Roter Bruder

portrait of a native american woman horseback riding Lesedauer 8 Minuten

Und wieder einmal kommt eine Debatte auf, die meiner Auffassung nach nicht wirklich die Hühneraugen der aktuellen Zeit berührt. Diesmal stehen Karl May und seine frei erfundenen Figuren Old Shatterhand und Winnetou im Fokus. Die meisten kennen die Geschichte. Ein deutscher Vermessungsingenieur kommt in den “Wilden Westen” und arbeitet für eine Firma, die den Ureinwohnern mal wieder Land wegnehmen will. Die wehren sich dagegen und kämpfen unter Anführung ihres Häuptlings und seinem Sohn Winnetou gegen die Besatzer. Der Ingenieur, ein edler Kerl, überzeugter Christ, eines guten rechten Hakens mächtig, freundet sich mit dem Sohn an, verliebt sich in die Schwester, welche von weißen Bösewichten getötet wird. Trotzdem werden die beiden, Sohn und Ingenieur, am Ende Blutsbrüder und der Sohn übernimmt nach dem Tod des Vaters, den Stamm. Wir wissen, dass alles eine reine Fiktion war. Karl May war niemals selbst in den USA, geschweige denn, stand er jemals einem Ureinwohner gegenüber. Daran ist erst einmal nichts Verwerfliches. Eine ganze Menge Autoren*innen schreiben Geschichten, mit denen sie nie etwas zu tun hatten.
Karl May schrieb darüber, wie er sich gute und schlechte Menschen vorstellte. Dazu gehörte auch, dass Old Shatterhand stets bemüht war, seinen Blutsbruder als guten Christen, der nur nicht selbst wusste, dass er einer ist, zu sehen. Nun, so waren und sind einige Anhänger der großen Buchreligionen. Menschen können gut sein und im Sinne der Lehre handeln, aber am Ende fehlt halt der entscheidende Punkt: das Bekenntnis zur Religion. Dass die Ideale des Christentums, inklusive des missionarischen Anspruchs und die kirchliche Ordnung in unserer Kultur immer noch eine Rolle spielen, ist jetzt nach mehreren tausend Jahren nicht weiter verwunderlich.
Egal, zurück zu Karl May. Ich glaube, dass ich beinahe das Gesamtwerk gelesen habe. Als Junge war ich fasziniert und wusste auch nichts davon, dass der Mann nie da war. Karl May, Old Shatterhand, Kara Ben Nemsi, waren für mich eine Person. Ein Abenteurer, der sich fair durch die Lande schlug, fremde Menschen und Kulturen, kennenlernte. Ich wusste nichts davon, dass der sogenannte Wilde Westen zu großen Teilen eine Geschichte menschlicher Verwerflichkeit war. Seien es die ausgebeuteten schwarzen Cowboys, die kaum erwähnt werden, obwohl sie die Mehrheit stellten, oder die amerikanischen Ureinwohner, die unfassbares Leid ertragen mussten. So wie ich mich erst heute frage, woher Karl May eigentlich all die Inspirationen für vermeintliche Folterungen ausgehend von den Ureinwohnern hatte. Ich vermute, er machte dabei Anleihen an das Geschehen im Dreißigjährigen Krieg.

Als die aktuelle Kritik aufkam, rollte ich erst einmal reflexartig die Augen. Habt ihr nichts Besseres zu tun?
Dann dachte ich nach. Ja, dieses idealisierte Menschenbild, welches Karl May da niederschrieb, ist aus heutiger Sicht ein wenig daneben. Ich erinnere mich zum Beispiel an die Stelle, wo alle anderen saufen bis der Arzt kommt und sich daneben benehmen und der gute Deutsche nur Bier trinkt, wofür er ein Lob seitens der Saloon-Betreiberin einheimst. Der Typ schien auch unüberwindbar zu sein. Er ist in den Büchern ein fantastischer Schütze, boxt, rennt schnell und ist widerstandsfähig. Der naive Junge brachte damals das pathologische Verständnis des Deutschen, die Krönung, mit einer simplen Heldendarstellung nicht übereinander. Weil ich schlicht nichts vom Nationalsozialismus, den Wurzeln und der Vorgeschichte wusste. Ebenso war mir Rassismus fremd. Beide, Winnetou und Old Shatterhand waren Helden. Selbst diesen ganzen christlichen Kram konnte ich nicht einordnen. In dieser Zeit las ich ebenfalls Ben Hur und fragte mich, wer denn diese drei Weisen aus den ersten Kapiteln wären. Dass da parallel das Leben Jesu geschildert wurde, kam bei mir erst später an.
Bezüglich Ureinwohner kapierte ich das erst, als ich Tecumseh las und Rassismus trat langsam mit Onkel Toms Hütte in mein Bewusstsein. Nicht ohne Grund spricht man von der Unbescholtenheit eines Kindes. Jemand versteht erst, was Dunkelheit bedeutet, wenn er weiß, was Helligkeit ist. Das Christentum war bei mir zu Hause kein Thema und Rassismus kam nicht zum Tragen, weil da war schlicht niemand. Ich lernte, sich wehren und hauen ist in Ordnung, solange es olympisch bei einem fairen Zweikampf bleibt. Schwache mussten geschützt werden und Respekt ist eine wichtige Sache. Dunkel erinnere ich mich an ein “Indianer-Spiel”, welches böse in die Hose ging, weil wir einen Jungen festbanden und ihn im Eifer vergaßen. Blöd war auch, dass mir meine Eltern Nachbildungen von Schusswaffen verbaten. Aber immerhin hatte ich zeitweilig ein Tipi im Zimmer zu stehen. Aber es blieb bei einem Gummi-Tomahawk, Plastik-Messer, Pfeil und Bogen. Bei letzteren übertrieb mein Vater etwas, das Ding war ganz schön heftig.

Ich kann die Zeit nicht zurückdrehen. Heute weiß ich, was mit den Ureinwohnern geschah. Das Christentum sehe ich äußerst kritisch und der US-amerikanische Rassismus, macht mich in Anbetracht der Tatsache, dass wir im 21. Jahrhundert leben, immer wieder fassungslos. Bei Deutschen ist dies ohnehin der Fall. Bisweilen glaube ich, dass da bei Teilen keinerlei Hoffnung besteht. Und mit all diesem Wissen, kann ich Karl May nicht mehr unvoreingenommen sehen. Aber wie jeden Autor, jede Autorin, Künstler, Maler, Schauspieler usw. muss ich ihn im Kontext der Zeit sehen. Er gehört zum abrufbaren Archiv, was in dieser Zeit los war und wie sich alles entwickelte. Doch nun kommt die Gretchenfrage: Müssen wir dies mit Neuauflagen im gleichen Stil fortsetzen? Ich denke nicht. Kinder haben heute genug andere Vorlagen. Warum nicht als Hobbit, Star Trek Figur, Ninja Turtle, Super-Mario oder Marvel Held, verkleiden? Über das alte “Indianer-Bild” kann man sprechen. Kinder verstehen so etwas durchaus.

Denn eins ist klar, sie verkleiden sich nicht als Ureinwohner, sondern als das Bild, was ihnen vermittelt wird, bzw. wir zeichnen.

Es ist unser Bild, welches sie spielerisch umsetzen und jetzt wieder in neuen Filmproduktionen erneut aufleben lassen. Sie verkleiden sich nicht als Dschingis Khan, Römer oder Hermann der Cherusker. Es hat Gründe, warum sie sich spezielle Figuren heraussuchen. Kinder sind unbestechliche Spiegel. Nicht immer ausschließlich der Eltern, aber ausnahmslos der Gesellschaft. Ich erinnere dabei an die Disney Figur Pocahontas. Da war ich bei meinen Töchtern auch nicht begeistert. Eine verschleppte Frau, zwangsweise christianisiert und in der Fremde an einer Krankheit gestorben, die die Europäer auf den amerikanischen Kontinent brachten, als US-Märchen nach Europa transportiert, hielt ich für mehr als bedenklich. Ums knallhart auszudrücken: Winnetou, als auch Pocahontas, sind neben anderen Aspekten, auch der Versuch mittels Erzählungen, absolute Sauereien schönzufärben, statt sich endlich den grundlegenden Gedankenfehlern der Europäer zu stellen. Irgendwie scheint bis heute aus den Köpfen nicht herauszubekommen sein, dass die europäischen Kulturen die Heilsbringer sind.

Natürlich sind wir nicht die einzigen mit Vorfahren, die ein aus heutiger Sicht verstörendes Gebaren an den Tag legten. Seien es nordafrikanische Sklavenhändler oder von der arabischen Halbinsel, oder Piraten aus der gleichen Ecke, die tausende europäische Seeleute versklavten. Auch in diesem Bereich wurde viel romantisiert, was nicht zu romantisieren ist. Doch wir leben 2022 und es ist immer zweckmäßig vor der eigenen Tür zu kehren. Vielleicht wäre es eine kluge Idee, seitens der Filmemacher mal weniger auf das Kommerzielle zu schauen und neue Helden, mit denen sich die Jugendlichen identifizieren können, zu implementieren. Machen wir uns nichts vor, Winnetou wieder aufzukochen, ist cineastisch mehr eine Verzweiflungstat und kann nur auf den Geldbeutel zielen. Oder möglicherweise sollte man überhaupt mal darüber nachdenken, ob es zweckmäßig ist, alle dunklen Aspekte der Geschichte nachträglich zu idealisieren. Vielleicht tritt dann mal so etwas wie ein Lerneffekt ein?

Auf jeden Fall bringen diese beinahe pubertären Reflexreaktionen, die angeblich erwachsene Politiker*innen aufgrund der durchaus vertretbaren Kritik an den Tag legen gar nichts. Na, etwas zeigen sie schon. Die intellektuellen Qualitäten und der Ausbildungsgrad der Persönlichkeit liegen auf dem Tisch. Wie ich in letzter Zeit bereits mehrfach schrieb, sind all diese Themen nicht derart dringlich, dass sie einer intensiveren Aufmerksamkeit unterliegen sollten. Eher dienen sie der Ablenkung. Dennoch sind die Reaktionen bemerkenswert und signifikant dafür, was in anderen Themenfeldern zu erwarten ist. Wieder einmal ist alles, was sich ihnen nicht sofort erschließt oder eine Reflexion erfordert, links, links-extrem, intellektuelle Verwirrtheit. Letztens schaute ich mir ein Interview mit Herbert Marcuse an. Darin wurde er u.a. gefragt, wie er die Diskriminierung der Juden, auch nach dem Dritten Reich erlebt. Sinngemäß antwortete er, dass er für Diskriminierung nicht unbedingt Jude sein muss, weil Intellektuelle grundsätzlich diskriminiert werden. Grund hierfür sei die Eigenart, dass sie, wenn sie wirklich Intellektuelle sind, den Herrschenden auf die Füße treten. Er verweist dabei auf Ernst Bloch, der meinte, ein Intellektueller ist ein Mensch, der sich weigert, den Herrschenden einen Kompromiss anzubieten. Laut Marcuse sei damit die kritische Haltung gegenüber der repressiven Gesellschaft gemeint, die nirgendwo gern sehen wird.

Nun mag man den Protest oder auch Kritik an einer Neuauflage der Fiktion von Karl May als den Versuch einer Repression durch gesellschaftliche Kräfte betrachten. In meinen Augen ist dies ein derzeit häufig vorkommender taktischer Zug. Diejenigen, welche tatsächlich nicht nur die Majorität stellen, sondern auch die von Macht getragene Deutungshoheit innehaben, unterstellen der kritischen Minorität eine nicht vorhandene Machtposition. Und die Taktik geht auf. Im Übrigen gehört sie zu den Grundwerkzeugen der Propaganda. Ich unterstelle dem anderen, was tatsächlich ich selbst unternehme. Vieles mag der Majorität überzogen vorkommen. Doch ohne lautes Getrommel, würden Homosexuelle heute noch verfolgt werden, vom deutschen Phänotyp (also dem Mix aus Slawen, Goten, Südeuropäern, Mitteleuropäern) abweichende Zeitgenossen als fremdartige Exoten wahrgenommen werden, obwohl sie spießige Schwaben, Bayern oder Nordlichter sind. Auch hier kommt stetig der Reflex: “Ich doch nicht!” Die will ich immer anbrüllen: “Ja, dann bist Du nicht gemeint! Zieh Dir die Jacke nicht an, aber mach die Augen auf und schau Dich mal in einigen ländlichen Gegenden um, oder beobachte mal ganz genau die Blicke einiger Leute.”


Eben diesen Abstand und Überblick erwarte ich von Leuten, die in die Politik gehen. Wenn es alle machen können, die sich von Emotionen, infantilen Persönlichkeitsanteilen leiten lassen und nicht in der Lage sind, sich zu reflektieren, sollten wir einfach wahllos jemanden von der Bushaltestelle nehmen. Ein Teil mag dem Versuch geschuldet sein, komplexe Sachverhalte und Prozesse zu simplifizieren, damit eine kritische Auseinandersetzung gar nicht erst möglich wird. Doch bisweilen überkommt mich der Verdacht, dass einige tatsächlich simpel und einfach strukturiert sind. Der Höhepunkt war einer von der FDP, der sich auf einem Bild mit dem Satz: Ich lass mir meinen Winnetou nicht nehmen, abbilden ließ. Bemerkenswert war mal wieder der Auftritt des stellvertretenden Vorsitzenden der DPolG Bundespolizei Manuel Ostermann, der nicht anders kann, jede Argumentation, die sich ihm nicht erschließt (und das ist eine Menge) als links zu deklarieren. Die DPolG produziert immer mehr einen ausufernden Schaden für das Ansehen der gesamten Polizei. Der junge Mann klinkt sich in jede Debatte ein und sieht überall linksradikale Kräfte am Werk. Diese Paranoia ist normalerweise kennzeichnend für Leute, die eine devote Unterordnung unter das Herrschende erwarten. Diese Position verließ die Polizei der alten Republik in den ausgehenden 70ern des 20. Jahrhunderts. In seiner Position ist er das Aushängeschild für junge Polizisten*innen, die sich am Ende, ob sie sich dagegen verwehren oder nicht, diesem Bild ausgesetzt sehen. Dass es da auch noch eine größere GdP (Gewerkschaft der Polizei) und einen BdK (Bund Deutscher Kriminalbeamter) gibt, die deutlich reflektierter und umsichtiger mit gesellschaftlichen Debatten umgehen, geht dabei unter. Zumal in unserer Zeit seitens der Medien, dem provokativ auftretenden Konservativen und Neuen Rechten der Vorzug gegeben wird (Soviel zum Thema Machtverhältnisse).


Nochmals zurück zu Karl May und den amerikanischen Ureinwohnern. Eigentlich ist es schade, dass wir nie von den echten lernten oder ihnen zuhörten. Im Buch “Touch the Earth” – A Self Portrait of Indian Existenz, Pocket Books New York, 1972, wird auf Seite 15 eine heilige Frau vom Stamm der Wintu zitiert: “Wie kann der Geist der Erde den weißen Mann mögen? Überall, wo der Weiße Mann sie berührt hat, ist sie wund.” (Original: How can the spirit of the earth like the white man? Everywhre the White man has touched, it is sore.)
Es wäre keine schlechte Idee, wenn einige Politiker*innen, Karl May, aus den Händen legten und stattdessen mit echten Ureinwohnern über Fracking, Erdölförderung und leckende Pipelines in ihren Reservaten sprächen. Zum von mir angegangenen Manuel Ostermann möchte ich anfügen, dass ich ihn in seiner Symbolik sehe. Was er menschlich veranstaltet, maße ich mir nicht an zu kritisieren. Unter Umständen war ich als junger Polizist ähnlich unterwegs. Ich halte dies sogar für wahrscheinlich. Aber ich steckte den Kopf nicht so weit aus dem Fenster. Die “Winnetou”- Debatte ist ein erneuter Aufhänger. Dankenswert erleben wir bei Teilen der jüngeren Generation eine längst überfällige progressive, provokante, kompromisslose und auch wehrhafte Bewegung. Hierzu wäre es wünschenswert, wenn die Polizei nicht ähnliche Fehler begeht, wie sie es schon einmal tat. Es ist eben nicht alles in das Korsett Recht, Gesetz und Ordnung zu pressen. In einer Gesellschaft geht es auch um Strukturen, Macht, Deutungshoheiten, die Kontrolle der Herrschenden und Verbesserung. Naturgemäß wird sie dabei von den faktisch Herrschenden eingebunden. Als Mensch, der diesen Beruf ausübt, muss man dabei eine Menge Fingerspitzengefühl entwickeln.


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Verfasst 24. August 2022 von Troelle in category "Gesellschaft", "Philosophie", "Politik u. Gesellschaft", "Polizei

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