2 Juli 2022

Immer noch illegal

shallow focus photography of cannabis plant Lesedauer 8 Minuten

In Sachen Cannabis ist die aktuelle Ampel-Koalition mit einem großen Wählerversprechen angetreten: Wir werden Cannabis legalisieren. Allerdings scheint bisher nicht einmal eine Entkriminalisierung in Sicht zu sein. Ich erwartete nichts anderes. Ein Land, in dem sich selbst der Verkauf gängiger Schmerzmittel kompliziert gestaltet, tut sich schwer damit. Wenn ich in Polen an einer Kasse stehe und dort Aspirin neben Ibuprofen liegen sehe, frage ich mich stets, ob deutsche Zeitgenossen und Genossinnen mit politischen Gestaltungswillen, ihre Mitmenschen für besonders dämlich halten, oder sie ihre Rolle ein wenig zu erzieherisch anlegen.
Ich kann mich seit meiner Jugend an keine Zeit erinnern, in der Drogen nicht irgendwie eine Rolle spielten. Auf den Partys wurde mit der Pubertät Alkohol getrunken und die ersten Joints gingen herum, als ich um die 16 Jahre war. Mit Mitte der 80er kombinierten die ersten Freunde Kokain, MDMA, XTC, Alkohol und Cannabis. Jetzt wo ich nochmals die Zeit Revue passieren lasse, fällt mir ein, dass zwei Mitschüler bereits in der 7en Klasse Klebstoff schnüffelten. So viel ich weiß ist einer von beiden „abgedriftet“ und der andere wurde später Drogenberater. Einige Grundregeln lernte ich in all den Jahren: „Nicht die Droge sucht sich den Konsumenten, sondern es läuft andersherum.“ Gleichsam gilt: „Ob jemand süchtig wird, ist in der Persönlichkeit begründet und hat sekundär etwas mit der Substanz zu tun.“ Nunmehr bin ich Vater von zwei erwachsenen Töchtern. Aus Überzeugung heraus begann ich bei beiden recht früh mit einer offenen Aufklärung über Drogen. Mir war dabei immer bewusst, dass diese Verbotsfaselei im günstigsten Fall unbeachtet verhallt; im schlechtesten kontraproduktiv ist. Ich sagte ihnen Dinge wie: „Ihr werdet Alkohol trinken, das ist sicher. Aber wenn ihr trinkt, gebt dem Zeug eine Chance für die Wirkung. Ein Glas, warten, kurzer Body – u. Gehirnscan, dann kann es weiter gehen. Wenn ihr andere Drogen nehmt, bleibt dabei niemals alleine und Finger weg von den Sachen, die ein Chemiestudent im 4en Semester zusammen kocht.“ So weit ich noch einen Einblick in ihr Leben habe, scheint mein Plan aufgegangen zu sein. Ich halte nichts von Wunschvorstellungen, die sich jenseits der realistischen Verhältnisse befinden. Insofern es mir möglich war, beschrieb ich ihnen die Wirkungen der in unseren Breitengraden kursierenden Drogen. Mir wurde in der Jugend eine Menge Humbug erzählt. Cannabis, LSD, Captagon, XTC, Kokain, Heroin, wurden zum bösen Einheitsbrei, während Alkohol, kontrolliert eingenommen, durchging. Erst mein Onkel, schwer heroinabhängig, sagte mir eindringlich: „Alles begann mit dem ersten Bier!“ Das Bedürfnis nach Zugehörigkeit, vielleicht der Reiz einer Welt jenseits des als spießig empfundenen Elternhauses, ein Eindruck, der oftmals aus dem Versteckspiel gegenüber den Kindern resultiert, die Flucht vor einem Leben, welches einem seitens der Gesellschaft aufgedrückt wird, aber ziemlich unmenschlich wirkt, sind beim Einstieg die wichtigen Faktoren. Aber auch die Frusttoleranz, die Fähigkeit, mit Kummer, Trauer, Liebe, Emotionen, umgehen zu können, gehören dazu.

Das Einnehmen von Drogen unter Strafe zu stellen, ist ein bemerkenswertes Konstrukt. Immerhin schädigt sich jeder mit der Einnahme ausschließlich selbst. In allen anderen Gesetzen geht es immer darum, mittels Strafandrohungen Schaden von anderen abzuwehren oder bereits entstandenen zu sühnen. Nun gut, das passt zur Geschichte des Verbots. Nachdem religiöse Eiferer im Schulterschluss mit Industriellen am Alkoholverbot gescheitert waren, erschien plötzlich eine komplette US-amerikanische Behörde gegenstandslos. Der Alkohol minderte aus Sicht der Industrie-Bosse die Arbeitskraft der armen Männer und Frauen, die unter heute inakzeptablen Verhältnissen schufteten. Die Fanatiker sahen die Gottesfürchtigkeit gefährdet. Aber ein Al Capone begriff, dass das ein Kampf gegen die menschliche Natur werden würde und machte ein Geschäftsmodell daraus. Doch, wenn die kollektiv schwer in ihrer Persönlichkeit gestörten amerikanischen Evangelikalen und Rechts-Konservativen schon nicht den Alkohol verbieten konnten, gab es immerhin noch dieses böse Kraut, welches all die rauchten, die quasi den Gegenentwurf lebten. Wie immer in solchen Fällen wurde eine gigantische Propaganda-Kampagne gestartet. Bis heute wirkt sie nach. Cannabis-Raucher/innen sind faul, langsam, desinteressiert, vergesslich und sind schwer für Anstrengungen zu begeistern. Mit anderen Worten, der Albtraum des kapitalistischen Bürgertums. Während bei den Trinkern und Trinkerinnen die Werbebranche beidbeinig ins Geschäft sprang und den Alkohol zu einem Elixier des Erfolgs, Genussmittel und angeblichen Kulturgut werden ließ, dämonisierte man Cannabis. Die jährliche Krönung einer Cannabis-Königin, Messe-Verköstigungen mit aufgedonnerten Hostessen und Männern in abgewetzten Anzügen, sonst Alkoholiker, an der Stelle dann Hardcore-Bong-Raucher, die die Vorzüge der frischen Ernte anpreisen, sind schwer vorstellbar. Die Pflanze passt einigen anderen über das Rauschmittel hinaus nicht ins Konzept. Sie ist ein Multitalent und greift in mehrere Geschäftszweige hinein. Die Fasern sind in diversen Anwendungsbereichen synthetischen Produkten ebenbürtig und darüber hinaus kein schädlicher Eingriff in die Ökologie.
Ich denke, beim Verbot gehen einige miteinander Hand in Hand. Da wären die Missionare und Missionarinnen, welche davon beseelt sind, dem Rest der Welt ihre Vorstellungen aufzudrücken. Sie sind in die Politik und in die Ämter gegangen, um hierfür die notwendigen Machtmittel zu bekommen. Ich habe noch nie verstanden, was Menschen antreibt, die sich in die ureigensten Belange anderer einmischen. Solange jemand mit seinen Handlungen bei sich bleibt, kann sie/er tun und lassen, was sie/er will. Relevant wird es erst, wenn ein/e zweite/r involviert ist. Wer Drogen nehmen will, soll es tun und wer sich das Leben nehmen will, kann dies auch machen. Alledem geht eine lange Geschichte voraus.

Drogen lassen sich niemals getrennt von den gesellschaftlichen Prozessen betrachten. Noch heute ist es in vielen Kreisen ein Zeichen von Stärke, wenn man große Mengen Alkohol verträgt. Alkoholkonsum ist an der Stelle ein Spiel. Mitspieler sind die Trinkenden, das Barpersonal und die kritisierenden Mitmenschen. Man trifft sich, trinkt, baut Mist, der später als lustige Suffgeschichte verkauft wird, erwacht und holt sich den Ärger der Leute ab, die einen verkatert ertragen müssen. Oder es handelt sich um das ungezwungene Gespräch nach dem strengen Protokoll, bei dem endlich mal Tacheles gesprochen wird. Wer keinen Alkohol trinkt, wird schräg angesehen. Im Gegenzuge habe ich noch keine „Kiffergelage“ erlebt, bei dem ein Wettstreit über die Anzahl der gerauchten Joints oder Bongs ausbrach. Kokain taucht meistens in Kombination mit Alkohol auf. Es ermöglicht ein Trinken weit über das normale Limit hinaus. Das passt wunderbar zum Lifestyle der Hedonisten. Schneller Erfolg, hartes Business, schnelles Geld, keine Moral oder Ethik, immer auf der Autobahn unterwegs. Am besten noch mit dem Laptop im Zug schnell die Präsentation vorbereiten, die Aktienkurse verfolgen, sich bei der Frau entschuldigen, schnellen unkomplizierten Sex mit Gleichgesinnten, eben alles, was in einigen Kreisen als Erfolgsnummer gilt.

Wenn man sich mit Befürwortern der Drogenkontrolle unterhält, lohnt es sich, sie ein wenig intensiver auszuleuchten. Warum sehen sie sich dazu berufen, eine Unterscheidung vorzunehmen und auch noch unter dem Deckmantel andere schützen zu wollen, ein Verbot erlassen? Ein Verbot, welches Geldstrafen, Haftstrafen, jede Menge Ärger, Beschädigung des Images, Zerstörung beruflicher Laufbahnen und Biografien, nach sich zieht. Ganz nebenbei auch Verbote, die erst einen Anreiz bedingen. Ist dies alles wirklich ein Schutz? Wenn ich einem Jugendlichen, dem ich das Rauchen verboten habe, eine Ohrfeige gebe, erreiche ich dann etwas? Wäre nicht die Frage, warum es dazu gekommen ist und welche Motive den Antrieb gaben, viel besser? Und ist die verbietende Person Abstinenzler? Ich erlebte mal Michel Friedman bei einem Vortrag vor Freimaurern. Das Thema lautete: Angst! Er sagte dort: „Meine Angst vom Rauchen Krebs zu bekommen, wird von der Angst übertroffen, wie ein Nichtraucher zu werden.“ Die Haltung kann ich nachvollziehen. Ausnahmen bestätigen die Regel, aber oftmals neigen die zur Intoleranz und einem penetranten Sendungsbedürfnis. Kaum einer lebt in einer industrialisierten Gesellschaft ein wirklich dem menschlichen Wesen und seiner Gesundheit zuträgliches Leben. Da mische ich mich bei denen auch nicht ein.
Menschen sind in der Regel nicht echte Altruisten. Aus allem, was wir tun, ziehen wir in irgendeiner Form unsere Befriedigung. Sei es nur, dass ich einem anderen Menschen helfe, um mich damit besser zu fühlen. Ich kann es aber auch lassen und mir damit suggerieren, was ich doch für ein harter Hund bin, der emotional über den Dingen steht. Die sich da ihn Verboten ergehen, wollen sich auch die Befriedigung für ein Bedürfnis einholen. Gleiches gilt für Regulierungen. Bereits die Option, dies überhaupt tun zu können, setzt sie ein bis zwei Etagen über die anderen. Meiner Erfahrung nach, ein ziemlich starker Antrieb. Insofern die Notwendigkeit besteht, weil es das soziale Leben zu regeln gilt, lasse ich mir das gefallen. Aber nicht, wenn es um das pure Selbst geht. Mir wäre neu, dass sich diese Leute um andere Belange ähnlich umfassende Gedanken machen. Die Entfremdung, die immer komplizierte werdende Suche nach einer Identität, dem tatsächlichen Wirken in der Gesellschaft, die Reduzierung von Stress, der ernstgemeinte Ansatz, die Ungerechtigkeiten und Ungleichheiten anzugehen, welche Millionen von Menschen in ein Leben treiben, welches als äußerst ungesund zu bezeichnen ist, sparen sie aus.

Prohibition funktioniert ausschließlich über Macht, Machtmittel, Gewaltausübung, willkürlicher Auswahl, und mittels Zeitgenossen, die bereit sind, damit zu arbeiten. Deshalb muss ich mir beide Seiten anschauen. Es erscheint mir fraglich, ob diejenigen, welche sich dazu berufen fühlen, frei von bedenklichen Störungen sind. Wären sie es, gelte ihr Anspruch einer Überzeugungsarbeit, der Veränderung der bedingenden Faktoren und der realistischen Hinnahme der menschlichen Natur. Drogenkonsum zu verbieten kommt einem Gesetz gleich, in dem bei Strafe die Onanie untersagt wird. Dabei auch noch ausgerechnet den wahrlich schädlichen Alkohol und Nikotin zu erlauben, ist schlicht absurd.
All die ganzen Studien zum Thema Drogen sind meiner Auffassung nach Müll. Ein voll entwickelter Mensch weiß um die Schädlichkeit von Giften. Bereits Paracelsus formulierte die berühmten Worte: “Alle Dinge sind Gift, und nichts ist ohne Gift.” Allein die Dosis macht, dass ein Ding kein Gift ist.” Sei es nun Cannabis oder Alkohol, von einer völligen Unschädlichkeit auszugehen, passiert vermutlich sehr wenigen Menschen. Oftmals sind bei Drogen Doppelwirkungen bekannt. Mal wünscheswerte positive bzw. u.U. heilende Wirkungen, andererseits schädliche die Gesundheit gefährdende. Auch ohne Arzt oder Wissenschaftler zu sein, vermute ich einen schwierigen Nachweis, was denn nun im Leben eines Menschen zum Beispiel konkret eine Psychose auslöste oder den Nährboden bereitete. Rein subjektiv betrachtet erscheint mir der Alkohol als eine der übelsten Drogen. Ob legal oder illegal, ist er recht schnell verfügbar und bietet beim Missbrauch, schnell die erwünschte Wirkung an, die relativ einfach aufrecht erhalten werden kann. Kurz: Je nach Problemfeld schießt er die Leute zuverlässig ab. Heroin bedarf einer gewissen Überwindung und die Wirkung ist zeitlich ziemlich begrenzt, so dass ein neuer Schuß notwendig wird. Aber wie auch immer geht es beim Missbrauch stets um das ausklinken. Ein Therapeut fragte mich mal, ob mir mal die Ähnlichkeiten zwischen einem Säugling und einem Alkoholiker aufgefallen sind.
Sich mit Cannabis völlig aus dem Rennen zu nehmen, ist eher schwierig und wäre nicht meine erste Wahl. Dabei fällt mir bei Cannabis-Konsumenten immer wieder die hohe Anzahl Intellektueller, hervorragend ausgebildeter Leute und die damit verbundene Empathie auf. Doch auch bei Cannabis sollte man wissen, was man da tut. Etwas schräg ist die offizielle Bewertung im Verhältnis zu Alkohol. Mir ist die egal. Jugendliche Trinker sind mit absoluter Sicherheit in jeder Hinsicht gefährdeter, abgesehen von anderen aufputschenden Drogen, als alle anderen. Was sie in Gefahr bringt, der Verkehr, die Aggressivität, die Enthemmung oder die toxische Wirkung ist dabei irrelevant. Verbote bringen weiterhin eine Dynamik mit. Ganz praktisch erlebte ich das in Malaysia. Die Underground-Szene der Jüngeren, welche sich durch die restriktiven Bedingungen der muslimisch geprägten bürgerlichen Gesellschaft, exzessiv Drogen zu wenden, bevorzugen i.d.R. Cannabis. Durch die Verfolgung kommt es entweder zu einem Mangel oder sie weichen aus Angst vor gezielten Urin-Kontrollen auf andere Drogen aus, die nicht getestet werden. Oftmals ist dies ein Cocktail aus heimischen Pflanzen, Pilzen und Medikamenten. Der Weg zum Heroin ist dann nicht mehr weit. Therapieeinrichtungen existieren fast gar nicht und wenn doch, wird meistens die Droge durch religiösen Fanatismus eingetauscht. Zwischen Drogenmissbrauch und dem genannten reiligiösen Fanatismus ist ein schmaler Grat. Begründet ist dies in der Ursache für den Missbrauch. Die Religion soll Antworten geben und den Druck aus der Seele nehmen.

Mir erscheint eine gesellschaftliche Analyse und Behebung der den Missbrauch bedingenden Misststände deutlich zielführender, als Repression und Prohibition. Sag mir, welche Drogen in einer Gesellschaft bevorzugt konsumiert werden und ich erzähle Dir, wie der Zustand des jeweiligen Systems aussieht. Ein gewisses Maß an Konsum wird es immer geben. Leider gibt es kaum Anzeichen dafür, dass über eine Analyse hinaus auch Änderungen angestrebt werden. Viel einfacher ist die Repression und Geld lässt sich damit auch ganz gut verdienen. Ebenso wachsen in unserem Gesellschaftssystem stetig Charaktere heran, die sich mangels natürlicher Autorität und Überzeugungskraft, über institutionell vergebener Macht definieren und sich durch die beschriebenen willkürlichen Verbote, über andere erheben. Ehrlicherweise muss ich anfügen, dass ich mittlerweile davon überzeugt bin, dass ein beklagenswerter Zustand eingetreten ist, der Änderungen äußerst gefährlich werden lässt. Große Anteile der Gesellschaft haben sich daran gewöhnt und verlernt, anders zu leben. Was nicht verboten wurde, ist erlaubt und kann nicht schädlich sein. Über Jahrzehnte hinweg wurde in beiden deutschen Staaten auf unterschiedliche Art und Weise alles an die Institutionen und deren Verwaltungen übergeben. Parallel wirkt auf alle seit Jahrzehnten ein Kanon von Manipulationen ein. Aber gut, meine Haltung zum Kapitalismus und den Auswirkungen ist jedem, der ab und zu hier mitliest, hinreichend bekannt.

Die Cannabis-Lobby setzt auf den Kapitalismus. Ich bin da skeptisch. Bei einer Legalisierung verdienen Neue und alte Alte erfahren Einbrüche. Letztere werden sich zu verteidigen wissen. An der Prohibition hängt weltweit ein riesiger Apparat, der über Jahrzehnte gewachsen ist. Der gibt nicht einfach kampflos auf.

17 Februar 2021

Die Kinder vom Bahnhof Zoo

Lesedauer 2 Minuten

Sie legen die Geschichte nochmals neu auf. 2021, in einer Zeit der Influencer, Oberflächlichkeit, billigem Trash, der Empörung über alles, der Hochstilisierung, der Spaltung zwischen Hochhaussiedlungen am Rande der Stadt, den selbstgefälligen Kindern des Bürgertums und den Etablierten jenseits von Gut und Böse in ihren Elfenbeintürmen.

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Ich habe Beton vor Augen. Stinkende Urinpfützen in der Ecke des Fahrstuhls, jeder Knopf bis zur 10en Etage ist angekokelt, im Treppenhaus hat einer seine Notdurft verrichtet. Junge Männer und Frauen liegen tot mit ausgewaschenen Jeans im Neonlicht auf den Fliesen von Bahnhofs – Toiletten in schwarzen Blutlachen. Die eigentümliche Akustik des “Sound” und des “Ballhaus Tiergarten” erklingen wieder in meinen Ohren. Leere Augen mit gesenkten Lidern schauen mich an und das letzte übriggebliebene Menschliche grüßt mich mit schleppender Sprache. Leere, eine abgrundtiefe Leere, so unendlich dunkel, wie man es sich nicht ausdenken kann. Nichts hat mehr Bestand. Keine Moral, Ethik, Freundschaft, Liebe, Nähe, Vertrauen, Rücksicht, Frauen, Kinder, Alte, die Hölle des Mittelalters hat Gestalt angenommen. Kein Glauben an irgendetwas kann das überleben.

Vierzehnjährige schminken sich und machen für fünfzigjährige Familienväter auf der Rückbank neben der neuesten Erfindung der Autoindustrie, dem Kindersitz, die Beine breit. Das, was man Gesellschaft nennt, zeigt mir die nackte ungeschminkte Fratze. Verlogenheit, Brutalität, pornografischer Egoismus, irgendwo dazwischen ein wenig Liebe und Eifersucht, dann wieder der nackte Mensch, so wie er ist.

Auf dem Zenit der Dekadenz, der absoluten Machtvollkommenheit des Kapitalismus, in der alles zum Produkt geworden ist und der Mensch von damals geblieben ist, was er ist, aber wenigstens noch die Verzweiflung nicht mehr ertrug, die Abgründe endgültig aus der Sicht an den Rand der Städte und der Republik verdrängt wurden, wie der unansehnliche Komposthaufen im Garten, drehen nette saubere Kinder des Bürgertums eine Geschichte in Form einer Serie ab. Zeitgerecht, farbig … der Horror als mediales Ereignis.

Nein, ich will mit dieser Dekadenz nichts zu tun haben …

16 Februar 2021

Drogen … kein Ende des Wahnsinns in Sicht

Lesedauer 5 Minuten

Ich schrieb schon einige Male Beiträge zum Thema. Nunmehr werden wieder neue Kampagnen seitens der Bundesdrogenbeauftragten Daniela Ludwig initiiert und es wird nicht besser. Ich persönlich empfehle der Frau das Studium der Publikationen der Bundeszentrale für politische Bildung, die um das Hundertfache fundamentierter auf die Thematik eingeht, denn sie als Beauftragte. Drogenkonsum begleitet die Menschheit bekanntlich seit Anbeginn der Entwicklung. Haschisch, Kokain, Meskalin, Tabak, Alkohol, werden seit mehreren tausend Jahren in unterschiedlichen Zusammenhängen konsumiert. Dies unter Strafe zu stellen, fiel den ersten ein, weil ihnen die Nebenaspekte nicht gefielen:



” Die politische Problematisierung psychotroper Substanzen begann in der Frühen Neuzeit: Anfang des 17. Jahrhunderts war es dem osmanischen Sultan Murad IV. unerträglich, dass die Tabak- und Kaffeehäuser nicht nur Orte des entsprechenden Konsums, sondern zugleich Zentren öffentlicher Diskussion und mithin Orte der Kritik und Opposition geworden waren. Daher ließ er 1633 alle Tabakhäuser niederreißen und belegte das Tabakrauchen mit der Todesstrafe. Bei der Fahndung bediente er sich moderner Methoden, etwa der verdeckten Ermittlung und des Scheinkaufs. Das Vermögen der Hingerichteten fiel an den Sultan …”

Bundeszentrale für politische Bildung, Vgl. J.G.H., Das beliebte und gelobte Kräutlein Toback, Leipzig 1975 [1719], S. 161.


Auch damals ging es nicht um die Gesundheit der Menschen, sondern um handfeste politische Interessen. Ebenso spielten die Politik und noch mehr die Wirtschaft im I. und II. Opium Krieg die entscheidenden Rollen. Insbesondere bei den alten Drogen, chemisch unbehandelt, ist eins nüchtern festzustellen: Es sind Pflanzen, die die Natur hervorgebracht hat. Wie jeden anderen Baum, Gräser, Mose, Pilze und Blumen. Demnach ist festzustellen, dass seitens Regierungen nicht mehr und nicht weniger passiert, als das sie in diesen Fällen Pflanzen verbieten.

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Ich schrieb von unterschiedlichen Zusammenhängen. Wenn es den Mächtigen gefällt, erlauben sie Drogen, entwickeln sie weiter oder verteilen sie freizügig. Im Dritten Reich war eine ganze Nation auf Droge. Zunächst wurden ab 1940 die Soldaten der Wehrmacht mit Metamphetamin Pervitin versorgt und die trugen es weiter an die Bevölkerung an der Heimatfront. Die US Army experimentierte umfangreich mit LSD und in Vietnam hielten sich die Soldaten mit Heroin über Wasser, welches sie dann in Berlin – West als “Berliner Tinte” an die Pusher verkauften.

Wir alle sind in eine Struktur eingebunden. Eine Vielzahl kommt mit den Anforderungen, die es an die Menschen stellt, nicht klar. Deshalb nehmen sie entweder Drogen zur Leistungssteigerung und Selbstoptimierung, zur Bekämpfung von Krankheitssymptomen oder eben zur Verhinderung einer Erkrankung. Eine weitere Personengruppe leidet an Krankheiten, bei denen sich die Medizin wieder auf alte Behandlungsmethoden besinnt. Hinzu kommt der Drogenkonsum, welcher auf der Kultur basiert, die dieses System nach und nach formt.

Leistungssteigernde Drogen sind passend zum System legal oder wenigstens unter der Hand anerkannt. Beispielsweise kann Kokain in verschiedenen Gesellschaftsschichten genauso wenig entfernt werden, wie der tägliche Kaffee Konsum. Cannabis hingegen, mit seiner richtig angewandt, entspannenden Wirkung, ist illegal und wird bewusst und gezielt diskreditiert. Ein Schelm, wer da an die Wirtschaft und ein gewünschtes über das Verträgliche gesteigerte Pensum eines Beschäftigten denkt. Viele Arztpraxen in Deutschland sind Reparaturwerkstätten für humane Maschinenteile, die so lange auf Vordermann gebracht werden, bis sie auf dem Schrotthaufen landen. Wer ernsthaft einen verträglichen Konsum von Drogen im Sinn hat, muss sich einige Gedanken mehr machen. Doch die würden in äußerst unerwünschte Gefilde führen. Es kommt nicht von ungefähr, dass wirklich erfolgreiche Therapien selten ins alte berufliche Umfeld zurückführen. Therapeuten, die Patienten analog zu mechanischen Teilen in einer Maschine passend einstellen, müssen dies mit ihrem eigenen Gewissen ausmachen.

Doch wenn ich schon nichts an den bedingenden Voraussetzungen verändere, einen Teil der Bevölkerung völlig willkürlich zu kriminalisieren und damit außerdem unbescholtene Menschen und die Polizei aufeinanderzuhetzen, ist eine widerliche Perversion der Macht, die Opfer fordert. Cannabis Konsumenten werden vor Gericht gezerrt und mit Geldstrafen überzogen, während sich der Rechtsanwalt völlig legal auf der Toilette einen Korn zur Beruhigung des Tremors genehmigt. Geld, welches erst einmal verdient sein will und deutlich sinnvoller angelegt werden könnte. Es ist kein Geheimnis, dass Cannabis quer durch die Gesellschaft konsumiert wird.

Nur dumme Politiker verbieten Cannabis.

Andreas Müller, Jugendrichter
Andreas Müller, Jugendrichter

Doch mich auf Cannabis zu beschränken geht mir nicht weit genug. Jede Sucht ist zum Ersten eine Krankheit und zum Zweiten gibt es die sogenannte Sozialverträglichkeit oder die Hilflosigkeit. Wer eine Droge nimmt und damit leben kann, soll gefälligst als freier Mensch in Ruhe gelassen werden, gerät sie oder er ins Straucheln, besteht der Anspruch auf Hilfe, wie bei jedem anderen Kranken auch. Wir verbieten keinem Bodybuilder sich die Knochen kaputtzumachen. Niemand wird wegen Völlerei und Adipositas festgenommen. Keine oder keiner bekommt eine Haftstrafe, wenn der Drang besteht, sich wie auch immer selbst zu schädigen. Niemand wird für Tablettensucht vor einen Richter gestellt. Last but not least, bekommt keine/r eine Strafe, wenn sie/er sich im wahrsten Sinne kaputt arbeitet.

Ich lasse mir jedes Verbot zur Regelung der menschlichen Unvernunft gefallen, wenn die daraus entstehenden Schäden weit über das Individuum hinaus gehen und u.U. sogar ganze Nationen bzw. alle Lebewesen treffen, aber nicht, wenn es um die Selbstschädigung eines kognitiv präsenten Menschen geht. Was der mit seinem Leben veranstaltet ist seine persönliche Angelegenheit, auch wenn für mich das Verhalten unverständlich ist. Was da bei einigen Politikern durchschimmert, ist nicht Dummheit, sondern die Hybris, über das Schicksal anderer Menschen entscheiden zu dürfen. Mehr noch, dass Individuum in eine Position der Verpflichtung zu stellen, in der es alles zu tun und zu unterlassen hat, damit es für das Volk, die Nation und die Wirtschaft gesund bleibt. Ein äußerst schwieriges Verhältnis zur Macht, welches in Deutschland eine Vergangenheit hat.

Rein argumentativ hat die Bundesdrogenbeauftragte nicht viel zu bieten. Sie sagt, dass sie keine dritte Volksdroge neben Alkohol und Tabak braucht. Bemerkenswerterweise benutzt sie hierbei die ICH – Form. Außerdem lässt sie alle anderen legalen Volksdrogen, zum Beispiel die Psychopharmaka, Schmerz – und Schlaftabletten außen vor. Weiterhin wäre es die Aufgabe, gefährliche Substanzen zu verbieten. Nun, da dürfte sie mit der Erstellung eines Katalogs mehrere Jahrzehnte beschäftigt sein. Nicht mal, wenn sie sich auf die Rauschsubstanzen beschränkt, kann sie Erfolg haben, die Grenzen der menschlichen Kreativität sind bekanntlich sehr weit gesteckt.
Entscheidend ist, dass ein ganz anderes Ziel, ein unmöglich erreichbares, verfolgt wird. Sie und Gleichgesinnte wollen in die menschliche Natur mit Verboten eingreifen. Sie fügt noch hinzu, dass die Legalisierung einer Unbedenklichkeitsbescheinigung gleich kommt. Dialektisch betrachtet ist demnach alles Verbotene gefährlich und alles Erlaubte, ungefährlich. Dabei ist aber das Verbotene eine menschlich erzeugte Teilmenge vom unübersehbaren Vorhandenen. Sie argumentiert mit der toxischen Rhetorik: Alles ist erlaubt, was nicht verboten ist.
Erlaubt sollte in erster Linie sein, was ein Mensch unter Berücksichtigung eines ethisch vertretbaren Rahmens verantwortlich vertreten kann. Es ist erlaubt einen 6 – jährigen eine Dampfwalze fahren zu lassen, trotzdem kommt keiner auf diese Idee. Was allerdings der Fall ist, dass sogenannte Steuervermeider zusammen mit gewieften Juristen stets neue Lücken suchen, die erst nach geraumer Zeit in die Verbotszone geschickt werden, immer der Rhetorik folgend: erlaubt ist, was nicht verboten ist.

Fakt ist, dass sie zusammen mit Vorgängern/innen und Politikern über Generationen hinweg, Leid, Horror, Tod und Verderben über zig Menschen inklusive ihrer Familien gebracht hat und werden. Dies alles mit einem Gebaren, welches sich am besten mit einem kleinen Trick deutlich machen lässt. Das Gesagte ist ein Teil der Kommunikation. Meistens völlig überschätzt. Spannend ist die Körpersprache. Die ist gut erkennbar, wenn man einfach mal den Ton wegschaltet und die/den Redner/in auf sich wirken lässt. Ich kann dies aus meiner beruflichen Erfahrung heraus empfehlen. Deshalb am Ende noch ein Video. Einfach mal auf lautlos stellen.

19 Februar 2018

West – Berlin vs. Provinz

Lesedauer 6 Minuten

Iggy`s unnachahmliche Stimme gab sich gestern Abend alle Mühe durch die auf eine gefällige Lautstärke regulierten Boxen die Geschichten über Sex, Drugs and Rock ‘n’ Roll zu erzählen. Brav bewegte sich die in die Jahre gekommene Generation der Achtziger zum aggressiven Gitarrenspiel der Stooges und versuchte den Rhythmus des hämmernden Schlagzeugs einzuhalten.

Ich schloss die Augen und ließ die Bilder von damals auf meiner inneren Leinwand erscheinen. Ich war wieder im Rocket. Um mich herum war alles schwarz, gleißendes weißes Licht zuckte durch den Nebel aus Zigarettenqualm.
Auf der Tanzfläche tanzte die Meute den Pogo. Sie trugen schwarze abgewetzte Lederjacken und vom Kopf standen die bunten Haare stachelig ab. Frauen mit kurzen Röcken, zerrissenen Strümpfen und Springerstiefeln kümmerten sich um in den Ecken liegende blasse Typen.

Ich öffnete die Augen wieder. Als Erstes sah ich einen sich langweilig dahin wiegenden Endvierziger mit vor Gähnen weit aufgerissenen Mund. Seine attraktive jüngere Freundin war bemüht mit ihren Bewegungen einen guten Eindruck zu erwecken. Daneben tanzte ein Typ mit Bundfaltenhosen und Pullunder, als wenn der DJ Helene Fischer aufgelegt hätte. Vor ihm tarierte eine in ein rotes Kleid hinein geschossene untersetzte Blondine ihren dicken Hintern auf ein paar Pumps aus. Ich ließ mir vom Barkeeper noch ein Bier geben. Danach fingerte ich aus der Zigarettenschachtel in meiner Jackentasche eine Zigarette heraus und schob mich zwischen die Tanzenden hindurch in Richtung Raucherecke.

Von hinten tippte mir jemand auf die Schulter. Ich blieb stehen. Ein Typ, der wie ein Versicherungsverkäufer am nächtlichen Tresen einer Pension in der Provinz aussah, fasste mich bei der Schulter und sprach mir mit schwäbischen Dialekt ins Ohr: «Du weißt schon, dass Du denna nicht Rauchen darfst! Uf der Danzfläche isch des Raucha verboda.»
Verständnislos schaute ich erst auf die kalte Zigarette in meiner Hand, dann auf mein Bier und hiernach in sein Gesicht.
«Was willst Du von mir?», fragte ich ihn unwirsch.
«I war dahana uf einr Feir, da einig agfanga zu Raucha. Die Schdimmung war noh hee.», schwäbelt er in mein Ohr.

In meinem Kopf formulierte sich eine Antwort. «Pass mal auf Du Vogel! Erstens fass mich nicht an. Zweitens gab es mal eine Zeit, da durftet Ihr blöden Wessis in West – Berlin nur speziell für Euch eingerichtete Touri – Discos betreten. In unseren Läden wurde zu dieser Musik gepogt, geraucht und alles nur Erdenkliche eingeworfen. Verpiss Dich mit Deiner unmöglichen dunkelblauen Jeans, Business -Hemd, samt Deiner gesamten Bagage aus meiner Stadt und vergiss Deine Tüten Bio – Müsli nicht. Aber quatsch mir kein Ohr ab, damit ich endlich eine rauchen gehen kann.»

All dieses sagte ich nicht, sondern versuchte die Worte zu einem unmissverständlichen Gesichtsausdruck umzuformen. Damit  ließ ich ihn stehen und lief betont lässig in die Raucherecke. 1984 hätte ich dem Kerl maximal eine Nacht in der Berliner Szene gegeben. Am nächsten Tag wäre ihm klar gewesen, dass es für ihn besser ist, sich tagsüber brav die üblichen Attraktionen anzusehen.

Er verkörperte alles, was einst innerhalb meines alt West – Berliner Lebenskreises verachtet wurde. Schaffende, raffende, Häusle bauende Schwaben aus der südlichen Provinz Deutschlands. Spießer, die beim Vögeln ein Handtuch unterlegen, damit die eierschalenfarbene Couch keine Flecken bekommt. Gäste, die sich einen entcoffeinierten “Latte Macchiato” mit Soja Milch bestellen. Oder Frauen mit Norwegerwollsocken in Ledersandalen, die ihren Abschluss an einer Fernuniversität absolvierten. Rotgesichtige dicke Männer, die mit Bananensaft ihr Weizenbier panschen. Frauen, die über Stunden hinweg auf einer Party Rezepte für Nudelsalate austauschen. Kleinstädter, die die billig produzierte Seifenoper «Berlin Tag- und Nacht» zur Grundlage ihrer Vorstellung von Berlin machen. Menschen, welche die Verbrechen ihres Metzgers auf dem Dorf für eine Currywurst halten. Mittvierziger, die in der Schrankwand eine CD Sammlung von Florian Silbereisen zu stehen haben und sich nichts Schöneres vorstellen können, als ihm einmal beim Wandern in Österreich zu begegnen. Dann diese Autofahrer, die auch für Tiere bremsen, Louisa mit an Bord haben oder angeblich nur auf der Beifahrerseite sitzen, weil sich Jesus ans Steuer gesetzt hat. Überhaupt alle, die einen im Straßenverkehr mit ihren aufgeklebten Botschaften ihren Lebensentwurf aufzwingen wollen. Diese desinfizierten Menschen, die stets gekleidet sind, als wenn sie in der nächsten Minute bei ihren Schwiegereltern einen Antrittsbesuch machen. Paare, die  sich jedem mit dem gemeinsam ausgesuchten Outfit als Menschen präsentieren, die ihre Individualität zu Gunsten einer bereits zu Lebzeiten gemeinsam ausgesuchten Grabstätte aufgegeben haben und damit nicht den städtischen Friedhof, sondern ihr uniformes Reihenhaus im Umland meinen. Verhinderte Abenteurer, die im urbanen Gebiet Klamotten tragen, die für Bezwinger des Nanga Parbat konzipiert wurden. Diese Weltoffenheit heuchelnden Eltern, die jeden Tag von Integration und Diskriminierung sprechen, aber die ersten sind, welche ihre Brut auf einer anthroposophischen Privatschule anmelden und selbst dort noch den Klassenlehrer mit der Einschaltung eines Rechtsanwalts bedrohen. All diese Menschen, die sich schon beim Zubereiten des Frühstücks die ersten zehnmal selbst belogen haben, damit sie das Gefühl haben, ein guter Mensch zu sein. Selbst die verhassten Popper aus den Achtzigern mit ihren Kashmere – Pullovern hatten größere Eier in der Hose, als diese Sorte Mensch.

Als ich zurückkam, fragten die Pixies «Where is my Mind?» Jener Song, der im Film “Fightclub” die Sprengung aller Schaltzentren der Macht und damit die ultimative Zerstörung des Kapitalismus untermalt. Diese großartige Vorstellung, dass ein Schizophrener die Koordination einer Gruppe entschlossener Männer übernimmt, die dieses Krebsgeschwür mit einem Knall aus der globalen Gesellschaft entfernt.

Der Schwabe hatte während meiner Abwesenheit seine Bewegungen um keine Nuance verändert, und schwang weiterhin wie ein mit Gelee angefüllter Beutel zur Musik hin und her. Mit knappen Neunzehn war ich mal mit zwei Freunden im Kino. Da gab es eine Werbung des Playboys, in der behauptet wurde, dass der Tanzstil eines Mannes Auskunft über seine sexuellen Qualitäten gibt. Wenn da etwas dran sein sollte, dann tut mir seine Begleiterin schon deshalb leid. Zweimal sprach er mich noch an. Einmal weil ich beim Tanzen eben diese Begleiterin anrempelte und das zweite Mal lobte er neben mir am Pissoir stehend die Musikauswahl.

Ich mokierte  mich in den letzten Tagen im BLOG mehrfach über die «Rechten» und ihre Mitläufer. In mir keimt langsam der Verdacht auf, dass dieser Schwabe symptomatisch ist. Zwar gehe ich nicht davon aus, dass er die AfD wählt, vermutlich tendiert er eher zu den GRÜNEN, dem Sammelbecken für Spiesser mit Umweltambitionen. Dennoch glaube ich, dass sich aus der Mitte dieser Typen auch einige mit den Ressentiments der AfD gegenüber Menschen wie mir, anfreunden können. Es klaffen riesige Abgründe zwischen der musikalischen Botschaft und ihrem Denken. Sie spüren weder die im Punk steckende Wut gegenüber dem Bürgertum, noch den puren Sex in den Liedern der Bands der Siebziger, noch die wollüstige Erotik des Souls oder die Melancholie des Blues. Wie ein verklemmter Freier, der bei einer Prostituierten seine geheimen sexuellen Wünsche auslebt, stehen sie auf der Tanzfläche und erträumen sich für drei Minuten bei AC/DC oder Rammstein den Bad – Guy, der sie aufgrund ihrer Hemmungen niemals sein können.

Selbst wenn einer über den Rasen ihres Vorgartens spazieren würde, könnten sie sich dessen nur mit einem Rechtsanwalt erwehren. Im Beruf verschaffen sie sich mit einem schmalen Textil um den Hals ein kompetentes Aussehen und im Straßenverkehr beschützt sie die Karosserie ihres SUV oder rollenden Raumwunders, den oder das sie sich selbstverständlich nur wegen der Familie zugelegt haben. Da ist es nicht verwunderlich, wenn sie bei den Nachrichten oder den Kampagnen der AfD gegen den gesunden Menschenverstand Panik bekommen, die sie mit Notfalltropfen aus der Bachblüten – Apotheke bekämpfen.
Im Gegensatz zum geborenen Großstädter wurden sie niemals als Jugendliche auf das Haifisch- Becken in einer Metropole vorbereitet. Ihnen ist das Wort «Opfer» auf die Stirn geschrieben und die Haie haben ein leichtes Spiel. Sie verhalten sich wie die Schafe in unserer von der Natur befreiten Kulturlandschaft, die das Fliehen vor dem Wolf verlernt haben. Sie leben in einer Assekuranz – Gesellschaft, in der ihnen von findigen Geschäftemachern und Politikern die Absicherung jeglichen Risikos versprochen wird. Abgesehen von der Absicherung, ist ihnen schon vor dem Eintreten des Ungewollten, jede Ungewissheit ein Gräuel. Sollte es trotz und allem zum von ihnen Undenkbaren kommen, muss ein Verantwortlicher gefunden werden. Außerdem fordern sie sofort eine Abhilfe, damit das nun mit einem Mal Vorstellbare niemals erneut eintreten kann. Das sie sich damit immer mehr einer allumfassenden Kontrolle, die politisch im Allgemeinen in einer Diktatur endet, begreifen sie nicht. Am liebsten würden sie das Wort Risiko aus ihrem Wortschatz streichen. So wie ihre Kinder nicht mehr spielen dürfen, wie wir es einst taten, wird die Gesellschaft nach und nach ihre Freiheiten ebenfalls verlieren, denn hierzu ist ein vernünftiges Abwägen von Risiken notwendig.

Nachts in der U-Bahn funktionieren die Statussymbole Kreditkarte und Dienstwagen nicht. In einigen Bereichen war das Leben in West – Berlin schrill, schräg, brutal, hart und wurde oftmals von ungeschriebenen Regeln bestimmt. Ich musste herzhaft Lachen, als dieser Albrecht Glaser aus dem beschaulichen Schwarzwald sich darüber beschwerte, dass er per Durchsage der Deutschen Bahn vor Taschendieben gewarnt wurde. Als er dann noch anfügte, dass er in seinem Leben bewegten Leben so etwas noch nie erlebt habe, traten bei mir Tränen in die Augen. Der Kerl hätte in der West -Berliner City bereits nach einer halben Stunde am Tresen der Bahnhofswache Zoo eine Anzeige erstattet. Dem ist auch zuzutrauen, dass er damals die netten jungen Männer in der Jebenstrasse nach dem Weg gefragt oder am Stuttgarter Platz in einer Bar vor ein paar verdutzten thailändischen Prostituierten eine Moralpredigt gehalten hätte.

Lustig muteten auch die meinem Schwaben nicht unähnlichen klatschenden Zuhörer an. Letztens fabulierte er über die heroischen Taten aller DDR Bürger und ihren damit in Verbindung stehenden Erfahrungen, die die Bürger im Westen nicht gemacht hätten und deshalb den 75 Jahre lang von links her weichgespülten Westlern im Vorteil wären. Passenderweise folgte letzte Woche ein Bekannter aus der übersichtlichen Messestadt Hannover bei Facebook dieser Kampagne, in dem er diesen Stuss in einem Post übernahm. Ich male mir genüsslich aus, wie diese Behauptung in den Achtzigern in einer West -Berliner Eckkneipe angekommen wäre.

Ich räume ein, dass es in West – Berlin einige Pendants zum Schwaben gab. Wir hatten die Bewohner von Wannsee, die Waldmenschen aus dem hohen Norden und die Villenbesitzer in den besseren Gegenden. Heute würde man diese Bezirke Elfenbeintürme nennen, in denen der Realität entrückte besser gestellte Bürger leben. Doch sie befanden sich klar in der Minderheit und verhielten sich ruhig, solange sie niemand mit Demonstrationen vor der Haustür behelligte. In der Regel wussten die Parteifreunde aus der CDU dies aber zu verhindern. Im Gegenzuge ist aber anzumerken, dass sie sich wie alle anderen weder von Bombenanschlägen noch von kommunistischen Säbelgerassel in Angst und Schrecken versetzen ließen. Hätten die Bürger die sich aktuell immer weiter ausbreitende Mentalität gehabt, wäre West – Berlin von knappen 2 Millionen Angstneurotikern bewohnt gewesen.

Schon verrückt, wie sich die Zeiten ändern können. Wer hätte 1989 geahnt, dass uns die Wessis eines Tages ungestraft von der Seite anquatschen dürfen.