Der Schlangenbeschwörer

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Irgendwo im Süden Indiens recherchierte ein Reporter eines renommierten Fernsehsenders über Besonderheiten in der indischen Gesellschaft. Dabei kam es zu einem Zusammentreffen mit einem Schlangenbeschwörer. Dieser saß ganz dem Klischee entsprechend vor einem großen Korb in Gestalt einer Vase, aus der sich eine Kobra aufrichtete. Der Reporter wusste um all die Tricks, mit denen die Beschwörer arbeiteten. Die Schlange reagiert nicht auf die Töne, sondern ist schlicht überfordert. Die Flöte sieht für sie aus, wie ein Konkurrent. Meist befindet sich in der Nähe auch noch ein Beutetier und das plötzliche Licht blendet sie. Der vermeintliche Tanz ist nichts anderes als Balzverhalten, Drohung, Jagdtrieb und Irritation zugleich. Schlangen sind stocktaub und reagieren auf Vibrationen am Boden. Außerdem brechen einige Beschwörer die Giftzähne heraus, die allerdings nachwachsen. So konnte sich der Reporter nicht sicher sein, ob die Schlange nicht doch beißen könnte. Aber der Beschwörer winkte auf eine Frage danach ab und zeigte stolz die Zähne der Schlange.

So oder so, es bleibt ein Jahrtausend altes Schauspiel. Den Reporter irritierten einige Körbe hinter dem am Boden sitzenden Inder, in denen sich weitere Kobra befanden. Dabei war weniger die Anwesenheit weiterer Schlangen sein Problem, denn mehr die kleinen Kinder, die zwischen ihnen spielten und dabei eine Kobra herausnahmen. Er fragte den Inder, ob es denn für die Kinder keine Gefahr sei, mit den Schlangen zu spielen. Der schaute prüfend auf die Kinder und die Kobra. Hiernach sagte er: “Heute ist nicht der Tag der Kobra!” Erstaunt fragte der Reporter nach. Er wollte wissen, woran der Tag der Kobra zu erkennen sei. Der Inder antwortete ruhig: “Ich werde es ganz einfach wissen.”

Die Dokumentation änderte ein wenig meine Denkart. Sorgen und Zukunftsängste basieren nicht auf Wissen, sondern auf Hypothesen. Man malt sich im Rahmen der eigenen Vorstellungskraft aus, was alles passieren könnte. Bei manchen ist sie größer und bei anderen etwas weniger ausgeprägt. Der Mensch dürfte nach bisherigen Erkenntnissen das einzige Lebewesen auf der Erde mit dieser Fähigkeit sein. Erst, wenn wirklich ein Schaden eingetreten ist, kann von tatsächlichem Wissen gesprochen werden. Ein “Hätte ich doch!”, bringt einen nicht weiter. Ebenso hätte ein anderes Ereignis eintreten können. Dabei setzen wir viel zu viel auf Wahrscheinlichkeiten, die wir auch noch falsch interpretieren. Es gibt da dieses Beispiel vom englischen Ingenieur, der im II. Weltkrieg die Schäden durch Beschuss an zurückkehrenden Jagdmaschinen der Royal Air Force untersuchte. Basierend auf seinen Untersuchungen wollten Konstrukteure die beschädigten Stellen verstärken. Er widersprach, weil er zu einem völlig anderen Ergebnis kam. Die Maschinen waren zurückgekommen! Viel wichtiger waren ihm die unbeschädigten Stellen. Dort waren augenscheinlich die abgeschossenen Maschinen getroffen worden. Also musste an diesen Stellen eine zusätzliche Panzerung installiert werden. Nein, wir sind selten im Einschätzen gut.
That’s Life! Wir würden gern die Zukunft sehen können, aber es geht nicht. Ein wenig können wir prognostizieren, in dem wir mit echtem Wissen einen logischen Ablauf annehmen, bei dem ein Ergebnis erwartet werden darf, insofern nicht unvorhergesehene Umstände eintreten. Wenn ich mit 250 km/h auf ein stehendes Hindernis zurase, werde ich daran zerschellen. Es sei denn, jemand sprengt das Hindernis oder ich weiche im letzten noch möglichen Moment aus. Diese Art der Prognose ist existenziell und spielte bei der Evolution eine große Rolle. Mit hoher Wahrscheinlichkeit rührt in dieser Gegend das Rascheln im Gebüsch von einem Säbelzahntiger her – lauf! Oder, es wird nach und nach kühler, also wird der Winter kommen. Wie lange er dauert und wie kalt es wird, können wir nicht einmal heutzutage präzise voraussagen. Also muss gesammelt und gehortet werden, was nur irgendwie geht, sodass es auch für einen langen bitteren Winter ausreicht. Das sitzt tief im Innern, ist aber heute oftmals der Grund für das Übel und hat sich verselbstständigt. Früher gab es die Unmittelbarkeit der Gefahren und bezüglich des Sammelns und Horten natürliche Grenzen. Vieles von dem, wovor wir uns sorgen und ängstigen, ist eher abstrakt. Spannend ist hierbei für mich die Formulierung: Ich habe Angst und Sorge vor diesem und jenem. Haben ist ein Ausdruck für Besitz, während sich sorgen, sich ängstigen, einen Zustand über einen unbestimmten Zeitraum beschreibt. Es macht einen Unterschied, ob ich mich von einem Besitz trenne oder mit einer Handlung aufgrund des Wegfalls realer unmittelbarer Gefahren einfach aufhöre.

Vermutlich ist es für die indischen Kinder wahrscheinlicher, an einer fiesen Infektion oder Mangelversorgung zu sterben, als an einem Schlangenbiss. Egal, ich denke, der Inder macht sich nicht nur keine Sorgen, weil sie bei genauem Hinsehen zwecklos sind, sondern vertraut auch ein Stück weit auf seine Ahnung. Ahnungen werden oftmals als esoterischer Quatsch abgetan. Ich glaube, dass da deutlich mehr dran ist. In das Bewusstsein treten nur ein Bruchteil der Wahrnehmungen. Vieles wird in den niederen Hirnstämmen verarbeitet. Gerüche, Akustik, Temperatur, Pheromone, minimale Vibrationen, werden ohne das Großhirn ausgewertet und bestimmen alles Weitere. Vermutlich ist dies alles ein Stück weit “Ahnung” und der Schlangenbeschwörer hat dazu einen Zugang.