Kapitel 4

Lesedauer 21 Minuten

Ulan Bator

Ich denke mir gings ähnlich, wie den meisten anderen Mitteleuropäern. Für mich gab’s keinen Zweifel, dass es Ende Oktober in der Mongolei kalt ist. Und immerhin lag in Sibirien ein wenig Schnee. Kälte ist ein relatives Temperaturempfinden. Mein Abholer muss von mir gedacht haben, dass ich auf dem Weg nach Nepal einen Zwischenstopp einlegen wollte. Er stand jedenfalls bei 5 Grad über Null in einer Jeans, Hemd, Lederjacke und Schaftstiefeln vor mir. Später lernte ich eine seltsame Eigenart der Mongolen kennen. Sie mögen recht unempfindlich gegen Kälte sein, doch Innen mögen sie es eher warm. Also richtig warm! Möglicherweise liegt das an den alten Jurten, in denen der mittig installierte Ofen schnell für ordentliche Temperaturen sorgt.

Gleich nach unserem Zusammentreffen bekam ich eine Lektion in Sachen mongolischer Fahrstil. Diese Mentalität, die den Mongolen einst die Bezeichnung Wilde Reiterhorden einbrachte, muss sich genetisch bis heute durchsetzen. Es begann bereits mit dem Überholen der gesamten Warteschlange an der Schranke zum Parkplatz, in dem er einfach die freie Spur für den Gegenverkehr nutzte. Wobei er dabei auf die Reflexe des Sicherheitsmannes vertraute. Als er von der Hauptstraße abbog, hoffte ich kurzzeitig auf eine Abkürzung durch ein Wohngebiet mit alten Sowjetbauten. Doch wir waren am Ziel. Die Hauptstädter sind äußerst misstrauisch und auf Sicherheit bedacht. Die schwere stählerne Hauseingangstür war mit einem elektronischen Zahlenschloss und einer Überwachungskamera ausgerüstet. Mein Hostel bestand aus den zusammengelegten Wohnungen einer Etage und auch hier sicherte eine solide Stahltür den Eingang. Bobby, die Besitzerin wies jeden Gast mehrfach auf Taschendiebe hin und bat alle, vor Mitternacht wieder im Hostel zu sein, weil nachts die Straßen nicht sicher seien. Meinerseits machte ich andere Erfahrungen. Ich war selten in einer sichereren Stadt unterwegs. Berlin – Neukölln hat weniger Schwarzhandel, Gangster Cliquen und ein etwas übersichtlicheren Straßenverkehr, aber sonst wär ich dort vorsichtiger.

Bobby erschien mir äußerst geschäftstüchtig. Das Hostel hatte sie fest im Griff. War sie nicht da, übernahmen ihre Töchter. Vor der einen hatte ich einen Heidenrespekt. Sie war einen Kopf kleiner als ich, was sie mit dem Kreuz und keulenförmigen Unterarmen ausglich. Ihr einziges Kleidungsstück war der Trainingsanzug der Mongolischen Ringnationalmannschaft. Sie sprach kein Wort Englisch. Das brauchte sie aber auch nicht. An ihrer Gestik gab es nichts Unverständliches, vor allem nicht, wenn man vergaß die Schuhe auszuziehen. Normalerweise hielt ich mich wenig im Hostel auf und kehrte von meinen Streifzügen durch die Stadt erst in den späten Abendstunden zurück. Wie an allen nachfolgenden Stationen war ich darauf bedacht, nach Essen der allgemeinen Bevölkerung Ausschau zu halten. Mein System war simpel. Ich setzte mich Mittags an einer zentralen Stelle hin und beobachtete, wo die Taxifahrer, später Tuktuk – Fahrer, Boten und Büroangestellte mit schlechten Schuhen zum Essen hingingen. Gerade Taxifahrer sind die Trüffelschweine der Großstadt für guten Kaffee, Tee und Restaurants mit günstiger lokaler Küche. Angestellte mit teuren Schuhen, aber eher schlechten Klamotten kann man vernachlässigen. Sie sind Tiefstapler, die sich den anderen mit schlechterem Verdienst anbiedern wollen. Mit ihnen landet man im nächsten Sushi – Restaurant oder hippen Veganer – Schuppen. Die auf Edel getrimmten Sushi – Lokale haben in Ulanbataar ersatzweise die Koreaner übernommen. Spritzig sind die kleinen Cafés, welche von jungen Einheimischen betrieben werden. Die lassen sich dort eine Menge einfallen.

Nach einer Woche tauchte sichtlich am Ende seiner Kräfte ein Londoner auf. Die Kleidung verriet, dass er sie mehrere Tage nicht gewechselt und mindestens zwei Nächte lang in ihnen geschlafen hatte. Er buchte für zwei Wochen ein Bett im Schlafsaal. Ich schätzte ihn auf knapp über Fünfzig. Im Saal standen zehn dieser doppelstöckigen Stahlkonstruktionsbetten. Ihm wurde das schräg mir gegenüberliegende zugeteilt. Bobby achtete darauf, dass ältere Reisende unten schliefen. Den Rest der Betten teilten wir mit einer pensionierten Lehrerin aus Minnesota, einem schweigsamen Typen aus Philadelphia, zwei Belgiern auf dem Weg nach Singapur und einer Spanierin.

Zwei Tage nach seiner Ankunft erzählte mir seine Story. Er arbeitete in einer Versicherungsagentur. Bis an dem Tag, wo ihm alles gegen den Strich ging. Erst betrank er sich nach der Arbeit in einem Pub. Soweit er sich erinnerte, lief er anschließend nach Hause und packte seine Reisetasche. Jetzt folgte der ungewöhnliche Teil der Geschichte. Er war mit Fernbussen wahllos immer weiter gefahren, um dann in Ulan Bator zu landen. Bei seiner Erzählung dachte ich an die Geschichten von Männern, die mal eben Zigaretten holen gingen und nie wieder gesehen wurden. Vielleicht endeten schlicht die Buslinien in der Mongolei? Allerdings habe ich das mal grob recherchiert und dabei festgestellt, dass er mit der Methode bis nach Singapur gekommen wäre. Wer weiß, ob er es nicht doch noch tat. Ich hätte gern mehr über ihn erfahren. Aber seine Gesprächigkeit hielt sich in Grenzen. Außerdem war er misstrauisch. Jeder Gast verfügte über ein Schließfach. Reichte dies nicht aus, konnte man weitere dazu mieten. Er hatte drei! Schloss er sie ab, prüfte er dreimal, ob sie korrekt verriegelt waren.