24 Mai 2022

Die Logik des Habens

Lesedauer 8 Minuten

„Wir werden die Welt schon in Ordnung bringen! Wir sind ja schließlich keine Menschen!“

Oscar, Elefant

Die Konferenz der Tiere, Erich Kästner

Es gibt diese Sprüche, die von einer Generation zur nächsten weitergegeben werden. Einer lautet: “Schließ mal Deine Augen, dann weißt Du, was hier alles Deins ist!” Zumeist ist es die Antwort für einen aufmüpfigen Teenager, der mit einer alterstypischen Anspruchshaltung auftrumpfen will. Aber ich finde, da steckt noch mehr drin.

Nichts zu haben, ist unserer Gesellschaft undenkbar. Wer nichts hat, ist auch nichts! Eben dies ist auch eine Botschaft an den pubertierenden Teenager. Gleich gefolgt vom Ausspruch: “Solange Du Deine Beine unter meinen Tisch stellst, wird hier gemacht, was ich sage.” Die Jungen sollen erst einmal arbeiten und sich damit etwas erschaffen. Ist ihnen dies erfolgreich gelungen, dürfen sie auch mitreden. In jene Richtung gehen auch all die Kommentare, welche zu den jungen Aktivisten abgelassen werden, die sich aus Protest gegen die zögerlichen bis hin ausbleibenden Maßnahmen zur Abwendung der bereits stattfindenden ökologischen Katastrophe. Neu sind solche Aussprüche nicht. Bereits in der Zeit der legendären 68er hieß es: “Sollen diese langhaarigen Gammler doch erst einmal arbeiten.”
Das Prinzip “Haben” infrage zu stellen, bringt einem schnell den Ruf eines gefährlichen Spinners ein. Selbst ganz große Künstler sind davor nicht gefeit.

Imagine no possessions
I wonder if you can
No need for greed or hunger
A brotherhood of man
Imagine all the people
Sharing all the world… You…

John Lennon, Imagin

Andererseits steht nirgendwo geschrieben, dass sich in unserer Demokratie Leute erst äußern dürfen, wenn sie etwas haben oder einer Arbeit im bürgerlichen Verständnis nachgehen. In den USA sieht es ein wenig anders aus. Ich bin immer wieder schockiert, wer dort alles nicht wahlberechtigt ist. Allerdings ist es historisch nachvollziehbar. Von Anfang an war die Verfassung darauf ausgelegt, dass nur Habende zu bestimmen haben. Die Gründer, vornehmlich vermögende Männer, hielten Habenichtse zum einen für unfähig und zum anderen für das eigene Vermögen gefährlich. Folgerichtig unterteilt beispielsweise Saul D. Alinsky die Einwohner der USA in Have und Not-Have. Immerhin ist es bei uns wenigstens gesetzlich festgelegt, dass mittellose Deutsche auf der gleichen rechtlichen Stufe stehen, wie alle anderen. Ob es tatsächlich der Fall ist, dürfte mehr als fraglich sein. Tatsächlich beginnt es bereits beim Rechtsbeistand. Objektiv betrachtet, sind die Chancen vor Gericht für Leute, die sich teure Honorare leisten können, deutlich besser. Nicht anders sieht es mit der Würde des Menschen aus. Wer wegen Krankheit oder Alter nicht mehr produktiv ist, verliert sie schnell in einem auf Profit ausgerichteten Krankenhaus oder Heim. An all die Mitmenschen, die keine Bleibe haben, über kein Konto verfügen oder sich illegal in Deutschland aufhalten, möchte ich beinahe nicht denken, doch so sieht nun einmal die Realität aus.

Schaue ich über die Grenzen hinaus, besserte sich in den letzten Jahrzehnten die allgemeine Situation für die Einwohner in den Industrieländern, während gleichzeitig der Abstand zu allen anderen Ländern größer geworden ist. Global gesehen, sind sie die “Not-Have”, womit sie auch wenig mitzureden haben. Gut zu beobachten ist das bei all den Klimakonferenzen und dem Tross der Konzernvertreter, die sich in den Windschatten ihrer Marionetten hängen. Die pure Existenz erzeugt keine Ansprüche, sondern es müssen Geld und Eigentum dazu kommen. Als Nebeneffekt sind Tiere und alle anderen Lebensformen aus Sicht des Menschen de facto ohne Rechte, denn sie besitzen nichts, sondern werden als Eigentum oder Besitz betrachtet. Wenn ich einem Bauern eine Kuh wegnehme, ist es ein Diebstahl und keine Entführung, bei der ich in ihre Rechte eingreife. Im deutschen Bürgerlichen Gesetzbuch steht dazu im § 90 geschrieben:

Tiere sind keine Sachen. Sie werden durch besondere Gesetze geschützt. Auf sie sind die für Sachen geltenden Vorschriften entsprechend anzuwenden, soweit nicht etwas anderes bestimmt ist.

§ 90, BGB

Was sich in niemanden Eigentum oder Besitz befindet, ist quasi wertlos. Ein Vertreter eines Konzerns hat diesbezüglich zum Thema Wasser einmal gesagt: “Sauberes Trinkwasser ist ein Gut. Und wenn daran keiner Eigentum anmelden kann, wird es auch nicht geschätzt.” Gut, gleiches könnte auch von der Luft behauptet werden und da die Sache mit dem Wasser immer mal wieder zur Diskussion steht bzw. im gewissen Sinne in mehreren Regionen Konzerne das Wasser als Eigentum betrachten, halte ich es nicht für ausgeschlossen, dass das bezüglich der Luft, konkret dem Sauerstoff passieren wird. Erst der Grund und Boden, dann das Wasser und zum Schluss die Atemluft.

Es gibt auch im Gegensatz zu früheren Zeiten keine ethischen Richtlinien bezüglich des Habens und dem Erwerb. Was nicht explizit von Menschen mittels eines Gesetzes untersagt wurde, ist erlaubt und darf praktiziert werden. Wie und unter welchen Umständen etwas hergestellt wurde, welche Folgen aus der Produktion resultieren, wer damit was anstellt, ist (l)egal. Seien es Waffen, ihre Einzelteile, die erst zusammengesetzt werden müssen, billige Textilien, elektronische Geräte, produzierte Energie, Speichermedien, geförderte fossile Brennstoffe, Nahrungsmittel, die die Zerstörung kompletter Ökosysteme bedingen oder die Misshandlung anderer Lebewesen, wenn es nicht in einem Gesetz geregelt ist, ist alles erlaubt. Und zwar dem Lebewesen, welches Erfinder des Habens ist. Das Lebewesen, welches sich selbst über alle anderen Lebewesen stellte.

In unseren Gefilden ist das Haben allgegenwärtig. Die Auswirkungen zeigen sich nicht ausschließlich beim eigentlichen Haben, sondern auch darin, wie die Mitmenschen mit allem umgehen, was ihnen nicht selbst oder offensichtlich jemanden gehört. Die Stadt Berlin ist vermüllt, wo das Auge hinschaut. Nur wenige kämen auf die Idee, ihre eigene Wohnung, Garten oder Haus als Mülldeponie zu benutzen. Wer schmeißt schon seine Zigarettenkippen oder Kaugummis auf den Boden des Wohnzimmers? Oder ich würde ungern die Reaktion meines Nachbarn erleben, wenn ich meinen Sperrmüll auf sein Grundstück ablege. Im Park, im Wald, bei schwer einsehbaren Ecken, ist das etwas anderes. Bei der Überlegung, dass auch das allgemeine Stadtgebiet jemanden gehört, nämlich der Allgemeinheit, somit auch u.U. dem Müllentsorger, steigen die meisten aus. Gleichermaßen sieht es mit dem Wasser und der Luft aus.

Wie auch immer es gedreht und gewendet wird, das Prinzip “Haben” hat uns nichts Gutes eingebracht. Es hat sich ergeben und wir haben uns dem hingegeben, aber das ist keine solide Argumentation dafür. Wenn Leute zum Beispiel behaupten, dass niemand ein Interesse an Forschung, Innovation u.ä. entwickelt, wenn es den Anreiz des Verdienstes und dem damit verbundenen Haben nicht gäbe, ist dies eine Bankrotterklärung bezüglich menschlicher Daseinsqualität der Bewohner von Industriestaaten. Empathie, Solidarität, Tatendrang, Verwirklichung wären damit ausgeschlossen. Was war zuerst da? Der Mensch, welcher sich nur aufrafft, wenn es etwas zu verdienen gibt oder der, welcher den Antrieb der Verwirklichung innehat? Ist nicht die zuerst genannte Version ein vom System dazu erzogener Typ?
In der Gesellschaft wird nicht die Lebensleistung honoriert, schon gar nicht, wenn sie keine monetär sichtbaren Folgen nach sich zieht, sondern eben was am Ende an Haben hinten bei herauskommt. Wie will ich die Pflegeleistung aus der Sicht eines oder einer Gepflegten mit Geld bewerten? Die Freundlichkeit, den gezeigten Respekt, den Erhalt der Würde, ein wenig Glück trotz Schmerzen? Sind Zufriedenheit, das Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit, als Individuum erkannt und wahrgenommen zu werden für eine Transformation in Güter geeignet?

Ich schaue auf die sogenannte deutsche Nachkriegsgeneration. Teile von ihnen haben das nationalsozialistische Denken überwunden. Sie lernten, mit anderen Nationen in Frieden zu leben, alte Vorurteile abzubauen. Dank ihnen sind Deutsche nicht mehr die Barbaren, die weltweit gehasst werden. Es galt die Trauma ihrer Eltern zu überwinden. Während in den Zeiten davor alles Intellektuelle und Kulturelle, was nicht unmittelbar den Zielen der Nazis und davor dem Kaiser diente, unterdrückt wurde, setzten sich damit auseinander. Doch was bleibt im Sprachgebrauch? Wirtschaftswunder, die Trümmer beseitigt und alles wieder aufgebaut, ein eigenes Haus gebaut, Kredite abgezahlt. Das ist traurig und wird der eigentlichen Lebensleistung nicht im Ansatz gerecht. Nach und nach treten sie aus diesem Leben ab. Es gibt nichts mehr aufzubauen. Alles steht wieder! Doch damit es nicht langweilig wird, haben wir ja immer noch den Wachstumsgedanken. Panik bricht aus, wenn die Wachstumsraten stagnieren. Erste Wirtschaftswissenschaftler/innen warnen vor den sozialen Folgen. Erneut läuft es auf ein Armutszeugnis hinaus. Wahrscheinlich nicht einmal unberechtigt. Wenn ich Drogenabhängigen ihren Stoff wegnehme, werden sie aggressiv und wenden sich denen zu, die ihnen einen nicht enden wollenden Zustrom neuer Konsummöglichkeiten versprechen. An irgendeiner Stelle hätten kluge Menschen die Notwendigkeit einer Änderung im Denken erkennen müssen. OK, einige taten es, aber sie scheiterten an der Rhetorik der Dealer.

Im Buch “Haben oder Sein” beschreibt Erich Fromm ziemlich plastisch drei unterschiedliche Herangehensweisen. Er nennt einen Dichter, der über die Schönheit einer Rose schreibt, sie pflückt und sich erhofft, mittels Betrachtung und Untersuchung Erkenntnisse über das Leben, das Göttliche und die Zusammenhänge des Lebens zu gewinnen. Aber unter dem Strich tötet er sie. Ein andere nimmt eine unscheinbare Blume am Wegesrand wahr und beobachtet sie beim Wachsen, wie sie blüht, die Blüte vergeht und sie danach wieder von vorn beginnt. Als Letztes benennt Fromm Goethe, der die Blume ausgräbt, ihr einen idealen Standort spendiert und sich dort an ihr erfreut. Der erste Dichter verkörpert das Haben, die beiden anderen verfolgen Alternativen.
Die drei Beispiele verdeutlichen auch unser Verhältnis zur Welt. Wir wollen in Besitz nehmen, was nicht funktioniert, jedenfalls nicht ohne Zerstörung. Sprachlich wird von der Natur gesprochen, als wenn sie etwas von uns separat existierendes wäre. Doch wir sind ein Teil, insofern ist der Besitz in unserem Verständnis unlogisch. Genauso unlogisch wie Formulierungen, die lauten: “Mit der Natur leben!” oder “Die Umwelt schützen”. Sie sind Ausdruck einer Hybris. Es gibt keine Welt um den Menschen herum. Faktisch gibt es eine Welt, in der wir alle leben und von der sich jeder ein anderes Abbild, jeweils einen Teilausschnitt, ins Innere projiziert. Ebenso bin ich, jeder, ein verschwindend kleines, aber deshalb nicht unbedeutendes Teilchen, der Natur. Allein der Umstand, wie wenig politische Anführer/innen, selbst wenn sie eine philosophische Ausbildung genossen, darauf achten, lässt mich nicht mit der Überzeugung leben, dass sich etwas ändern wird. Erst recht nicht, wenn ich diese weltweite Ansammlung von Despoten, Ich -Darstellern, Neurotikern sehe. Ob einer/r von denen jemals schlafen geht und sich vor Augen hält, was sie, jenseits von Menschenleben, noch alles zerstört haben? Es ist Teil des Denkens von Menschen aus Industriestaaten, an die Zahl menschlicher Opfer zu denken. Indigene sind da anders unterwegs. Ich las von der Geschichte, in der ein Elefantenbulle zwei Stammesmitglieder töteten und NGO’s anboten, das Tier töten zu lassen. Der Stamm wollte das nicht. Sie wiesen darauf hin, dass Wilderer bei Rodungsarbeiten einen seiner Gefährten getötet hatten und er nun nachvollziehbar gereizt war.

Irgendwo war letztens ein Artikel, in dem ein Soziologe zur Überraschung der Verfasserin des Artikel meinte, dass der Mensch an sich ein gutes Wesen wäre. Ich las lediglich den Aufmacher, weil ich mir dachte: “Was denn sonst?” Gut und Böse sind ohnehin Produkte des Großhirns. Böse ist im Allgemeinen alles Schädliche. Wäre der Homo sapiens, der spärlich behaarte Affe mit trockener Nase von Anfang an schädlich gewesen, gäbe es uns schon lange nicht mehr. Indigene leben als Teil der Natur und betrachten die Erde als etwas, was ihnen zusammen mit anderen Lebewesen zur Verfügung steht. Sie reden dabei nicht von Eigentum! In ihrem Sinne hat der Homo sapiens eine ebenso wichtige Funktion, wie alle anderen Wesen. Wir, die Bewohner der Industriestaaten sind vorsätzlich, wissentlich, egoistisch, schädlich unterwegs. Wenn dies böse ist, soll es wegen meiner so sein. Zumindest fallen mir keine Rechtfertigungen oder Entschuldigungen ein.

In meiner Schulzeit gehörte das Buch von Erich Kästner, “Die Konferenz der Tiere” noch zum Standardrepertoire des Deutschunterrichts. Darin geht es um nichts anderes. Die politischen Anführer der industriellen Staaten werden quasi vor ein Tribunal gestellt. Bezeichnend ist dabei, dass Kästner die Tiere, Kinder als Druckmittel, verwenden lässt. Heute stehen die “Alten” vor ihren Kindern und werfen ihnen vor, dass sie als Jugendliche mit Smartphones, Markenklamotten zur Demo gehen und auch ansonsten recht kapitalistisch unterwegs sind. Eine Frage! Wer hat es ihnen vorgelebt, sie dazu geformt und zugelassen, wie ein System des Habens sie nach dem dem ersten Schrei eingliederte? Wie sagte mein Vater immer zu mir? “Scheiße bauen kann passieren, aber man muss dazu stehen!”
Der vermeintliche “Terror”, der angeblich von all den Aktivsten/innen, FFF, Extinction Rebels, Letzte Generation, ausgeht, ist nichts anderes als, mit dem berühmten Finger in der Wunde zu bohren und das Geschrei des Bürgertums, das laute Leugnen eines erwischten Kindes. Letztens fragte mich ein aktiver Polizist, wie viel ich denen durchgehen lassen würde. Ich lernte bei der Polizei etwas ziemlich Überzeugendes. Prüfe zuerst die sachliche und örtliche Zuständigkeit. Beides ist nicht gegeben. Doch ich kann für mich eine Prognose erstellen. Wenn es weltweit bei dem Kinderkram bleibt, werden sie nichts verändern. Und mich vor dem Hintergrund des Geschehens auf der Erde über eine blockierte Straße aufzuregen, wäre mir echt zu peinlich. Wenn schon, empöre ich mich darüber, dass sich die Alten nicht mit ihnen solidarisieren. Richtig dumm sind jene, welche kritisieren, dass die auf diese Art nicht ihre Ziele erreichen werden. Verstehe ich es korrekt? Die Verzögerung und Abmilderung der jetzt stattfindenden Katastrophe, bis wir eventuell doch noch die Reife erlangen, anders zu leben, ist deren alleiniges Interesse? Ah! Ich vergaß die Logik des Habens. Sie -haben- Interessen und müssen deshalb entsprechend agieren. Und die anderen -haben- andere Interessen. Verstanden! Äh, bedingt …

20 Mai 2022

Mitnehmende Bücher

Lesedauer 4 Minuten

„Der Unterschied zwischen Sein und Haben entspricht dem Unterschied zwischen dem Geist einer Gesellschaft, die zum Mittelpunkt Personen hat, und dem Geist einer Gesellschaft, die sich um Dinge dreht.“

Erich Fromm

Philosoph u. Psychoanalytiker

Es passiert nicht häufig, dass mich ein Buch derart in den Bann zieht, sodass es vermag mein Denken tiefgreifend zu verändern. Aber es passiert. Zum Beispiel geschah es beim Lesen des Buchs “Siddhartha – Eine indische Dichtung”. Seither las ich es mehrfach und bei jedem Mal las es ein anderer Mensch, in einem anderen Lebensabschnitt mit neuen Erlebnissen. Gleichsam beeinflusste mich Rupert Lay mit seinem Buch “Führen durch das Wort”. Jetzt gibt es ein Drittes. Bereits seit mehreren Jahren setzte ich mich mit den Aussagen von Horkheimer, Marcuse, Adorno und Erich Fromm auseinander. Leider ist es nicht ganz einfach deren Texte zu lesen. Bei einigen Philosophen frage ich mich stets, für wen sie ihre Gedanken niederschrieben. Allerdings gilt dies auch für einige andere Autoren. James Joyce ist einer dieser Kandidaten. Ja, der Mann war genial und ein Buch aus der Sicht der Protagonisten zu schreiben, wie im Ulysses geschehen, ist wahrlich ein spannendes Unterfangen, aber es raubt dem Leser den letzten Nerv. Oder besser: Meinen! Doch irgendwann konnte ich es abhaken. Bei Sartre packen mich Wutanfälle. “Hättest Du mir dies alles nicht bereits vor 100 Seiten in einfachen Sätzen sagen können?” Nun, es gibt Leute, die seine Bücher lasen und freundlicherweise Zusammenfassungen hinterließen. Hurra! Sartre hielt scheinbar nichts von Schopenhauer. Von dem stammt nämlich die Aussage, dass es keine Kunst ist, wichtige Dinge möglichst kompliziert zu beschreiben, sondern Kompliziertes möglichst einfach darzustellen. Und genau dies hat Erich Fromm im letzten Buch vor seinem Tod geschafft (1976). “Haben oder Sein”, von einigen auch als die Bibel der 68er bezeichnet.[1]dtv, ISBN 978-3-423-34234-6, in nahezu jeder Bücherei zu leihen. Ich will hier keine Rezension abliefern. Es gibt bereits genug davon und jede/r Interessierte kann sie nachlesen. Hier will ich kurz beschreiben, was der allererste Effekt war. Es geht darum, wie sehr unser Leben, Denken und Sprache von einem System welches auf Haben ausgerichtet ist, geprägt wurde, statt eines Seins. Wir eignen uns alles Mögliche an, obwohl dies genauer untersucht nicht funktionieren kann. Mir war nicht bewusst, wie weit das geht. Fromm bringt u.a. den Unterschied zwischen Angst haben und sich sorgen, ängstigen, befürchten. Es ist ein Prozess und keine Aneignung. Jedenfalls sollte dies nicht der Fall sein. Ähnlich sieht es mit Erfahrungen aus. Ich blicke auf Ereignisse zurück, vergleiche sie mit einem aktuellen Geschehnis und prognostiziere einen wenigstens ähnlichen zukünftigen Verlauf. Eine klassische Falle oder auch Denkfehler. Was sich in der Vergangenheit abspielte, war das Ergebnis eines komplexen Zusammenspiels diverser Faktoren. Nunmehr haben sich viele Parameter verändert und ob meine Prognose eintritt, ist stark von meinem Verhalten und meiner unbewussten Steuerung abhängig. Oftmals kommt es zu dem, was “self-fulfilling prophecy” genannt wird. Die Gefahr diesen Denkfehler zu machen, steigt immens, wenn ich Erfahrungen als einen unveränderlichen Besitz betrachte.
Zwar geht es bei Fromm um eine Systemkritik, ich sehe es als eine auf die Psychoanalyse gestützte Abrechnung mit all den Ideen, die im Zuge der Industrialisierung für das Zusammenleben von Menschen erdacht wurden, doch zog mich dieser Teilaspekt in den Bann. Ich las mir diverse Texte auf meiner Seite durch und erschrak, wie häufig ich dieser Sprache, der damit in Verbindung stehenden Praxis des Denkens, verfiel. Darauf auszuweichen, dass ich beim Schreiben ein Rooky bin, dessen Ausdrucksweise unter dreißig Jahren Einfluss von Amtsdeutsch leidet, entlastet mich dabei nicht.

Nein, ich bin in die Falle getappt und über Jahre hinweg nicht mehr herausgekommen. Die Aufgabe ist nunmehr einen Ausweg zu finden, oder um im Bild zu bleiben, einen Ausbruch hinzubekommen. Das ist gar nicht einfach. Mich erinnert dies an die Verwendung des Pronomen “man”. Daran vorbeizukommen ist schwer und auch nicht immer notwendig. Doch die Häufigkeit ist nicht nur überflüssig, sondern beschreibt ebenfalls eine gedankliche Struktur. Es ist viel einfacher, sich dahinter selbst zu verstecken, in dem der Redner, die Rednerin, sich mit dem allgemein Üblichen vor sich selbst und anderen rechtfertigt, ohne jemals einen eigenen Gedanken zu verschwenden (Man macht es halt so!), oder es liegt am Unbehagen konkrete Personen zu benennen. An der Stelle fällt mir eine Anekdote ein. Einer meiner Vorgesetzten besuchte ein Kommunikationsseminar. Dort wurde eben dafür sensibilisiert. Wieder bei uns, sah er sich genötigt, wiederum den nächst höheren Vorgesetzten bei jedem zweiten Satz darauf hinzuweisen. Der ließ sich das nicht lange bieten, unterbrach die Sitzung und klärte lautstark hinter einer verschlossenen Tür, für alle Anwesenden hörbar, die Unterstellungsverhältnisse. Dabei fiel prompt der Satz: “So etwas macht man mit seinem Vorgesetzten nicht!” Die Entgegnung lautete folgerichtig: “Man vielleicht nicht, ich schon!” Ganz großes Kino!
Hierauf zu achten, ist für mich eine echte Lebensbereicherung. Wer genau tut dieses oder jenes? Warum mache ich es auch oder unterlasse es? Von wem stammt eine Aussage? Gerade in einer Zeit, die von Manipulationen und Propaganda geprägt ist, finde ich das wichtig. Ich hoffe, eigentlich bin ich mir sicher, dass sich das mit dem Haben ähnlich gestalten wird.
Im Buch steckt noch viel mehr. Bei vielem war ich dankbar von einem renommierten Psychoanalytiker und Philosophen in meinem Denken bestätigt zu werden. Meinerseits eine absolute Leseempfehlung. Alles, was er dort schreibt, ist bedrückend aktuell. Gedacht war es 1976, vier Jahre nach Veröffentlichung des Berichts vom Club of Rome, als eine Aufforderung zum Ändern, bevor es zu spät ist und die Katastrophe, vor der wir nunmehr stehen, abzuwenden. Geändert hat sich nichts, alles entwickelte sich, wie er es voraussah. Vom Sein ist wenig übrig geblieben und das Haben, hat sich endgültig durchgesetzt. Bereits 1976 mühte sich sich Fromm damit ab, dem Lesenden vermeintliche Naturgesetze aus dem Kopf zu treiben. Vielleicht fällt es heute einigen im Angesicht der Auswüchse einfacher, seiner Logik und Praxis des Denkens zu folgen. Für Leute, die nicht offen sind und nicht bereit, den Schutt der vergangenen 45 Jahre aus dem Kopf zu schaufeln, ist das Buch nichts.

Quellen/Fußnoten

Quellen/Fußnoten
1 dtv, ISBN 978-3-423-34234-6, in nahezu jeder Bücherei zu leihen.