», bekam er zu Antwort.
«Kann man nichts machen! Danke!» Resigniert beendete Harald das Gespräch.


Johnny schaute auf die große Bahnhofsuhr vor sich. 02:10 Uhr trug er sorgfältig mit der Hand in die vor ihm auf dem Funktisch liegende Tabelle ein. Dahinter notierte er: «Alle vollständig alarmiert.» Draußen herrschte jetzt Ruhe. Gleichermaßen galt das für die Leitstelle. Ab- und zu knisterte es auf einem der Kanäle. Manchmal wurde die Stille von einem elektrischen Knacken unterbrochen, welches von einem der unzähligen Relais her rührte. Die Atmosphäre ähnelte einer Intensivstation, wo erst das Verstummen der Geräusche alarmierend wirkt.
Jetzt galt es Vollzug zu melden, dann hatte er es hinter sich gebracht. Bevor er den Chef anrief, bereitete er sich eine letzte Kanne Kaffee. Der Chef meldete sich gleich nach dem ersten Klingeln.
«Kluge!»
«Ich habe alle erreicht. Dienstbeginn 05:00 Uhr! Begeistert waren die nicht.»
«Kann ich mir vorstellen, aber 18:00 Uhr Feierabend und 05:00 Uhr sind zu vertreten. Haben sie Krüger eingewiesen?»
«Der weiß Bescheid und wird sich bei Dienstbeginn mit dem Sachbearbeiter kurz schließen.»
«Prima, dann haben wir es ja! Sie können mich jederzeit auf dem Diensttelefon erreichen. Sollte jemand fragen, ich bin ab 10:00 Uhr im Büro, das könnte morgen ein langer Tag werden. Gute Nacht!»
Johnny hatte den altmodischen Telefonhörer fast aufgelegt, da hörte er nochmals die Stimme des Leiters. «Draußen ist alles ruhig?»
«Ja, der Typ hat seit gestern 14:00 Uhr die Buchte nicht mehr verlassen.»
«Na ja, wir werden sehen.» Kluge legte endgültig auf.
Ein Schnarren an der Eingangstür, welches das elektronische Schloss verursachte, verriet Johnny, dass jemand den Eingangscode eingegeben hatte. Mit einem lauten Knacken, wie beim Zuwerfen eines Kofferraumdeckels, sprang die Tür auf und eine gut aufgelegte Theresa stand mit einigen Blättern in der Hand vor ihm.
«Was machst Du denn noch hier?», fragte Johnny verwundert.
«Bericht schreiben?»
Johnny grinste. «Ihr habt unten noch getagt, oder?» Er seufzte. «Manchmal vermisse ich das.»
Theresa winkte ab. «Nichts Besonderes. Ein paar Biere im kleinen Kreis, wir hatten etwas zu besprechen.»
«Trotzdem, die Kameradschaft fehlt mir. Die waren alle ganz schön angepisst, als ich sie alarmierte.»
«Alarmierung? Nachts?» Theresa trat neugierig hinter den Funktisch. Über Johnnys Schulter sah sie auf die Tabelle. «Ach herrjeh, da wird Harald schön gekotzt haben.»
«Warum?»
«Er hatte irgendein Treffen. Eigentlich wollte er mit mir tauschen, damit er Morgen ausschlafen kann. Dann hatten sie aber den Dienst ohnehin auf 14:00 Uhr gelegt. Ich sag mal: Dumm gelaufen. Worum geht es denn?»
Johnny reichte ihr einen Schnellhefter, der am Rande seines Fassungsvermögens angekommen war. Auf der ersten Seite prangten die Worte «Vorbereitung einer terroristischen Straftat.» Es folgten viele Blätter mit Abbildungen junger Männer, die alle lange Bärte trugen und in etwas zerlumpt anmutenden Klamotten steckten. Am Ende hatte Johnny den von ihm verfassten Bericht platziert. Theresa blätterte die Seiten kurz durch. Dann gab sie ihn zurück. «Bitte! Nicht mehr um diese Zeit. Sag mir einfach, was die Teppichflieger nun schon wieder vor haben.»
Johnny nahm den Vorgang zurück und legte ihn vor sich hin. «Die kurze Version?»
Theresa goss sich einen Kaffee ein. Hiernach zog sie einen der herumstehenden Drehstühle heran. «Ich bitte darum.»
«Patrick Baumann, ehemalige Zecke aus dem Autonomen Block, hat beschlossen das links Kacke ist. Jetzt macht er auf Salafist. Vor zwei Tagen hat er auf Youtube ein Video eingestellt. Der übliche verwirrte Scheiß. Wir sind alle Kuffar, Allah ist tollste Gott aller Zeiten, bla bla bla. Auf zwei anderen Videos hat er damit geprahlt, sich für Allah im Zweifel auch opfern zu wollen.»
Theresa nahm einen Schluck von dem Kaffee. «Und? Wann kommt der Knaller? Das machen die Spinner doch jeden Tag. Leeres Geschwätz.»
Sie griff erneut nach dem Vorgang. Nach einigen Umblättern hatte sie ein Bild von Baumann gefunden. «Schau Dir diese Wurst doch an. Wenn der sich einen Sprenggürtel umbindet, kann er nicht mehr aufstehen. Wer sind die anderen Typen? Bis auf wenige Ausnahmen sehe ich nur Deutsche.»
«Alles alte Bekannte vom Staatsschutz, mit denen er abgehangen hat.»
Theresa runzelte die Augenbrauen. «Warum kenne ich die dann nicht?»
«Ganz einfach, bis vor zwei Wochen trieb er sich noch in Dortmund herum. Bei uns ist er noch nicht lange.»
«OK! Noch einmal die Frage: Wo ist der Knaller?» Dabei hielt sie in einer theatralischen Geste die Hände nach vorn.
«Angeblich soll er zu einem anderen gesagt haben, dass er in Berlin eine Arbeit zu erledigen habe. Außerdem gibt es wohl Erkenntnisse, dass er im Kontakt zu einem anderen Konvertiten steht, der früher als Linker einen Sprengstoffanschlag gemacht hat.»
«Ich erinnere mich! Da war mal etwas, aber auf den Namen komme ich nicht. Der berät die jetzt im Knast. Verrückte Welt, jeden Tag wird ein neuer Spinner wach. Und nun jetzt drehen alle frei, weil sie annehmen, dass Arbeit bei ihm für Anschlag steht. Richtig?»
Johnny nickte. Dann antwortete er, in dem er die Betonung auf die Mitte des Wortes legte: «Rischtisch!»
Theresa erhob sich vom Stuhl und warf einen letzten Blick auf die Papiersammlung. «Na da hat ja jemand mal wieder viel heiße Luft in eine Tüte geblasen. Ich mach mich vom Acker.»
Johnny sag ihr hinterher. Er hatte sie kennengelernt, wie sie als blutjunge Kommissarin bei dem Verein anfing. Damals hatten sich alle den Hals nach ihr verdreht. Manch einer behauptete sogar, dass sie sich mal für den Playboy auszog. Doch trotz intensiver Recherchen kam da nie mehr heraus. Das Zeug dazu hätte sie gehabt, dachte Johnny im Stillen. Jetzt war sie aus der Form geraten. Außerdem hatten die Nächte tiefe Gräben im Gesicht hinterlassen. Der unregelmäßige Dienst schaffte sie alle. Ohne dafür einen medizinischen Beweis zu haben, war Johnny zur Auffassung gekommen, dass Frauen unter diesen Bedingungen schneller alterten.

Er rieb sich die Augen, als wenn er damit die Bilder aus dem Kopf vertreiben könnte. Die nächste Stunde konzentrierte er sich drauf, alles für seine Ablösung fertigzumachen.


Krüger, der eigentlich Müller hieß, hatte sich hinter seinen Schreibtisch verschanzt. Vor ihm lag Johnnys Bericht. Den Namen Krüger hatte er bekommen, weil er vor einigen Jahren den Fehler gemacht hatte, das Weihnachtsgeschenk seiner Frau im Dienst zu tragen. Die Truppe hatte eine uralte Tradition. Neue bekamen einen Spitznamen. Vor Urzeiten war er einer dieser Neuanfänger in der Mannschaft gewesen. Ab dem Eintreffen auf der Dienststelle konnte jeder herunter zählen, bis er einen Kriegsnamen zugeteilt bekam. Der Pullover, das Weihnachtsgeschenk, hatte einen Fehler. Er war quer gestreift. Für die Herstellung einer Beziehung zur Horrorfigur Freddy Krüger brauchte die Mannschaft ca. 5 Minuten und das Thema Namensfindung hatte sich erledigt. Johnny, hieß bis er sich eines Tages eine Hantel auf seinen Fuß fallen ließ, ursprünglich Olaf. Sein daraufhin angestimmtes theatralisches Geschrei, erinnerte an dessen Gejaule. Tarzan war bereits vergeben, also musste der Darsteller Johnny Weißmüller herhalten. Thomas Schmied verdankte seinem Namen dem Entertainer Harald Juhnke. Er hatte es gleich bei der ersten Weihnachtsfeier übertrieben. Zu gleicher Zeit hatte auch Juhnke eine seiner vielen Alkoholexzesse, den Rest kann man sich denken.
Seit Theresa den Vorgang in den Händen hielt, war einiges hinzugekommen. Ist es notwendig, ihren Namen zu erläutern? Warum nicht? Die Älteren werden sich an eine polnische Schauspielerin mit dem Namen Orlowsky erinnern. Den Jüngeren sei gesagt, dass die Filme der Dame, dem Entertainment ab 18 Jahre, zugerechnet werden. Theresa ersah in dem Namen ein Kompliment. Bei der Truppe durfte Frau nicht zimperlich sein. Krüger verbarg sein Gesicht in der linken Hand.
Ein Geistesgestörter vom Staatsschutz hatte sich zur Formulierung: «Von einem geplanten Anschlag ist auszugehen» hinreißen lassen. War dem Kerl bewusst, was er mit diesem Satz in Berlin auslöste? Warum hatte der Idiot nicht gleich geschrieben: «Alarmiert alles, was ihr habt. Luftunterstützung, maritime Einheiten, ein Team der GSG9 in Reserve, und Einheiten aus den Nachbarländern.» In Krügers Vorstellung, horchte dieser Arsch vermutlich gerade an seinem Kopfkissen und ließ sich von Mutti einen Kaffee kochen.
Krüger versuchte trotz der frühen Zeit, die Faktenlage zu analysieren. Baumann, der vermeintliche Attentäter in späh, hatte sich innerhalb eines Jahres radikalisiert. Das kam vor, zumal niemand sagen konnte, was in der Zeit vor seiner ersten Auffälligkeit passierte.
Der Auslöser war niemanden bekannt. Immerhin war er ein deutscher Konvertit. Im Regelfall waren die im Vergleich zu Arabern oder Tschetschenen radikaler. Für die Terrorstrategen im Nahen Osten ist jeder Konvertit Goldstaub. «Seht her ihr Kuffar! Eure eigenen Leute glauben an uns und wollen für Allah in den Tod gehen.» Dem Staatsschutz war Baumann zuvor ausschließlich als Mitglied der linksextremistischen Szene aufgefallen. Durchgeknallt, auf einer Pille hängen geblieben, die übliche Biografie. Wie hoch war die Wahrscheinlichkeit, dass dieser Baumann früh sein Haus verlassen würde? Ein Linker, der vor 11:00 Uhr auf der Straße auftaucht, ist ein seltsamer Linker. Krüger hatte gelernt, seinen Stereotypen zu vertrauen. Seine geschätzte Trefferquote lag bei 80 %. Die sich ergebenden Vorteile bei der Entwicklung schneller Einsatzstrategien überwogen klar die Nachteile der restlichen Prozente.

Was war mit dem Kontakt? Der war ein vollkommen anderes Kaliber. Einer dieser Alt – Linken, wie der seltsame Rechtsanwalt Mahler, welcher auf die rechte Seite wechselte. Krüger hatte sich oft gefragt, wie diese Köpfe funktionierten. Das geschwollene Gerede dieser Typen, konnte nicht über ihre einfache Struktur hinweg täuschen. Sie benötigten das warme Nest voller Gesinnungsgenossen. Außerdem brauchten sie wie alle Extremisten einfache Erklärungen. Die eigene Erfolglosigkeit hinzunehmen ist nicht jedermanns Sache. Da greift manch einer nach einem Strohhalm. Wie gut, wenn man einen Buhmann aus dem Zylinder zaubern kann oder sich mit einem Gott arrangiert.
Immerhin hatte der Kerl vor zehn Jahren bewiesen, dass er es ernst meint. Mit zwei anderen Linksextremisten jagte er drei Bomben hoch. Der Richter honorierte dies mit einer langjährigen Haftstrafe. Im Knast hatte er dann die Erleuchtung. Alles Schlimme auf der Welt rührte daher, dass die Menschheit nicht vollständig an Allah glaubte. «Drecksreligionen!», entwich es Krüger. Für ihn tauschten diese Typen nur den Namen in ihrem Kopf. Vollkommen egal, ob sie nun an den heilsbringenden Kommunismus, Adolf Hitler, Jesus Christus oder Allah glaubten.

In Krügers Gedanken platzte der eintreffende Harald. «Du siehst schön scheiße aus!», begrüßte er seinen Stellvertreter.
«Mal auf die Uhr geschaut?», grunzte Harald zurück. «Gibt es hier schon Kaffee?»
Krüger zeigte auf die Kaffeekanne. «Ich bin wie eine Mutter ohne Brust zu Dir!»
«Puh, da kommt einem die Faust aus der Tasse entgegen gesprungen!», kommentierte Harald nach dem ersten Schluck das schwarze Gebräu. «Wir sollten dringend ein paar Cent mehr investieren!»
Krüger gab ihm grinsend den Vorgang. «Lies Dich erst einmal ein, dann erzähl ich Dir was dazu.»
Harald kam beim Lesen bis zu dem Satz, der zuvor Krüger aufgestoßen war. «Von einem Anschlag ist auszugehen?», dehnte er die Worte beim lauten Vorlesen. «Eine Nummer kleiner ging es nicht?»
«Jedenfalls ist damit geklärt, dass wir aus der Nummer mit dem großen Besteck nicht heraus kommen. Der Vogel hat gestern 14:00 Uhr sein Haus betreten und hat sich seither nicht mehr blicken lassen.», erklärte Krüger. «Wir sollten schnellstmöglich die Truppen vor Ort ablösen. Die haben gestern in ihrer eigenen Sache abgebrochen und haben die ganze Nacht vor dem Loch gestanden. Ich fahre mit Roland zur Sachbearbeitung. Du übernimmst die Führung vor Ort. Bisher ist alles sehr dünn und wir müssen ein wenig den Dampf aus der Angelegenheit heraus lassen.»
«14:00 Uhr! Was soll der Dreck? Da waren wir doch noch im Dienst. Welcher Idiot hat denn da wieder die Planung gemacht? Lass mich raten: Der kluge Herr Kluge pennt noch.»
«Es ist wie es ist. Bevor Du heraus rennst, sollten wir uns das Video von dem Spinner ansehen.»
«Hat der nur eins drinnen?», hakte Harald nach.
«Nein, er ist seit etwas mehr einem Jahr auf Sendung. Aber ich denke, das eine reicht aus.»
Krüger schaltete die Lautsprecher ein und drehte den Ton etwas lauter. Kurze Zeit später schallte das übliche unverständliche monotone Gejammere durch den Raum. Im Video präsentierte sich ein Mitte zwanzigjähriger Rotschopf mit einem aus spärlichen langen Strähnen bestehenden Bart im Gesicht. Nach der Musik folgte eine für die beiden Zuschauer unverständliche arabische Litanei.
«Komm, dass ist mir zuviel für diese Uhrzeit. Spul mal vor!»
Krüger schob den Regler ein Stück weiter. Schon wenige Sekunden später klickte er auf Pause. «Es wird nicht besser! Aber eins ist klar, die müssen in Dortmund mehr wissen. So wie der aufritt, muss er ihnen bekannt sein. Ich mach mal ein paar Ausdrucke vom Standbild, dann haben wir wenigstens ein gutes Bild von ihm.»
Harald stimmte im mimisch zu. «Hast Du mal auf die Zugriffszahl geachtet? Mit dem Geseire hat er satte 800 Klicks.»
Krüger lachte. «200 davon sind vom Staatsschutz.»
«Ich ruf mal draußen an. Mal hören, was die zu berichten haben.», kündigte Harald an. «Bin gleich wieder da!»
Während sich die beiden in ihrem Raum unterhielten, trafen peu à peu die anderen Teammitglieder ein. Im Vorbeigehen gab Harald einige knappe Anweisungen. Danach trat er aus dem Dienstgebäude heraus. Draußen steckte sich beim Telefonat mit dem anderen Teamführer eine Zigarette an. Knappe zehn Minuten später, wusste er ein wenig mehr.
Kurz danach berichtete er Krüger. «Also der Typ hat kein Fahrzeug und fährt mit der BVG. Er sieht genauso aus, wie in dem Video. Schlafanzug, Kaffeewärmer auf dem Kopf, Zottelbart und ein wenig verpeilt. Über Kontakte wissen sie nichts. Das Haus läßt sich mit zwei Positionen locker beobachten. Sie waren nachts im Haus und haben mal an der Tür gelauscht. Konnten aber nichts besonderes feststellen.»

Krüger zuckte mit den Schultern. «Dann lass uns raus fahren. Der Rest wird sich ergeben.» Mit Harald zusammen besprach er sich mit dem Team. Viel konnten die beiden den müden Gestalten am Tisch nicht mitteilen. Eine halbe Stunde später fuhren die ersten vom Gelände herunter. Mit dem bisher Bekannten war das Team nicht mehr zu beeindrucken. Durchgeknallte Salafisten waren längst Alltagsgeschehen. Eine weitere Stunde später hatten sie die Situation an der Anschrift unter Kontrolle. Die übernächtigten Kollegen durften endlich dankbar den Heimweg antreten.


Krüger hatte sich auf dem Weg zur Sachbearbeitung gemacht. Als er eintraf, saßen bereits sechs Ermittler in einem kleinen Raum zusammen. Krüger verschaffte sich einen Überblick. Bis auf eine attraktive Blondine kannte er die Anwesenden, deshalb verzichtete er darauf, sich vorzustellen. Wie er zusammen mit Harald vermutet hatte, gab es einiges mehr zu Baumann. Seine Biografie unterschied sich nicht von anderen Kandidaten aus der Szene. Kleinere ungelöste Probleme im Elternhaus, danach die alterstypische Desorientierung, ein paar Salafisten kennengelernt, der Rest ergab sich wie immer. Alles drehte sich um die Bemerkung, dass er eine Arbeit zu erledigen habe. Die Videos interessierten niemanden im Raum. Jeder von ihnen hatte hunderte davon gesehen. Schnell waren die notwendigen Informationen jedem bekannt. Krüger lehnte sich ein wenig zurück. Verstohlen musterte er die Brüste der Blondine. Für einen Augenblick gab er sich seinen Träumen hin. Dann griff er ins Gespräch ein.
«Siggi, wie lautet denn nun der Auftrag?», fragte er leicht provokant den Kommissariatsleiter, der ihm auf der anderen Seite des Raums gegenüber saß.
«Wie üblich! Ihr beobachtet ihn, dann sehen wir weiter. Irgendwann wird er ja mal aus der Wohnung heraus kommen.»
«OK! Nehmen wir an, er kommt heraus. Der Dortmunder hat uns da etwas Nettes ins Gebetbuch hineingeschrieben. Von einem Anschlag ist auszugehen. Was machen wir, wenn er mit einem Rucksack heraus kommt?»
Siggi, ein dicker unförmiger Mann, schaute Krüger skeptisch an.
«Worauf willst Du hinaus?»
Krüger beugte sich nach vorn. «Auf nichts Konkretes, aber das läuft hier wieder auf Pulle voll, Frau besoffen, hinaus. Der Typ hat im Video klar gemacht, wie viel ihm an seinem Leben liegt, nämlich nichts …»
Er wurde von der Blondine, unterbrochen. «Ja, aber dieses Geschwätz nimmt doch niemand ernst.»
«Wollt ihr ihn beim Verlassen gleich festnehmen?», sprang ihr einer der jüngeren Sachbearbeiter zur Seite. «Lassen wir uns doch erst mal in aller Ruhe schauen, wie er sich verhält.»
«Dann fragen wir doch mal die Franzosen, was dabei heraus kommt, wenn wir zusehen und das sein Tag ist.», setzte Krüger hinterher. Um ihn herum brach ein verhaltenes Gemurmel aus. Er verachtete diese Sesselfurzer. Ihm ging es weniger darum, dass er dem Verdächtigen tatsächlich etwas zutraute.
Wichtiger war es ihm, den im Raum Versammelten zu verdeutlichen, welche Konsequenzen ihre Entscheidungen nach sich zogen. Krüger war bekannt für seine Kompromisslosigkeit. Er blickte auf ein bewegtes Leben mit diversen Auslandseinsätzen zurück. Sein Credo lautete: «Illusionen können tödlich enden, wer überleben will, muss sich mit Realitäten und nicht mit Wunschvorstellungen auseinandersetzen.» Verantwortung bedeutete für ihn, dass er sein Team schonungslos, ohne Rücksicht auf offizielle Formulierungen und Richtlinien, vorbereitete. Er hatte seine Leute beim Schießen in Trainingslagen gebracht, die jedem aus den höheren Etagen die Luft genommen hätten.
Dazu gehörte auch das gezielte finale Ausschalten eines Täters, welches er mit «Biologische Zündunterbrechnung» betitelte. Unmissverständlich machte er jedem Teammitglied deutlich: «Wenn es hart auf hart kommt, musst Du mit dieser Waffe töten. Sei Dir darüber vorher klar, danach ist es zu spät.» Diese Worte gefielen nicht jedem. Genauso wenig, wie bei den Angehörigen der Teppichetage seine Forderung nach Langwaffen Beifall fand. In der ihm eigenen Art sagte er dazu: «Die Botschaft eines G3 wird international von allen Terroristen verstanden, egal welche Sprache sie sprechen.»
Jetzt meldete sich der Stellvertreter des Leiters. «Hanna hat Recht, wenn sie die Videos nicht für voll nimmt.» Mit Hanna meinte er die Blondine. «Wir wissen bisher nichts von einer Vorbereitung. Sollte er wirklich etwas vorhaben, muss er ja noch einige Vorbereitungen treffen. Er wird weder Sprengstoff noch Waffen in der Wohnung haben.»
«Von wem hat er denn die Wohnung?», fragte Krüger.
Die anderen begannen in ihren Unterlagen zu blättern. Die Blondine fand als erste die passende Seite. «Wohnungsinhaberin ist eine Silke Klitzschmüller. 32 Jahre, keine nennenswerten polizeilichen Erkenntnisse. Beziehung der beiden zueinander ist nicht bekannt. Sie hat ein Facebook – Profil, daraus haben wir die Bilder in die Unterlage eingefügt.»
Den letzten Satz sagte sie, als wenn sie ein Lob für ihren guten Gedanken erwartete. Sie von der Unterlage auf und blickte in die Runde. «Ich habe mir ihre Seite angesehen. «Ein paar linksorientierte Post, das war es aber auch schon.»
Krüger ließ nicht locker. «Unser Mann stammt doch aus der Linksextremisten Szene. Die Dortmunder behaupten, dort hätte er Kontakt zu diesem Walter gehabt. Walter ist erst vor drei Jahren wieder heraus gekommen. Wenn jemand in der Truppe das Potenzial hat mit Sprengstoff zu hantieren, dann er.» Er pausierte kurz. «Wer hat überhaupt Sprengstoff ins Spiel gebracht?», fragte Krüger.
Der Stellvertreter zuckte mit den Schultern. «Gute Frage! Das meinte ich ja vorhin. Ich denke mal, weil dieser Walter genannt wurde.»
«Wenn wir den wieder heraus rechnen, ist alles andere auch möglich … richtig?», fragte Krüger.
«Wenn Du so willst … Ja!», entgegnete der Leiter sichtlich dankbar für die Brücke, die ihm von Krüger gebaut wurde.
Der war aber noch nicht fertig. «Was ist mir einer Ausreise?»
Siggi musste für die Antwort nicht lange nachdenken. «Wie üblich, innerhalb der Grenzen schauen wir zu. Bei Flughafen oder Bahnreisen müssen wir neu entscheiden. Könnt ihr bundesweit dran bleiben?»
Krüger nickte. «Da gibt es keine Probleme. Ihr müsst es nur wollen.» Der Rest der Besprechung war Routine. Die anfänglichen Wogen hatten sich geglättet. Die Angelegenheit entwickelte sich immer mehr zum Alltagsgeschäft.
Beim Laufen durch die Flure des Gebäudes überkam Krüger wieder einmal das Unverständnis. Er war sich sicher, dass der Tag kommen würde, an dem sich alle irrten. Es war eine Frage der Zeit. Wie oft waren sie knapp an der Katastrophe vorbei gekommen? Mal versagte ein Zünder, dann waren die Täter zu dämlich die passenden Zutaten zusammen zu bekommen, oftmals redeten sie mit den falschen Leuten, doch mit jedem Versagen lernten sie dazu.
Sprengstoff? Viel zu kompliziert! Irgendwo mit ein Auto hinein rasen, in einer Fußgängerzone das Feuer mit einer AK47 eröffnen; sie dachten sich jeden Tag eine neue Perversion aus.
Im Fahrzeug wartete Roland. «Und?», fragte der seinen Chef.
«Heiße Luft! Wie immer …», antwortete Krüger grimmig. «Aber kennst Du die neue Sachbearbeiterin?»
«Hanna?», fragte Roland mit einem süffisanten Grinsen.
«Ziemlich geile Titten!», stellte Krüger fest. «Wir fahren zu den anderen. War in der Zwischenzeit etwas?»
Roland schüttelte den Kopf. «Nichts, absolut tote Hose.»
«Dann haben wir es auch nicht eilig, halt mal noch an einem Bäcker an, ich hatte noch kein Frühstück.»


«Da ist einer raus. Er war zu schnell. Den müsste mal einer klären.», meldete die Position an der Hauseingangstür. Sofort meldete sich eine weitere Stimme auf dem Funk. «Ich kann ran gehen. Hab ihn schon … ich sage Euch gleich mehr.»
Harald kurbelte seinen Sitz aus der Liegeposition nach oben. Die letzten zwei Stunden hatte er für ein wenig Schlaf genutzt. «Es geht los …», rief er aus dem Fenster seinem etwas entfernt stehenden Teampartner zu. Dem war das Schnarchkonzert zu laut gewesen. «Unser raus?», fragte er nun wieder im Fahrzeug.
«Kann sein. Wird noch geklärt. Pit ist dran.»
«Ich sag mal, er ist es. Aber eins ist merkwürdig … der hat keinen Bart mehr und ist komplett in schwarz angezogen.», lautete wenig später die Meldung von Pit.
Harald sah seinen Teampartner an. «Was ist das denn für eine Kacke?»
«Bist Du Dir sicher?», fragte er über Funk. «Krüger hast Du das auch mit?»
«Hab ich. Bin schon am Telefonieren.»
«Pit, kannst Du mir bitte eine komplette Beschreibung geben?» Harald ergriff eine gewisse Nervosität.
«Also er sieht an sich aus, wie auf dem Bild. Nur das jetzt keinen Bart mehr hat. Die Gehirnbremse auf dem Kopf hat er gegen eine Base – Cup eingetauscht. Schwarze Cargo – Hose, so eine schwarze Armee – Jacke und warte … Ja, richtig … dazu schwarze geschnürte Stiefel. Außerdem ein Rucksack.»
«Wie groß ist der Rucksack?»
«Na so ein City – Bag, vielleicht ein wenig größer. Muss was Schweres drin sein, das Ding hängt ganz schön herunter.»


Damit hatte keiner gerechnet. Obwohl es genau die Situation war, auf die immer alle warteten. Ein Salafist, sieht mit einem Mal nicht mehr aus wie einer und macht sich auf den Weg. Alarmstufe Rot! Ich möchte ein paar Anmerkungen einschieben. Auch wenn ich die Informationen stark komprimiert habe, sind Sie doch weitestgehend im Bilde. Berlin wird oft als die Hochburg der Salafisten – Szene bezeichnet. Ich weiß nicht, ob diese Aussage einer objektiven Prüfung stand halten würde. Letztlich ist das nebensächlich. Auf jeden Fall befinden sich in Berlin jede Menge desorientierte junge Männer, die aus ihrer Biografie heraus für die geschickten Manipulationen der Sekte offen sind. Oft handelt es sich um Kleinkriminelle, die einen Halt suchen. Niemand hat Ihnen im Leben eine Identität gegeben.

Sie können in ihrem Leben keinen Sinn entdecken. Prinzipiell befinden sie sich damit im Regal eines Selbstbedienungsladens für Radikale. Es ist nur eine Frage, mit wem sie zuerst in Kontakt kommen. Werden sie von der einen Truppe enttäuscht, suchen sie sich die nächste.
Selbst das Sterben für eine Ideologie erscheint ihnen als Ausweg geeignet. Die verzweifelte Mutter eines in Syrien bei Kampfhandlungen ums Leben gekommenen Konvertiten fragte in einem Interview: «Wofür ist mein Sohn gestorben?» Ist das nicht genau der ursächliche Fehlschluss? Der Tod eines Menschen hat niemals einen Sinn. Er ist schlicht das definitiv eintretende Ende des Lebens. Exakt jener Umstand ist Extremisten nicht bewusst. Doch um diesen philosophischen Aspekt der Angelegenheit geht es mir hier nicht. Wenn sich ein Extremist in einem Video darstellt, will er der Welt seine Existenz mitteilen. Salafisten sabbeln arabisches Kauderwelsch, Rapper posieren provokativ mit Waffen, Rechtsradikale hetzen und rufen zur Gewalt auf, allen geht es um Aufmerksamkeit.
Doch wie erkennt man unter all diesen Selbstdarstellern den einen, der seine Drohungen ernst meint? Welche Kriterien legt man an? Leider haben die Anschläge der letzten Jahre gezeigt, dass einige sich ohne viele Vorwarnungen zu einem Anschlag entschließen. Die geistigen Brandstifter fordern sie nicht unmittelbar zum Handeln auf, sie liefern ihnen nur die Legitimation. Über Wochen und Monate sitzen sie am heimischen Rechner. Das passiert nicht ausschließlich mit den zukünftigen Attentätern. Millionen von Menschen leben in einer Blase. Sie suchen nach Antworten. Bis sie eines Tages beseelt von dem Gedanken: «Ich muss etwas tun!» aufstehen.
Sich gegen alles Absichern zu wollen ist menschlich, aber nicht möglich. Es gilt taktische Entscheidungen zu treffen. Die vorhandenen Ressourcen müssen effizient eingesetzt werden. An Lücken kommt dabei niemand vorbei. Solange alles gut geht, werden sie als kalkuliertes Risiko bezeichnet. Geht etwas schief, bekommen sie die Bezeichnung «Versagen der Sicherheitsbehörden».
Die radikalste Entscheidung und sicherste Lösung hieße: Baumann hat den Fehler gemacht, sein Vorhaben im Internet anzukündigen. Verlässt er sein Haus mit einer verdächtigen Tragevorrichtung, in der sich Sprengstoff befinden könnte, erfordert eine Null – Risiko – Strategie sofortiges Handeln. Mit einer simplen Festnahme ist es nicht getan. In Israel würde er auf eine Entfernung von 30 Metern mittels Megafon angesprochen werden. Gleichzeitig legte ein Scharfschütze auf ihn an. Ein Nichtbefolgen der Anweisungen käme einem Suizid gleich. Obwohl sich der Fanatismus der Attentäter in Israel nicht von dem der hiesigen unterscheidet, ist diese Strategie in Deutschland undenkbar. Alle anderen Vorgehensweisen bürgen Risiken. Attentäter richten sich verständlicherweise auf solche Situationen ein. Deshalb verwenden sie hinterhältige Totmann – Schalter bzw. Aufschlagzünder.
Der Name Totmann bezieht sich nicht, wie man meinen mag, auf einen toten Mann, sondern ist nach seinem Erfinder benannt. Das Prinzip ist einfach. Um eine Maschine am Laufen zu halten, muss ein Benutzer aktiv auf die Schaltung einwirken. Diesen Sicherheitsschalter findet man an vielen Baumaschinen. Bei der Zündung einer Bombe ist die Sachlage ähnlich. Am einfachsten stellt man sich eine Wäscheklammer vor, die erst im geschlossenen Zustand einen Kontakt herstellt. Der Aufschlagzünder löst in dem Moment aus, wenn der Attentäter zu Boden geht.
In Deutschland wird auf eine religiöse Strategie gesetzt: Glauben und Hoffnung! Wir glauben nicht daran, dass so etwas in Deutschland passieren kann. Sollte es doch dazu kommen, können wir nur noch hoffen. Für das Team um Krüger herum ergab sich durch die Kleidung eine neue zu bewertende Lage. Erfahrungsgemäß hat es nichts Gutes zu bedeuten, wenn sich ein Salafist urplötzlich westlich kleidet. Zur Ankündigung im Video lagen ab diesem Zeitpunkt weitere Hinweise vor, die einen bevorstehenden Anschlag ein wenig wahrscheinlicher werden ließen. In den Lehrbüchern der Taktik findet sich ein Grundsatz. Weiche von einer einmal getroffenen Entscheidung nicht ab, solange sich keine wesentlichen anderen Informationen einstellen.


«Hier mal Krüger für alle. Ich habe telefoniert, die Sachbearbeitung kann sich auch keinen Reim machen, die rotieren jetzt erst einmal. Wir machen unseren Job einfach weiter. Der Typ ist unbedingt zu halten. Achtet besonders darauf, ob er etwas gemerkt hat. Betritt er die öffentlichen immer zwei mit ran. Bitte quittieren.»
Genau das hatte Baumann vor. Sei Weg führte ihn direkt zur Untergrundbahn. Harald studierte den Fahrplan. «Wenn er dort einsteigt, muss er zwei Stationen fahren, dann kann er umsteigen und landet in der Innenstadt.», sagte er laut.
«Oder er fährt in die andere Richtung, dann landet er am Flughafen.», bemerkte sein Teampartner.
Harald schaute ihn an. «Das ist nicht witzig!»
Gespannt verfolgten die beiden die Meldungen. Wie sie es erwartet hatten, lief Baumann zum U – Bahnhof und wartete unten auf dem Bahnsteig auf die Bahn in Richtung des Umsteigebahnhofs.
«Zieh vor!», wies Harald seinen Passmann an. «Wenn er umsteigt, geh ich mit ran. Krüger bekommt das alleine hin.»
Laffo, sein Fahrer, gab alles. Mittlerweile war es 14:00 Uhr und die Stadt war voll. Ohne Blaulicht kämpften sich die beiden durch den dichten Verkehr. Halsbrecherisch bremste er andere Fahrzeuge aus, zog an Rückstaus an roten Ampeln im Gegenverkehr vorbei und wich im Zweifel auf den Bürgersteig aus. Trotz der rasanten Fahrt blieben die beiden ruhig.

Wie bei einer Rallye gab Harald an Laffo kurze Kommandos weiter. «Rechts frei! Der steht! Die pennt, kannst vorbei ziehen! Vorsicht Fußgänger von rechts! Rechts steht …» Parallel verfolgten sie die Meldungen aus der U – Bahn. Sie schafften es gerade rechtzeitig. Harald hatte schon während der Fahrt seine Ausrüstung fertiggemacht. Hastig rannte er die Treppe zum Bahnsteig herunter.

Unten orientierte er sich anhand der Meldungen. Es dauerte nicht lange, bis er Baumann gefunden hatte. Pit stand schräg hinter ihm in der wartenden Menschenmenge. Mit wenigen Blicken machte Harald drei weitere Teammitglieder auf dem Bahnsteig aus. Harald beschloss, ungewöhnlich nah an Baumann heranzugehen. Sollte er aufmerksam werden konnte er sich sofort zurückziehen und die anderen wären immer noch da.
«Krüger?»
«Yupp!»
«Ich bin jetzt auch dran. Ich gehe an den Vogel mal direkt heran. Ich will mir den Rucksack näher ansehen.»
«OK!»
Bevor der Zug eintraf, kam Harald unmittelbar hinter Baumann zum Stehen. Was er im ersten Moment sah, ließ ihm den Atem stocken. Von unterhalb der Lasche, die die Oberseite des Rucksacks verschloss, führte ein dünnes schwarzes Kabel in die Jackentasche. Harald zückte sein Telefon und fotografierte das Kabel. Dann sendete er das Bild an Krüger.
«Hängt aus Rucksack heraus, kann Ladekabel sein …», tippte er als Nachricht.
«Wie kriegen wir das heraus?», lautete Krügers Antwort.
«Haben wir die Nummer von dem Vogel?»
«Warum?»
«ANRUFEN! Wenn Handy, muss er es herausholen!»
«Melde mich!»

Zwischenzeitlich traf der Zug in Richtung Flughafen ein. Baumann ließ keine Bewegung erkennen, die dafür sprach, dass er in den Zug einsteigen würde. Beobachtete er, wer in den Zug einstieg? Wollte er überprüfen, ob er beobachtet wird? Harald reagierte blitzartig und zog sich hinter einen Kiosk zurück. Drei andere Teammitglieder hatten keine Chance mehr und mussten in den Zug einsteigen. Wenige Augenblicke später traf auch der Zug in die Gegenrichtung ein. Der Bahnsteig hatte sich merklich geleert. Harald sah sich um. Pit war ihm noch geblieben, alle anderen waren erst einmal aus dem Rennen. Das Vibrieren in der Tasche signalisierte Harald eine neue Nachricht.
«Nummer nicht bekannt!», schrieb Krüger.
In Harald startete ein jahrzehntelang antrainiertes Programm. Umso mehr sein Stresslevel anstieg, desto rationaler wurde er. Was konnte er tun? Wie wahrscheinlich war es, dass Baumann Sprengstoff in diesem verdammten Rucksack hatte? Bisher gab es keine Informationen für ein Ziel. Die U – Bahn? Dann würde er mit Sicherheit nicht auf dem leeren Bahnsteig zünden. Wenn er in einen Zug einsteigt, gäbe es allerdings keine Garantie mehr. Warum hatte er den Zug fahren lassen? Versuchte er, Verfolger abzuschütteln? Vielleicht wartete er schlicht auf jemanden. Auf wen?
Harald blickte durch die schmutzige Scheibe des Kiosks. Baumann stand ruhig an seinem Platz. Ab und zu schaute er sich um. Es war schwer einzuschätzen, ob er die wenigen Neuen auf dem Bahnsteig konkret musterte. Harald verfolgte gedanklich eine weitere Richtung.
«Pit?»
«Yupp!»
«Hat der Vogel einen Fahrschein gezogen?»
«Nein!»

Hatte Baumann Angst vor einer Kontrolle? Kamen ihm bei der ersten Wartemenge Leute verdächtig vor? Dann müsste er in den nächsten Zug einsteigen. Aber Harald durchdachte auch noch etwas anderes. Sie hatten ein Horrorszenario trainiert: Ein potenzieller Attentäter fährt in der U – Bahn. Die Indizien für einen bevorstehenden Anschlag überwiegen die dagegen sprechenden Annahmen. Zu jedem Zeitpunkt besteht die Gefahr einer Zündung. Am Ende lief das Training darauf hinaus, dass der am nächsten stehende Beamte den Attentäter in der U-Bahn mit einem gezielten Schuss zwischen die Augen ausschaltete. Plötzlich spürte Harald einen unangenehmen Druck, der von seiner Waffe in seinem Schnellziehholster am Bauch, ausging. War heute der Tag, den er niemals erleben wollte?

An dieser Stelle möchte ich Ihnen die Gelegenheit zum Nachdenken geben. Wie würden sie sich entscheiden? Welche Informationen bräuchten Sie für die Abgabe eines tödlichen Schusses? Greifen Sie nicht ins Geschehen ein, passiert entweder gar nichts, dann haben sie Glück gehabt, oder der Attentäter zündet und mehrere Menschen sterben. Da Sie sich unmittelbarer Nähe befinden, werden Sie sich um eine Diskussion über ihr Handeln keine Sorgen mehr machen müssen. Schalten Sie den mutmaßlichen Täter aus, verhindern Sie möglicherweise eine Katastrophe. Anderenfalls gehen Sie als irrer Killer in die Geschichte ein, weil Sie einen harmlosen religiösen Spinner hingerichtet haben, der mit seiner Schmutzwäsche auf dem Weg zur Reinigung war.

In welche Richtung gehen wir als Gesellschaft? Nicht nur religiöse Extremisten kündigen heutzutage vollmundig Gewalttaten an. Das Internet ist voll mit mit den übelsten Drohungen. Karl – Heinz und Elfriede drohen in den Sozialen Netzwerken mit allen nur erdenklichen Hinrichtungsmethoden.
Anonyme Schreiberlinge verfassen Morddrohungen in E-Mails oder krakeelen auf der Straße herum. Wir haben uns daran gewöhnt, dass dem Geschwätz dieser Menschen keine Taten folgen. Doch wer gibt uns eine Sicherheit? Ist es normal, dass ich niemanden mehr beim Wort nehme?
Ist es richtig, dass in Deutschland jeder drohen kann, aber keine ernsthaften Konsequenzen befürchten muss? Wie passt die immer stärker werdende Waffenlobby dabei ins Bild? Mit der Anzahl der bewaffneten Wutbürger steigt auch die Zahl der potenziellen Umsetzer einer Bedrohung.
Zu welcher ethischen Antwort kämen Sie, wenn ich Ihnen eine Waffe gäbe? Wann würden Sie sie benutzen? Ausschließlich zur Selbstverteidigung? Oder nur zum Schutz eines anderen, der konkret bedroht wird? Wie sicher müssten Sie sich sein, dass sie mit der Waffe nicht töten, sondern kampfunfähig schießen? Kann es diese Sicherheit geben? Immerhin zielen Sie nicht im Schützenverein auf eine Pappscheibe, sondern auf einen sich hektisch bewegenden Menschen. Wann wären sie bereit gezielt zu töten? Sind Sie überhaupt bereit dazu? Was für ein Typ Mensch sind sie? Ich frage sie nicht nach dem Menschen, der sie gern vorgeben zu sein. «Dem würde ich …!» Das ist Geschwätz!
Nehmen wir an, es gäbe zu Baumann Informationen, die bekannt sein könnten, aber an einem Sachbearbeiter in einem Jobcenter hängen blieben. Was wäre, wenn sich Baumann vor seinem Umzug nach einer Arbeit umgesehen hat? Nach einer eingehenden Beratung könnte er eingesehen haben, dass er mit seinem Äußeren keine Chancen hat.

Der steigende Bedarf nach privaten Sicherheitsdiensten, hat dazu geführt, dass sich auf dem Markt dubiose Anbieter tummeln. Längst haben die Arabischen Clans dieses Feld für sich erkannt. Sie haben kein Problem mit einem Konvertiten, wenn er sich passend kleidet. Dem Sachbearbeiter ist es wichtig einen Fall weniger auf dem Schreibtisch zu haben. Warum sollte er Baumann nicht eine Stelle bei einem derartigen Dienst vermitteln? Von all den Geschichten, die sich im Hintergrund abspielen weiß er nichts. Im Endergebnis würde Baumann auf einen Freund warten, der wie er auf den Weg zum ersten Arbeitstag am BER ist. Damit es nicht wieder Probleme mit dem Akku gibt, hat er das Telefon vorsorglich mit der Powerbank in seinem Rucksack verbunden. In der Nacht zuvor freute er sich über 700 Zugriffe auf seinen Youtube Channel.

Nicht nur, dass er seine Wut auf die Gesellschaft herausgelassen hat, sondern mit der Werbung hat er bares Geld verdient. Harald, Krüger und der Rest wüssten von alledem nichts.

Eventuell kommt alles völlig anders. Baumann hat sich radikalisiert, diese Information ist sicher. Aber wozu ist er bereit? Dazu ein Beispiel aus der Realität.
Stellen Sie sich einen Islamisten aus dem Irak vor, der dort ein Mitglied der Regierung töten wollte. Über Umwege landete er in Deutschland und schnell im Gefängnis.
Nach seiner Freilassung bekam er eine sogenannte elektronische Fußfessel. Fort an, durfte er sich ausschließlich innerhalb eines festgelegten Bereichs bewegen. Anfangs hielt er sich daran. Nach einiger Zeit bemerkte er allerdings, dass Verstöße lediglich zu Besuchen von böse dreinblickenden Polizisten führten. Immer häufiger dehnte er seine Streifzüge aus. Manchmal wurde er dabei observiert. Niemals passierte etwas aufregendes. Bis zu dem Tag, der seiner werden sollte.
Er setzte sich mit schlechter Laune in einen Bus. An jenem Dienstag, muss ihn etwas gestört haben. Jedenfalls begann er zum Missfallen der anderen Fahrgäste im Bus lautstark zu beten. Der Busfahrer komplementierte ihn daraufhin heraus. Auf der Straße hatte der Mann richtig den Hals voll und zog ein Messer. Die alarmierte eintreffende Streife hatte von seiner Vorgeschichte keine Ahnung. Erinnern sie sich an Frau Renate Künast und ihren Kommentar auf Twitter? Sie konnte nicht nachvollziehen, dass ein Polizist sich gegen einen Angreifer mit einer Axt, mit einem tödlichen Schuss wehrte. In Berlin verhielten sich die Polizisten, wie Politikerinnen es sich vorstellen. Das ging gründlich schief. Am Ende lagen zusätzlich zum getöteten Extremisten zwei Polizisten in der Notaufnahme. Was ist mit Baumann? Wer sagt Harald, dass der nicht unter Umständen ein Messer zieht um auf die Fahrgäste einzustechen?
Wenn Sie das nächste Mal von Polizeigewalt sprechen oder einer aus ihrem Bekanntenkreis darüber schwadroniert, denken sie an diese Geschichte.

Da draußen tobt eine Art Krieg. Einer, an dem sie nicht teilnehmen. Das übernehmen für Sie Andere.

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